„Be a part of Europe!” Von der Inkompatibilität einer Identitätsstiftung und der Zielsetzungen politischer Bildung
In der europäischen Bildungspraxis, in Zusammenhang mit dem politischen Lernen, wird intensiv auch die Bildung der europäischen Bürgerinnen und Bürger betrieben – eine Zielsetzung, die für ein supranationales Gebilde, welches sich immer wieder in Legitimationszwang seinen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber befindet, wenig überraschend ist. Die Zielsetzungen sind relativ klar: jungen Menschen Europa als politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles Gebilde zu erklären, ihnen ihre Rechte und Pflichten als Bürgerinnen und Bürger Europas nahe zu bringen – und, ebenfalls wenig überraschend und zugleich normativ – jungen Menschen die Alternativlosigkeit Europas zu zeigen, die Vorzüge und Vorteile Europas – für den Frieden, für die Wirtschaft, aber auch für konkrete Lebenschancen jedes einzelnen Lernenden, um dadurch ein Commitment zu Europa zu entwickeln.
Diese Zielsetzung geht viel weiter als politische Bildung im reinen Sinne: es geht nicht um das Verständnis des supranationalen politischen Systems und Handlungsmöglichkeiten als partizipierende Bürgerinnen und Bürger und um die Entwicklung der Urteils- und Handlungskompetenzen. Es geht um die Entwicklung einer Identität, einer Bindung zu Europa, einer Selbstwahrnehmung als Europäerinnen und Europäer – diese darf nicht, so das Bildungskonzept für Europa, jedoch mit den anderen Identitäten, seien es die nationalstaatlichen, die regionalen, lokalen, kulturellen, religiösen, in Konflikt geraten. Die doppelte Herausforderung, um nicht zu sagen ein doppeltes Problem dieser Zielsetzung besteht zum einen in der Suggestion einer konfliktlosen Ko-existenz diverser Identitäten in einer lernenden Bürgerin/ einem lernenden Bürger und im Transportieren eines normativen Bildes mittels politischer Bildung. Die Bürgerin/ der Bürger sollen im Grunde Europa schätzen lernen und froh sein, Europäerinnen und Europäer sein zu dürfen, und aus dieser Einstellung heraus ihre – auch politischen – Handlungen entwickeln.
Die „Herausforderung“ des normativen Europalernens
Die Fragen und Herausforderungen, denen sich die politik- und sozialwissenschaftliche Didaktik kontinuierlich stellen muss, erscheinen aufgrund dieser normativen Ausrichtung des Europalernens in einem neuen Lichte, vor allem die Fragen:
wie können innerhalb eines gesellschaftlichen und politischen Systems, eines Staates, einer verpflichtenden Bildung kritische Einstellungen der Lernenden gefördert werden;
was bedeutet die Entwicklung kritischer Reflexion und eines selbstständigen Denkens für die Lehrenden und die Lernenden, sowie für die Organisation der Bildungssettings;
wie kann einer Indoktrination effektiv und systematisch vorgebeugt werden und wie können die beteiligten Disziplinen das Gewährleisten dieser Aufgaben garantieren;
(um ganz zu schweigen von der Frage, ob man im Rahmen eines nationalstaatlichen Bildungsplans zur europäischer Bürgerschaft erziehen kann).
Zwei kurze Beispiele können verdeutlichen, wie diese Herausforderungen im Rahmen des Europa-Lernens aussehen mögen:
a) Europäische Demokratie wird unhinterfragt als Garant der Menschenrechte positioniert; Demokratie wird per se mit Menschenrechten gleichgesetzt und in einem Atemzug erwähnt. Die Exklusivität der europäischen Bürgerschaft und der Rechte, die Bürgerinnen und Bürger Europas im Vergleich zu denjenigen Menschen genießen, die erfolglos die Mauer der europäischen Festung zu passieren versuchen, wird nicht thematisiert, ebenfalls wenig werden die Verletzungen der Basismenschenrechte durch die europäischen Behörden thematisiert, welche mit der Begründung der Aufrechterhaltung europäischer Ordnung und der Exklusivität des europäischen BürgerInstatus stattfinden. Als Ergebnis wird den lernenden Bürgerinnen und Bürgern ein Idealbild der Demokratie als happiness for all präsentiert. Das Scheitern, die Unmöglichkeit, alle eigenen Interessen durchzusetzen, und vor allem auch das eigene, auch politische, wirtschaftliche und soziale Privilegiert-sein als EuropäerInnen werden sie in ihren Lernkontexten nicht erfahren.
b) Europäische Diversität, die als Grundlage der europäischen Identität zelebriert wird, wird von den Fragen der Ungleichheiten getrennt behandelt, weil sonst die sozialen Schließungen, die mit den Prozessen der europäischen Integration verbunden sind, thematisiert werden würden; dies passt ebenfalls nicht zu der Vision Europas als einer win-win Situation für alle Beteiligten. Hier wird den Lernenden ebenfalls ein positives Bild Europas präsentiert, europäische Mobilität und Integration als ein Gewinn für alle EuropäerInnen, die sozialen Schließungen als Ergebnisse anderer Prozesse. Hier fragt sich unter anderem, was mit den Lernenden ist, die soziale Schließungen erfahren, welche mittelbar oder unmittelbar mit den Prozessen der europäischen Integration zusammenhängen?
Denkt man diese beiden Beispiele weiter, wird ebenfalls klar, dass die Kombination der sozialwissenschaftlichen Fächer, die zur kritischen Reflexion beitragen (kann und soll) bei solch einer normativen Fokussierung an Kritikkraft verliert, und ebenfalls dazu instrumentalisiert wird, die Vorzüge Europas in unterschiedlichen Dimensionen (politisch, sozial, wirtschaftlich) zu demonstrieren.
Lernende Europäerinnen und Europäer ernst nehmen
Diese Phänomene (das normative Lernen über oder eben für Europa) finden sich in den sozialwissenschaftlichen Curricula, Lehrmaterialien und Projekten in ganz Europa wieder. Auch wenn es in Deutschland, zumindest auf der Oberfläche, so aussieht, dass immerhin die Ausprägungsformen europäischer Demokratie teilweise kritisch (als überbürokratisiert) betrachtet werden, hat die Darstellung der Alternativlosigkeit Europas ihren festen Platz in den Bildungskontexten und Lehrmaterialien. Viele relevante Akteure (wie z.B. BMBF und der DAAD mit dem Programm „Europa macht Schule“) tragen dazu bei, dass Commitment zu Europa und die Entwicklung der europäischen Identität zum Schulprogramm und/oder Schulrealität werden, auch in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern. Die Rolle einer nicht-normativen, nicht indoktrinierenden sozial- wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Didaktik läge darin, den Lernenden die relevanten Zusammenhänge, Insitutionen und Akteure mit ihren jeweiligen Interessen und Zielsetzungen in Europa zu präsentieren und zu zeigen, dass nicht alle diese Zielsetzungen primär auf die Inklusion und Gleichheit aller europäischen Bürgerinnen und Bürger fokussiert sind. Ferner wäre es wichtig, den Lernenden die Exklusivität Europas und europäischer Bürgerschaft zu demonstrieren, und die Ambivalenz – auch wenn alternativloser und nicht umkehrbarer europäischer Integrationsprozesse – aufzuzeigen. Eine nicht-indoktrinierende, zum kritischen Denken verleitende Didaktik soll die Lernenden ernst nehmen und sie als europäische Bürgerinnen und Bürger sehen, die möglichst früh mit sozialen Schließungen und democratic dissatisfactions (Sack 2012) in Europa konfrontiert werden dürfen. Sie können dieses Wissen nicht nur verkraften, sie brauchen es, um politisch handelnde Europäerinnen und Europäer sein zu können. Das Zulassen der Kritik darf nicht mit Europafeindlichkeit gleichgesetzt werden; vielmehr ist das Zulassen der Kritik notwendig, um die mitwirkenden Europäerinnen und Europäer zu erziehen.
Literaturhinweis:
Sack, D. (2012) Dealing with Dissatisfaction: Role, Skills and Meta- Competencies of Participatory Citizenship Education. In: Hedtke, R./ Zimenkova, T. (Eds.) Education for Civic and Political Participation: A Critical Approach”. Routledge, SS. 13-36