Denn sie wissen nicht, was sie tun
Die Herausforderungen, die das deutsche Schulsystem begleiten, sind sehr vielfältig: Digitalisierung, Inklusion, Unterrichtsausfall... Die Liste lässt sich beliebig erweitern. Insbesondere seit dem Beginn des neuen Jahrtausends wurde, nicht zuletzt durch die tatkräftige Unterstützung von Wirtschaftsverbänden, die ökonomische Bildung zum Sorgenkind der Bildungslandschaft erkoren. Das erzeugt eine Krisenstimmung in der öffentlichen Wahrnehmung, die fest daran glaubt, dass es an deutschen Schulen zu wenig (richtige) ökonomische Bildung gibt.
Diese Diskussion leidet an mehreren Fehlurteilen:
Erstens, wer mehr von etwas verlangt, fordert damit letztlich auch weniger von etwas anderem. Dies wird in der Diskussion häufig verschwiegen. Warum ist das so? Nehmen wir mal als Beispiel eine Fußballmannschaft. Der Trainer darf nur 11 Spieler auf das Feld schicken. Wenn der Trainer nun Mitten im Spiel einen weiteren Stürmer aufstellen will, muss er einen anderen Spieler aus dem Mittelfeld oder der Verteidigung aus dem Spiel nehmen. Mehr als 11 Spieler geht eben nicht! So ist das in ähnlicher Weise auch in den Schulen. Die Stundentafeln bestimmen die maximale Anzahl an Unterrichtsstunden. Die Menge der zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden sind somit begrenzt. Im Schnitt sind es in Deutschland 32 Unterrichtsstunden pro Schulwoche. Da ökonomische Bildung in den Lernbereich Gesellschaftlichen Bildung fällt, bedeutet ein mehr an ökonomischen Themen i.d.R. weniger Unterrichtszeit für politische und gesellschaftliche Themen.
Der zweite Irrtum ist die Behauptung der mangelhaften ökonomischen Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler. Dabei gibt es so gut wie keinen Bildungsgegenstand in Deutschland, über den nicht ähnlich geklagt wird: Die Schülerinnen und Schüler können nicht rechnen, nicht schreiben, sind unsportlich usw. Um wirklich die genauen Wissenslücken der Schülerinnen und Schüler zu benennen, sind vor allem wissenschaftlich fundierte Untersuchungen nötig. Für Nordrhein-Westfalen verfügen wir über aktuelle Daten zum politischen Wissen der Jugendlichen und zu ihrer Bereitschaft, später politisch zu partizipieren und aktiv zu werden (zum Folgenden Abs/Hahn-Laudenberg 2017). Die Ergebnisse sind ernüchternd bis erschreckend. So rangiert das durchschnittliche Wissen der Schülerinnen und Schüler über Politik im Vergleich zu 14 anderen europäischen Ländern im unteren Drittel (S. 107). In Nordrhein- Westfalen hängt die politische Bildung der Lernenden sehr stark von den kulturellen Voraussetzungen im Elternhaus ab. Nur Bulgarien schneidet hier noch schlechter ab. Der Schule in NRW gelingt es nicht, die Ungleichheit der familiären Startbedingungen beim politischen Wissen auszugleichen (S. 108). Das bedeutet, dass es der nordrhein-westfälischen Bildungspolitik nicht gelingt, die politische Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger zu fördern, denn die hängt auch von ihrem politischen Wissen ab.
Die dritte Fehlauffassung ist die Behauptung, die maßgeblich von Wirtschaftsverbänden und den Wirtschaftswissenschaften aufgestellt wird, die Schulen würden zu wenig wirtschaftliche Inhalte anbieten. Obwohl es für diese Behauptung keine empirischen Belege gab, konnte nicht verhindert werden, dass diese Behauptung im Laufe der Zeit quasi zu einer (gefühlten) Gewissheit in der Öffentlichkeit wurde. Bundesländer änderten daraufhin ihre Bildungspläne und Stundentafeln und gaben der ökonomischen Bildung (teilweise sogar als Separatfach) mehr Unterrichtszeit. Andere Bundesländer zogen nach bzw. sind aktuell wie in NRW dabei.
Erstaunlich ist jedoch, dass es bisher keinen wissenschaftlichen Beleg für einen Mangel an ökonomischen Inhalten an deutschen Schulen gab. Um es auf den Punkt zu bringen: wir wussten nicht, wie oft wirtschaftliche Themen und Inhalte an deutschen Schulen unterrichtet wurden. Den Mangel des Nichtwissens versuchen wir in unserem mehrjährigem Forschungsprojekt „SoWiDaS“ der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld zu beheben. Wir erheben und analysieren seit 2016 Daten zur Struktur der sozialwissenschaftlichen Domäne –also der Schulfächergruppe für die großen Themenbereiche Gesellschaft, Politik, Wirtschaft. In unserer aktuellen Studie „Wirtschaft gut – Politik mangelhaft. Ökonomische und politische Bildung in der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen“ untersuchen wir, wie viele Stunden dafür vorgesehen sind, dass sich Schülerinnen und Schüler sich mit ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Themen beschäftigen. Für die verbreitete Vorstellung, dass ökonomische Bildung an Schulen zu kurz kommt, fanden wir keine Belege. In der Sekundarstufe I entfällt pro Schulwoche bis zu dreimal so viel Lernzeit auf die ökonomische Bildung wie auf die politische Bildung: 17 bis 20 Minuten für Politik, 41 bis 63 Minuten für Wirtschaft.
Betrachtet man unsere Forschungsergebnisse, gibt es also keinen einzigen Grund, die ökomischen Anteile im Unterricht noch weiter auszubauen. Viel eher sollten wir uns um die politische und gesellschaftliche Bildung unserer Kinder Sorgen machen. Wenn in der Schule etwas vernachlässigt wird, ist es zweifelsohne genau dies.
Die empirische Analyse belegt, dass in der nordrhein-westfälischen Sekundarstufe I des Jahres 2018 Wirtschaftsthemen und ökonomische Bildung einen sehr hohen Stellenwert haben, die Themen Politik und Gesellschaft fallen weit zurück. Damit sendet die Bildungspolitik ein klares politisches Signal an Lernende, Lehrkräfte und Öffentlichkeit: Wirtschaft hat Vorrang, Politik und Gesellschaft sind in der Schule nicht so wichtig. Ob dieses bildungspolitische Programm die Weichen für die Zukunft der Jugendlichen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft richtig stellt, ist eine gründliche bildungs- und gesellschaftspolitische Debatte wert. Ernsthafte Zweifel sind angebracht.
Hoffnung auf Besserung ist in NRW erst mal nicht in Sicht. Die schwarz-gelbe Landesregierung möchte bis zum Schuljahr 2020/2021 ein Schulfach Wirtschaft installieren und dadurch vor allem auf Kosten der politischen und gesellschaftlichen Bildung die ökonomische Bildung noch weiter ausbauen. Es ist bildungspolitisch unprofessionell und empirisch unbegründete, wenn die Landesregierung dies umsetzt, weil sie nicht genau wissen was sie tun (sieht man einmal von der Bedienung der Herzenswünsche ihrer Wirtschaftsklientel ab). Unverantwortlich ist es vor allem dann, wenn die parteipolitischen Interessen auf Kosten der demokratischen Bildung der jungen Bürgerinnen und Bürger und damit auf Kosten unserer Demokratie durchgesetzt werden.
Literatur:
- Abs, Hermann Josef/Hahn-Laudenberg, Katrin (Hr.) 2017. Das politische Mindset von 14-Jährigen. Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study 2016. Münster: Waxmann.
- Gökbudak Mahir/Hedtke, Reinhold (2018): Wirtschaft gut – Politik mangelhaft. Ökonomische und politische Bildung in der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Social Science Education Working Papers. https://pub.uni-bielefeld.de/publication/2932554
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