Berufsorientierung: Die Schüler sind doof, die Lehrer können es nicht, es bedarf noch mehr ...
Empirische Untersuchungen zur Überprüfung der Wirkungseffekte von Berufsorientierung an Schulen kommen zu ernüchternden Befunden (Bergzog 2008, S. 8; Feldhoff u.a. 1985). Der Beitrag der Schule zur beruflichen Orientierung wird von den Schülerinnen und Schülern als gering eingestuft. Der Einfluss der Familie und der Peer-Group ist deutlich höher. Unverdrossen wird von Unternehmerverbänden und unternehmensnahen Stiftungen dennoch die Forderung gestellt, Berufsorientierung an Schulen noch weiter auszubauen. Nachdem umfassend über den Chancenreichtum und den besonderen Aufstiegswillen von Migrant*innen berichten wird, kommt man in der aktuellen McDonalds-Ausbildungsstudie 2015 dennoch zu folgender Conclusio: „Deshalb ist es dringlich, die Berufsorientierung in allen Stufen des Schulsystems von der Grundschule an auszubauen und weiterzuentwickeln und alles zu versuchen, um die Arbeitswelt und die Bildungswelt wieder stärker zu verzahnen“ (S. 82). Die empirischen Befunde führen nicht zu einem Moment der Reflexion, sondern werden mit dem klassischen bildungspolitischen Skandalisierungsdreischritt der Unternehmerverbände und unternehmensnahen Stiftungen „Die Schüler sind doof, die Lehrer können es nicht, es bedarf noch mehr – Berufsorientierung (Schülerfirmen, Beratung von Unternehmen etc.)“ weggedeutet.
Weiterer Ausbau von Berufsorientierung an Schulen gefordert
Auf diese Weise müssen Schülerinnen und Schüler immer mehr von einem Unterricht erleben, dessen Bildungswirksamkeit empirisch zumindest kritisch betrachtet werden muss. Kein Unterrichtsinhalt wurde in den letzten 10 Jahren so massiv ausgebaut wie die Berufsorientierung: Berufsmessen, Berufspraktika, Girls- und Boys-Days, Betriebserkundung, Beratung durch das Arbeitsamt, Schülerfirmen und das Bundesland Baden-Württemberg führt sogar zum 1. August 2016 ein Unterrichtsfach „Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung“ ein. Ein Erfolg der Unternehmerlobby. Auch die Schülerinnen und Schüler, deren Berufswunsch fest steht, die einen Ausbildungsvertrag abgeschlossen haben und die kein Bedürfnis nach weiterer Berufsorientierung haben, werden nicht befreit. Ihre Lern- und Lebenszeit wird vergeudet. Berufsorientierung an Schulen hat durchaus eine Berechtigung:
- Die moderne Gesellschaft eröffnet dem Individuum die Chance und stellt es zugleich vor die Herausforderung, seine Biografie in Teilen selbst zu gestalten – das gilt auch für die Berufswahl. Diese Option gilt jedoch mehr für Bildungsprivilegierte und weniger für Haupt- und Förderschüler.
- Die Erwartungshaltung an den Beruf hat sich verändert. Berufsarbeit soll verstärkt auch der „Selbstverwirklichung“ dienen und Freude machen. In einer Vodafone-Studie gaben 87% der befragten Jugendlichen an, dass ihnen für die Zukunft besonders wichtig sei, einen Beruf zu haben, der ihnen Spaß mache (Vodafone-Stiftung 2014, S. 32). Die hohen Erwartungen an den zukünftigen Beruf erschweren die Berufswahl, weil die Entscheidung optimiert werden soll.
- Schule kompensiert auch im Bereich der Berufsorientierung qualitative Funktionseinbußen der Familie, die diese Aufgabe an die Schule oder andere Institutionen delegiert, auch weil Berufsorientierung für die moderne, sich schneller wandelnde Arbeitswelt voraussetzungsvoll ist.
- Lernende versuchen, zukünftige Entwicklungen in der Arbeitswelt zu antizipieren und brauchen hierzu zum Beispiel arbeits-, industrie- und organisationssoziologisches Orientierungswissen.
Trotz desolater Befunde keine konzeptionelle Weiterentwicklung
Dennoch bleibt die Problematik, dass sich trotz der desolaten empirischen Befunde zur Wirksamkeit der schulischen Berufsorientierung in den letzten 20 Jahren die Fachinhalte und die Lehr-Lernmethoden kaum verändert haben. In den hunderten Lehr-Lernmaterialien zur Berufsorientierung, die von Banken (Sparkasse), öffentlichen Einrichtungen (Arbeitsagentur), unternehmernahen Initiativen (SchuleWirtschaft), Gewerkschaften und Schulbuchverlagen herausgegeben werden, finden sich immer die gleichen Inhalte: Persönlichkeits- und Kompetenztests mit zweifelhaftem diagnostischen Wert, Listen mit den Erwartungen der Arbeitgeber an Bewerber*innen, ein Schaubild zur geschlechtsspezifischen Berufswahl und eine Berufshitliste, deskriptiv beschreibendes Material zum historischen Wandel der Arbeitswelt, Darstellungen zu 2-3 klassischen Berufsbildern, Empfehlungen zum Verfassen eines Bewerbungsschreibens sowie ein Rollenspiel zur Simulation von Bewerbungsgesprächen. Innovation findet nicht statt.
Berufsorientierung als Steuerungsinstrument
Eine Auseinandersetzung mit Fragen der Humanisierung der Arbeitswelt spielt keine Rolle. Ebensowenig ist eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, wieso es Berufsorientierung an Schulen gibt und welche gesellschaftlichen Interessen dahinter stehen, vorgesehen. Berufsorientierung ist ein arbeitsmarktpolitisches Steuerungsinstrument. Vor allem die Berufsberatung der Agentur für Arbeit stand und steht in der Kritik, weil empirische Untersuchungen immer wieder nachweisen, dass ungeachtet der individuellen Interessen und Fähigkeiten der Ratsuchenden, insbesondere Lernende mit geringem formalen Bildungsabschluss und niedrigem sozioökonomischen Status in unattraktive Berufe und Branchen hineinberaten werden, in denen ein Bewerbermangel besteht bzw. man verwehrt ihnen den weiterführenden Schulbesuch (Bognanni 2010). Aktuell ist das vor allem der Bereich der Gesundheits- und Pflegeberufe. Berufsorientierung und -beratung ist abhängig von Konjunkturzyklen auf dem Ausbildungsstellenmarkt. Während der gute Realschüler/die gute Realschülerin in Zeiten eines knappen Angebots an Ausbildungsstellen an das Gymnasium oder die Fachoberschule des Berufskollegs delegiert werden, steuert man ihn/sie bei Bewerbermangel in das duale Ausbildungssystem. Die medial fein orchestrierte Debatte über den Mangel von Facharbeitern/Facharbeiterinnen läutet die Wende in der gegenwärtigen Berufsberatung ein (Öschner 2013, von Borstel 2014). Berufsorientierung ist eine zentrale Maßnahme bei der Sozialisation und Integration in die Arbeitswelt. Vor allem Lernende mit einem geringen formalen Bildungsabschluss sollen durch Berufsberatung mit einer „realistischeren Perspektive“ ihrer Arbeitsmarkt- und Lebenschancen konfrontiert werden. Sie werden „auf den Teppich der Tatsachen geholt“, wie es eine Beraterin der Agentur für Arbeit in einem Interview zum Ausdruck bringt. Lebensträume enden so für viele Hauptschüler*innen früh, noch bevor sie oder andere ihre Potentiale entdeckt haben (Kölzer 2014). Berufsorientierung dient der Gesellschaft auch zur sozialen Befriedigung, zu Lasten der sozial Benachteiligten. Weil in den meisten Unterrichtsmaterialien die Problematik der sozial ungleichen Zugangschancen auf den Arbeitsmarkt nicht thematisiert wird, empfinden die Lernenden ihr Scheitern als individuelles Versagen. Die Schuld der Nichtintegration auf dem Arbeitsmarkt wird beim Schüler/bei der Schülerin gesucht und nicht auf Strukturen sozialer Ungleichheit und Prozesse institutioneller Diskriminierung zurückgeführt. Schülerinnen und Schüler mit einem Migrationshintergrund, einer Hausanschrift in einem „problematischen“ Stadtteil, junge Frauen etc. haben im Vergleich zu anderen Jugendlichen bei identischen Noten schlechtere Chancen auf einen Ausbildungsvertrag (Solga/Menze 2013, S. 7). Auch für die Unternehmensverbände und konservativen Stiftungen ist Berufsorientierung ein lobbypolitisches Steuerungsinstrument. Mit berufsorientierenden Maßnahmen können sie nicht nur zukünftige Beschäftigte umwerben, sondern zudem ihre Vorstellungen vom „guten“ Arbeitnehmer/Arbeitnehmerin in die Schulen tragen. Ein Schelm, der Böses dabei denkt, dass Arbeitnehmerrechte, die Bedeutung von Gewerkschaften, Fragen nach einer Humanisierung der Arbeitswelt in den Lehrplänen und Schulbüchern kaum noch thematisiert werden.
Literaturauswahl
Bergzog, Thomas (2008): Beruf fängt in der Schule an. Die Bedeutung von Schülerbetriebspraktika im Rahmen des Berufsorientierungsprozesses. Schriftenreihe des Bundesinstituts für berufliche Bildung, Bonn.
Bognanni, Massimo (2010): Job-Center in der Kritik: Hartz-IV- Schüler fühlen sich zur Ausbildung gedängt. In: http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/jobcenter-in-der-kritik-hartz-iv-schueler-fuehlen-sich-zu-ausbildung-gedraengt-a-707608.html.
Borstel, Stefan von (2014): Deutschland gehen die Meister und Facharbeiter aus. In: http://www.welt.de/wirtschaft/article133068300/Deutschland-gehen-die-Meister-und-Facharbeiter-aus.html.
Feldhoff, Jürgen/Otto, Karl A./Simoleit, Jürgen/Sobott, Claus (1985): Projekt Betriebspraktikum. Berufsorientierung im Zusammenhang von Rationalisierung und Humanisierung der Arbeit. Bielefeld.
Kölzer, Carolin (2014): „Hauptsache ein Job später“. Arbeitsweltliche Vorstellungen und Bewältigungsstrategien von Jugendlichen mit Hauptschulhintergrund. Bielefeld.
McDonalds Ausbildungsstudie (2015): In: http://ausbildungsstudie2015.de/.
Öschner, Thomas (2013): Facharbeiter verzweifelt gesucht. In: http://www.sueddeutsche.de/karriere/studie-zum-fachkraeftemangel-facharbeiter-verzweifelt-gesucht-1.1666790.
Solga, Heike/Menze, Laura (2013): Der Zugang zur Ausbildung: Wie integrationsfähig ist das deutsche Berufsbildungssystem? In: http://www.boeckler.de/wsimit_2013_01_solga.pdf.
Solga, Heike/Dombrowski, Rosine (2009): Soziale Ungleichheit in schulischer und außerschulischer Bildung. Stand der Forschung und Forschungsbedarf. In: Arbeitspapier 171 der Hans -Böckler -Stiftung: http://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_171.pdf.
Vodafone-Stiftung Deutschland (2014): Schule – und was dann? Herausforderungen bei der Berufsorientierung von Schülern in Deutschland. In: https://www.vodafone-stiftung.de/uploads/tx.../VSD-ALLENSBACH-2014-WEB.pdf.