Die AfD, alternative Fakten und exzessive Forderungen nach ökonomischer Bildung
Sie glauben, es gibt zu wenig Wirtschaft in der Schule? Kein Wunder. Seit über zwei Jahrzehnten hämmert dies die Kampagne für ökonomische Bildung der Öffentlichkeit ein. Statistisch belastbare Belege für diese Behauptung fehlen. Ein objektivierbarer Maßstab existiert nicht. Man scheut den Vergleich. Niemand weiß, ob das Wissen über Wirtschaft wirklich schlechter ist als das über Recht, Politik oder Gesellschaft.
Aber die Gebetsmühle wirkt. Medien, Wirtschaftsverbände und Lobbygruppen der Wirtschaft, Unternehmensstiftungen und konservative politische Stiftungen trommeln die Botschaft wieder und wieder. Schließlich glauben viele daran. Sie halten ihren Glauben für Wissen.
Nun hat auch die AfD die vorgeblichen Mängel der ökonomischen Bildung entdeckt. Ihre Fraktion im Sächsischen Landtag stellte einen Antrag mit dem vielsagenden Titel „Ökonomie statt Ideologie: Die Vermittlung eines soliden Wirtschaftswissens in der Schule fördert die Verantwortung junger Menschen für ihre Zukunft“ (Drucksache 7/7869). Sie fordert darin mehr Lernzeit für Wirtschaft und ein separates Fach sowie eine Kürzung der Stunden für politische Bildung. Wenig überraschend für diese Partei.
Die AfD bemängelt Sachsens „vorletzten“ Platz in Sachen ökonomische Bildung in Deutschland. Sie bezieht sich auf die OeBiX-Studie aus dem Jahr 2021. Produziert wurde sie vom Oldenburger Institut für ökonomische Bildung im Auftrag der Flossbach von Storch Stiftung.
Die Studie stützt sich auf eine bildungspolitische Empfehlung. Sie stammt von einer Arbeitsgruppe aus dem Jahr 2003. Mitglieder waren Wissenschaftsminister- und Kultusministerkonferenz, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Bundesverband der Deutschen Industrie, Deutscher Industrie- und Handelskammertag, Zentralverband des Deutschen Handwerks und Deutscher Gewerkschaftsbund (Arbeitsgruppe 2003).
Politik und Verbände einigten sich damals für die ökonomische Bildung in der Sekundarstufe I auf das „verbindliche Zeitbudget“ von 200 Stunden (Arbeitsgruppe 2003: 2). Das läuft umgerechnet auf 4,9 Kontingentstunden in der Stundentafel hinaus. Einschließlich Betriebspraktikum.
Statistische Handarbeit
In der OeBiX-Studie werden daraus 8 Kontingentstunden. Wachstumswunder? Mitnichten, nur ein bisschen statistische Handarbeit mit sieben Griffen.
Erster Griff: Setze die Schulwochen zu niedrig an. Tatsächlich hatte das Schuljahr 2021/22 durchschnittlich 40,75 Schulwochen, die OeBiX-Studie rechnet mit 38. So erhöht man die real 4,9 Kontingentstunden auf 5,3.
Zweiter Griff: Runde dein Ergebnis großzügig auf, so kommst du auf 6 Kontingentstunden. Erfreuliches Zwischenergebnis: du kannst eine Kontingentstunde mehr fordern als deine Quelle hergibt. Das erscheint dir aber noch zu wenig.
Also dritter Griff: Füge deiner Forderung noch 2 Kontingentstunden für Wahlpflichtfächer hinzu. Für die politische Bildung gibt es das fast nirgendwo. Was soll‘s.
Vierter Griff: Treibe ein bisschen Sprachtuning. Definiere das „verbindliche Zeitbudget“ aus deiner Quelle in eine „Mindestforderung“ um (Loerwald u. a. 2021: 18). So schraubst du deine bildungspolitischen Forderungen weiter nach oben.
Fünfter Griff: Etwas Bilanzkosmetik auf der Habenseite kann auch nicht schaden. Werte die real existierende Lernzeit für ökonomische Bildung kräftig ab und ignoriere die Stunden für das obligatorische Betriebspraktikum. Damit kannst du im Durchschnitt 1,6 Kontingentstunden unterschlagen. Prima, das wirft ein schlechtes Licht auf die ökonomische Bildung. So werden deine Forderungen glaubwürdiger.
Sechster Griff: Ziehe Bilanz deiner Zahlenkunst. Du hast das „Zeitbudget“ um 3,1 Kontingentstunden erhöht und die reale Bildungszeit um 1,6 Kontingentstunden reduziert. Damit kannst du zufrieden sein. Zwischen deiner Mindestforderung und deiner Wirklichkeit klafft nun eine Lücke von 4,7 Stunden. Das hört sich schlecht genug an.
Maßstab der Maßlosigkeit
Siebter Griff: Lass dich durch die Realität nicht verwirren. Ignoriere die Lage der übrigen sozialwissenschaftlichen Fächer. Denn Schulfächer wie Gemeinschaftskunde, Sozialkunde oder Politik/Wirtschaft verfügen im Bundesdurchschnitt über 4,5 Kontingentstunden (Berechnung nach Gökbudak u. a. 2021: 45-60). Das liegt weit unter deinem Minimum von 8 Stunden für ökonomische Bildung. Was soll’s, du hast dein Ziel erreicht. –
Die sozialwissenschaftlichen Lehrpläne enthalten meist mehrere Domänen, zum Beispiel Politik, Gesellschaft und Recht. In einem solchen Fach mit drei Domänen stehen jeder Domäne rechnerisch im Durchschnitt 1,5 Kontingentstunden zur Verfügung. Die OeBiX-Studie verlangt das Vierfache davon allein für die Domäne Wirtschaft – als Untergrenze.
Dieser Maßstab privilegiert die ökonomische Bildung auf extreme Weise. Und er ist realitätsfremd. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Recht sind gleichermaßen bildungsrelevant. Also sollte man sie im Großen und Ganzen gleich behandeln.
Dann müsste man auch für Politik, Gesellschaft und Recht jeweils 6 Pflichtstunden plus 2 Stunden Wahlpflicht fordern. Die Fächer der sozialwissenschaftlichen Domäne belegen dann zusammen 24 Stunden in der Stundentafel. Im Durchschnitt der Sekundarstufe I wäre das mehr als ein Siebtel der insgesamt verfügbaren Kontingentstunden. Das lässt sich nicht seriös begründen.
Das Phantom Betriebspraktikum
Dass man das Betriebspraktikum statistisch unter den Teppich kehrt, ist kein Zufall. So lässt sich lauter klagen.
Nehmen wir das Beispiel Sachsen. Das Betriebspraktikum dauert dort zwei Wochen. Wie in den meisten Bundesländern ist es obligatorisch. Rechnet man seine Dauer in Unterrichtsstunden um, umfasst es 100 Unterrichtsstunden. Wenn man eine minimale Vor- und Nachbereitungszeit von insgesamt 7 Schulstunden unterstellt.
Das Betriebspraktikum entspricht 2,5 Kontingentstunden – oder 55 Prozent der Lernzeit, die ein sozialwissenschaftliches Fach im Durchschnitt hat. Ziemlich viel. Vor allem, weil man weiß, dass in den Schulen noch viel zusätzliche Zeit für die Berufsorientierung verwendet wird.
Für die Bildungspolitik und die Wirtschaftsverbände ist die Sache klar: das Betriebspraktikum gehört zur sozio/ökonomischen Bildung. Die Empfehlungen der oben genannten Arbeitsgruppe schließen das Betriebspraktikum für Schülerinnen und Schüler explizit ein. Sie zählen es zu den Praxiselementen der ökonomischen Bildung, denen „eine fachspezifisch herausgehobene Bedeutung“ zukommt (Arbeitsgruppe 2003: 7).
Auch die Allianz für Aus- und Weiterbildung, ein Zusammenschluss von Bundesländern, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, definiert das Betriebspraktikum als „Teil der sozioökonomischen Bildung“ (2017: 4).
Schließlich beansprucht auch die herkömmliche Wirtschaftsdidaktik das Betriebspraktikum als Kernelement der ökonomischen Bildung. Sie reklamiert es für ihren Zuständigkeitsbereich. Aber man möchte es sich nicht anrechnen lassen. Denn das würde die Zeitbilanz der ökonomischen Bildung deutlich verbessern. Das ist bildungspolitisch höchst unerwünscht.
Literatur
Allianz für Aus- und Weiterbildung (2017): Die Qualität im Blick: Das Betriebspraktikum von Schülerinnen und Schülern weiterentwickeln. Empfehlungen der Partner der Allianz für Aus- und Weiterbildung. O.O. (Berlin). Online verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Bildung/AllgBildung/schuelerbetriebspraktika-01.pdf , zuletzt geprüft 14.02.2022.
Arbeitsgruppe 2003 = Gemeinsame Arbeitsgruppe der WMK, KMK, der BDA, des BDI, DIHK, ZDH und DGB (2003): Eckpunkte. Empfehlungen für ein Kerncurriculum Wirtschaft einschließlich Qualitätskriterien für die Lehreraus- und Fortbildung sowie Betriebspraktika von Lehrern und Schülern. Bremen. Online verfügbar unter : https://sowi-online.de/sites/default/files/documents/reader/wmk-kmk-bda-bdi-dihk-zdh-dgb_kerncurriculum-wirtschaft-2003_0.pdf , zuletzt geprüft 14.02.2022.
Gökbudak, Mahir; Hedtke, Reinhold; Hagedorn, Udo (2021): 4. Ranking Politische Bildung. Politische Bildung in der Sekundarstufe I und in der Berufsschule im Bundesländervergleich 2020. Bielefeld. Online verfügbar unter: https://pub.uni-bielefeld.de/download/2955456/2955502/Ranking_Politische_Bildung_2020.pdf, zuletzt geprüft 14.02.2022.
Loerwald, Dirk; Friebel-Piechotta, Stephan; Bode, Dennis (2021): Die OeBiX-Studie. Zum Stand der Ökonomischen Bildung in Deutschland. Abschlussbericht. Köln: Flossbach von Storch Stiftung. Online verfügbar unter: https://www.flossbachvonstorch-stiftung.de/fileadmin/user_upload/Stiftung/studie/OeBiX-Studie_Abschlussbericht.pdf, zuletzt geprüft 14.02.2022.