Die Beschäftigung mit dem Wandel der Qualifikationsanforderungen und den möglichen Konsequenzen für Bildung und Bildungspolitik scheint einem Dilemma unterworfen, das sich in besonderer Weise an der Diskussion um das Gutachten von Lehner/Widmaier zeigt. Obwohl seit einigen Jahren gerade auch aus den Reihen der IndustriesoziologInnen Vorstöße zu einer Neubewertung im Verhältnis von Arbeit und Bildung unternommen wurden, kam eine größere Debatte erst in Gang, als besagtes Gutachten in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Die veränderten Qualifikationsanforderungen werden allem Anschein nach erst dann in breiteren bildungspolitischen Diskussionen wirksam, wenn sie mit der Behauptung eines scharfen Entwicklungsbruches, einer eindeutigen ökonomischen Logik und der Androhung einer weitgehenden Reorganisation im Bildungssystem verknüpft werden. Weniger apodiktische und deterministische Sichtweisen werden demgegenüber eher selten aufgegriffen, obwohl sie in der Regel weit höhere Gestaltungsmöglichkeiten für die Akteure im Bildungssystem selbst beinhalten und das Risiko einer Funktionalisierung von Bildung hier entsprechend geringer anzusetzen ist. Obwohl zu erwarten ist, dass die folgenden Ausführungen entgegen der Intention PädagogInnen und BildungspolitikerInnen von Handlungsdruck entlasten, werde ich die fehlende Eindeutigkeit zukünftiger Qualifikationsanforderungen herausstellen. Die Konsequenz besteht aber weder in einer Schule nach dem Prinzip "anything goes" noch in einer Fortführung der bisherigen Praxis. Es geht vielmehr darum, gerade diese Unsicherheiten für eine Bildungsreform zu nutzen, die sich nicht darauf beschränkt, das Beschäftigungssystem mit einem anforderungsgerechten Qualifikationspotenzial zu versorgen, sondern u. a. darauf zielt, die positiven Ansätze zu einer ganzheitlicheren Arbeitsorganisation mit höheren Autonomiespielräumen für alle Beschäftigten aktiv zu fördern.

Schon der Blick auf die industriesoziologische Forschung der letzten zehn Jahre reicht aus, um der Vorstellung eindeutiger und unmittelbar operationalisierbarer Anforderungen des Beschäftigungssystems an die Qualifikationen der zukünftig Beschäftigten infrage zu stellen. Zwar identifizierten Kern/Schumann 1984 in "Das Ende der Arbeitsteilung?" ein neues Rationalisierungsparadigma, das eine Abkehr von restriktiver Arbeitsgestaltung zugunsten ganzheitlicherer Aufgabenzuschnitte signalisierte, empirisch nachweisbar waren "Neue Produktionskonzepte" jedoch nur in einigen industriellen Kernsektoren (Automobilindustrie, Werkzeugmaschinenbau und Chemische Industrie) und zeigten sich auch dort keineswegs an allen Arbeitsplätzen. Dem stehen Industrien gegenüber, in denen sich zumindest kein umfassender Paradigmenwechsel, sondern bestenfalls Mischformen zwischen überkommenen und neuen Produktionskonzepten abzeichneten. In die Betrachtung einbezogen wurde zudem das wachsende Heer der Arbeitslosen, deren (Re)-Integration in das Beschäftigungssystem sich gerade bei ganzheitlichen Aufgabenzuschnitten immer schwieriger gestalten werde. Entsprechend der differenzierten Sicht unterschieden Kern/Schumann zwischen Rationalisierungsgewinnern, -duldern und -verlierern. Lässt schon diese Unterscheidung erahnen, dass sich daraus kaum eindeutige Konsequenzen für das Bildungssystem ableiten lassen, so wird diese Schwierigkeit mit Blick auf die inhaltlichen Bestimmungen neuer Produktionskonzepte noch deutlicher. Zwar ist relativ klar zu beschreiben, dass eine Arbeitsorganisation mit überwiegend restriktiver Arbeitsorganisation unter den veränderten Bedingungen von Markt, Technik und Organisation in wesentlichen Bereichen des Beschäftigungssystems nicht mehr trägt, die Konkretisierung neuer Produktionskonzepte und der damit einhergehenden Qualifikationsanforderungen ist schon bei Kern/Schumann weniger präzise. Die diesbezüglichen Unsicherheiten sind in den nachfolgenden Kontroversen und in anderen Untersuchungen eher noch größer geworden. Auch Schumann u. a. relativieren nach gut zehn Jahren ihren vorsichtigen Optimismus noch einmal: "Was sich vor zehn Jahren in den ersten Spurenelementen andeutete und in eine klare Richtung zu drängen schien, erweist sich als eine in vielen Bereichen höchst zähflüssige, weit verästelte, auch gegenläufige Entwicklung, die nur in einigen Strängen halbwegs verlässlich, in anderen allenfalls höchst vorläufig zu antizipieren ist" (Schumann u. a. 1994: 11).

Gegen diese nüchterne und differenzierte Betrachtung, die sich in fast allen industriesoziologischen Untersuchungen der letzten Jahre zeigt, steht der ungebrochene Fortschrittsoptimismus von Lehner/Widmaier. Auch sie gehen zunächst von verschiedenen Entwicklungsalternativen aus. Einer zentralistischen, automatisierten Massenproduktion mit geringen Qualifikationsanforderungen und restriktiven Arbeitsbedingungen werden "anthropozentrische Produktionssysteme" gegenübergestellt, die durch hohe Autonomiespielräume, flache Hierarchien, die "Delegation von Planungs-, Steuerungs- und Kontrollfunktionen", "stark reduzierte Arbeitsteilung" und eine kontinuierliche Weiterbildung der Beschäftigten gekennzeichnet sind (Lehner/Widmaier 1992: 57 f.). Die Gutachter lassen keine Zweifel daran, dass der "anthropozentrische Pfad" ökonomisch und sozial gleichermaßen wünschenswert und rational ist. Trotz dieser Eindeutigkeit müssen sie jedoch einräumen, dass entsprechende Produktionssysteme - sie sprechen hier von einem "Diffusions-Paradox" - bislang noch minoritär sind (vgl. ebd.: 53 u. 63 f.). Das "Diffusions-Paradox" wird allerdings nicht aufgelöst, d. h. auf seine Ursachen und Dauerhaftigkeit überprüft. Die Gutachter scheinen sich darauf zu verlassen, dass sich auch in den Unternehmen die "rationale" Variante durchsetzt. Zum zentralen Hebel der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung wird das Bildungssystem. In der bildungsökonomischen Optik des Gutachtens besteht das Grundproblem darin, den "Output" des Bildungssystems so zu organisieren, dass dem "raschen und weitreichenden wirtschaftlichen und sozialen Wandel" (Lehner/Widmaier 1992, S. 2) "Humanressourcen" zur Verfügung gestellt werden. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, ihre ökologische Erneuerung und die Zukunftssicherung individueller beruflicher Chancen sind danach zentral an die Qualifikationen und die schulische Bildung der zukünftig Beschäftigten gekoppelt. Dabei unterbleiben - neben einer komplexeren gesellschaftlichen Funktionsbestimmung von Bildung - die Berücksichtigung möglicher negativer Begleiterscheinungen "anthropozentrischer Produktionssysteme" und Überlegungen zu den Aufgaben des Bildungssystems unter den Bedingungen des "Diffusions-Paradoxes".

In der industriesoziologischen Diskussion wird demgegenüber seit langem auf die (möglichen) negativen Effekte neuer Arbeitseinsatzkonzepte hingewiesen. Dazu gehören

  • "Arbeitsintensivierung;
  • Gruppendruck und -konkurrenz, entsolidarisierende Individualisierungsprozesse;
  • Ausschluss von Leistungsschwächeren;
  • Identifikationszumutungen bzw. gleichsam 'totale' Einvernahmen der Gesamtperson für das Unternehmen und die Arbeitsaufgaben;
  • Schuld-Selbstzuschreibung der Individuen bei unzulänglichen Arbeitsergebnissen;
  • Segmentierung der Belegschaften nach Qualifikationen, Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzsicherheit;
  • Interessendurchsetzung und -wahrung als individuelle oder positionsspezifische Angelegenheit der individuellen qualifizierten Beschäftigten (oder nur auf sich selbst bezogener Gruppen)" (Simoleit/Jacke/Feldhoff 1994: 38).

Es liegt auf der Hand, dass Individuen, die in ihrer Arbeitssituation mit solchen Effekten konfrontiert werden, über Qualifikationen und Kompetenzen verfügen müssen, die sich nicht in Begriffen wie "Lernfähigkeit", "Flexibilität" und "Mobilität" erschöpfen. Auch die Konkretisierung der von den Gutachtern geforderten Kompetenzen wie "Problemlösungsfähigkeit, Teamwork, Lernfähigkeit" erfährt ganz andere Akzente. Sie fügen sich unter diesen Bedingungen nicht nahtlos in einen modernisierten Produktionsprozess, sondern wenden sich ggf. kritisch dagegen.

Die Notwendigkeit kritischer, (arbeits)-politischer Aktivitäten im Betrieb, die bei Lehner/Widmaier ebenso unberücksichtigt bleibt, wie in vielen öffentlichen Bekundungen zur Bedeutung von Schlüsselqualifikationen, wird unabdingbar, wenn das konstatierte "Diffusions-Paradox" bestehen bleibt. Ein Fortbestehen überkommener und restriktiver Arbeitseinsatzkonzepte gegen die ökonomische und soziale Rationalität erfordert kein beliebig abrufbares Verhaltensrepertoire oder einseitige Anpassungsleistungen an den Strukturwandel. Gefordert ist eine Handlungskompetenz, die ausgehend von einem Bewusstsein der (durchaus begrenzten) Veränderbarkeit betrieblicher Strukturen und einer gehörigen Frustrationstoleranz in den Fähigkeiten zum Erkennen und Nutzen von Gestaltungsoptionen, Regelungs- und Kontrolllücken sowie zum Erkennen, Artikulieren, Verhandeln und Durchsetzen individueller und kollektiver Interessen besteht. In dieser Perspektive hängt die zukünftige Arbeitsteilungsstruktur in den Betrieben und dadurch vermittelt auch der ökonomische Strukturwandel u. a. von der Fähigkeit der Beschäftigten ab, initiativ zu werden und einen Beitrag zur Veränderung traditioneller betrieblicher Strukturen zu leisten.

Besonders zu beachten sind in diesem Zusammenhang die strukturellen Barrieren, die bislang dafür verantwortlich sind, dass sich neue Arbeitsteilungsstrukturen trotz vielfach (plausibel) behaupteter Vorteile für die Effizienz von Unternehmen und eine gleichzeitig humanere Arbeit nur zögerlich durchsetzen. Es existiert offenbar keine eindeutige Logik, die zu einer umfassenderen Nutzung von Qualifikationen der Beschäftigten, flacheren betrieblichen Hierarchien und teilautonomer Gruppenarbeit führen muss oder - unter der Voraussetzung rationaler Managemententscheidungen und gleichermaßen rationaler bildungspolitischer Weichenstellungen - führen müsste. Der Betrieb kann nicht als Organisation aufgefasst werden, in der sich "Systemzwänge" oder "Rationalitäten" - seien sie technologischer oder ökonomischer Art - ungebrochen durchsetzen, sondern als ein Handlungsfeld, das bestimmt oder beeinflusst ist durch Interessen, Handlungen und Handlungspotenziale betrieblicher Akteure, durch die vorhandene Arbeitsorganisation und Qualifikationsstruktur, durch arbeitsrechtliche und tarifvertragliche Regelungen, durch die bereits vorhandenen Technologien, durch "paradigmatische Nutzungslinien" (Rolf 1989: 140) neuer Technologien sowie durch die ökonomischen Voraussetzungen, in die auch wirtschafts-, sozial- und technologiepolitische Entscheidungen eingehen.

Auswirkungen von Bildung auf den Strukturwandel der Arbeit

Mit der Berücksichtigung komplexerer Wechselwirkungen relativiert sich zunächst die Bedeutung von Bildungsprozessen für den Strukturwandel der Arbeit. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Faktoren, die auf die betrieblichen Umstrukturierungsprozesse einwirken, ist festzustellen, dass der Einfluss bildungspolitischer Weichenstellungen auf die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung und auf die Arbeitsorganisation in den Betrieben nur sehr vermittelt sein kann. Die Durchsetzung von Arbeitseinsatzkonzepten, die zugleich eine höhere Effizienz und eine humanere Arbeit ermöglichen, hängt nicht ausschließlich von den Qualifikationen und Kompetenzen der Beschäftigten und den Vorleistungen der Schulen ab. Aus einer Perspektive, die Bildungspolitik auch als Gesellschaftspolitik begreift, stellt sich dennoch die Frage, welches Bildungskonzept einen aktiven Beitrag dazu leisten kann, "die sich heute - und zwar vermutlich nur für eine begrenzte Zeit - eröffnenden Chancen zu nutzen, neue, gleichzeitig effiziente und mit den grundlegenden Werten unserer Gesellschaft in Einklang stehende Formen von Arbeit und Zusammenarbeit zu entwickeln" (Lutz 1988: 64).

Theoretische Ansätze, die unter Rückgriff auf Ableitungs- oder Abbildungsmodelle Reformvorschläge für das Bildungssystem aus Strukturen und Prozessen des Beschäftigungssystems herleiten, verfehlen hier nicht nur komplexere gesellschaftliche Anforderungen an Bildung. Sie greifen auch - zumal wenn sie die Ergebnisse von Bildungsprozessen noch weiter auf beliebig abrufbare Qualifikationen verkürzen - ökonomisch zu kurz. Beispielhaft für einen derartigen Zugriff ist eine perspektivische Verengung auf Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen an die Beschäftigten. Bildung wird damit auf eine Zulieferfunktion für gesetzte Anforderungen der Arbeitswelt und damit auf eine reaktive Funktion reduziert. Aktiv gestalterische Elemente bleiben dabei unberücksichtigt (4).

Die ökonomische Überhöhung von Bildung bei gleichzeitiger Verkürzung auf die Zulieferfunktionen hat nicht nur - bei Forderungen nach mehr, weniger oder effizienterer Bildung - unmittelbare Folgen für das Bildungssystem, sondern wirkt indirekt auf das Beschäftigungssystem zurück. Obwohl Bildung und Bildungspolitik nur vermittelt auf betriebliche Prozesse und Strukturen wirken, sind vielschichtige Interdependenzbeziehungen zwischen dem Bildungs- und dem Beschäftigungssystem wirksam (5). Ich werde im folgenden zwei Aspekte herausgreifen, an denen deutlich wird, dass sich Prozesse im Bildungssystem auf das Beschäftigungssystem auswirken und in denen dem Bildungssystem zugleich eine aktive Rolle zukommt. Es geht zum einen um die Nachfrage und Nutzung von Qualifikationen im Beschäftigungssystem in Reaktion auf das Qualifikationsangebot am Ausbildungsstellenmarkt und zum anderen um betriebliche Konsequenzen aus veränderten arbeitsbezogenen Wertvorstellungen in der jungen Generation, die u. a. als Folge schulischer Sozialisation anzusehen sind. Die Frage, ob höhere Qualifikationsanforderungen exklusiv an eine ArbeiterInnen- und Angestelltenelite oder auf breiter Ebene gestellt werden, lässt sich vor diesem Hintergrund auch als eine bildungspolitische Frage begreifen. Der zukünftige Qualifikationsbedarf im Beschäftigungssystem ist nicht von der Struktur des Bildungssystems und den darin praktizierten Organisationsformen, Inhalten, Methoden und Sozialformen des Lernens abzukoppeln. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die hierarchische Struktur der Qualifikationsanforderungen und der Arbeitsorganisation.

Hinweise darauf, dass das Qualifikationsangebot des Bildungssystems durchaus Einfluss auf die Arbeitsorganisation und d. h. auch auf die weitere Qualifikationsnachfrage durch das Beschäftigungssystem hat, enthalten seit den 70er Jahren die Arbeiten von Burkhart Lutz. Im deutsch - französischen Vergleich stellte er einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Arbeitsorganisation in den Betrieben und der Struktur des Bildungssystems fest. Ein Fazit der empirischen Untersuchungen und der daraus abgeleiteten Interdependenzthese ist, dass "jegliche Form vertikaler - bildungshierarchischer - Differenzierung von Bildungsgängen über kurz oder lang in Form vertiefter vertikaler Arbeitsteilung und infolgedessen Vergrößerung von Ungleichheit der Berufs- und Lebenschancen ins Beschäftigungssystem durchschlägt" (Lutz 1976: 150). Entgegen üblichen Argumentationsmustern wird hier die empirisch und theoretisch untermauerte Auffassung vertreten, dass das Beschäftigungssystem auf die Angebotsstruktur des Bildungssystems reagiert und sie in der Folgezeit durch eine entsprechende Qualifikationsnachfrage stützt (6). Diese lange Zeit umstrittene Sicht wurde in den folgenden Jahren durch einige industriesoziologische Studien empirisch gestützt. So stellten Baethge u. a. schon 1980 fest, dass die Betriebe zunehmend dazu übergingen, "die Abiturienten in die 'normale' Lehre mit hineinzunehmen, aber ihr spezifisches Leistungsvermögen zur Differenzierung und Hierarchisierung von praktischen Ausbildungsgängen zu nutzen" (Baethge u. a. 1980: 341). Der Einsatz von Abiturienten wurde dabei nicht mit gestiegenen Qualifikationsanforderungen besonders begründet (vgl. ebd.: 342). Es handelte sich hier offenbar um einen Mitnahmeeffekt, der jedoch eine "zunehmende Differenzierung der Hierarchie-Ebenen" (ebd.: 343) möglich erscheinen lässt und der in der Folgezeit auch entsprechend zu einer "Differenzierung der Ausbildungsgänge" nach Maßgabe des Qualifikationsangebotes am Ausbildungsstellenmarkt genutzt wurde (Baethge/Oberbeck 1986: 334). Das Qualifikationsangebot und darauf reagierende betriebliche Rekrutierungsstrategien generieren so einerseits eine dauerhafte Nachfrage nach höheren Schulabschlüssen in bestimmten, besonders angesehenen Berufen (insbes. bei Bank-, Versicherungs- und Industriekaufleuten) und führen andererseits zu einer vertieften hierarchischen Differenzierung von Ausbildungsberufen.

Die Einflüsse des Qualifikationsangebotes auf das Beschäftigungssystem beschränken sich jedoch nicht auf personalpolitische Rekrutierungsstrategien und eine darüber vermittelte Nachfrage nach höheren Abschlüssen. Folgt man einem Erklärungsmuster, dass insbesondere in einigen Arbeiten aus dem Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen (SOFI) vertreten wird, entfalten die durch das Bildungssystem mitgeprägten Kompetenzen und Orientierungen der Beschäftigten im Rahmen innerbetrieblicher Reorganisationsprozesse ein arbeitspolitisches Gewicht. Danach bringen Jugendliche beim Eintritt in die Arbeitswelt "stärker entfaltete und gefestigte Ansprüche mit, die sie auch in der Arbeit geltend machen" (Voskamp/Wittke 1992: 31). Die höheren Ansprüche resultieren - so Baethge - in erheblichem Maße aus der Bildungsexpansion. Das längere Verweilen im Bildungssystem "fördert individualistische Identitätsbildungsmuster und führt auch zur emotionalen Stabilisierung des 'Eigensinns' der Subjekte" (Baethge 1991: 12). Baethge und Voskamp/Wittke gehen davon aus, dass die steigenden Ansprüche an die Qualität der Arbeit ein Maß erreicht haben, das die Betriebe zur Reaktion drängt (7). Hintergrund ist die in vielen Arbeitsbereichen zunehmende Notwendigkeit einer Identifikation mit der Tätigkeit und einer Intentionalität der Aufgabenerfüllung. Die zunehmende Bedeutung subjektgebundener Tätigkeiten im Kontext neuer Rationalisierungsstrategien verbietet die rigide Missachtung von arbeitsbezogenen Ansprüchen der Beschäftigten und erfordert stattdessen zu einem gewissen Grade ihre Berücksichtigung durch "Zugeständnisse an Eigenverantwortlichkeit, Kompetenz und Status" durch die Unternehmen (Baethge 1991: 13).

Neben solchen Anpassungsreaktionen der Betriebe muss zusätzlich eine weitere und direktere Wirkung der Arbeitsorientierungen von Beschäftigten auf die Arbeitsorganisation in Rechnung gestellt werden. Mit der Verabschiedung vermeintlicher Logiken und Determinismen in der Industriesoziologie sind in den letzten Jahren die Handlungsspielräume betrieblicher Akteure immer wieder in den Mittelpunkt gerückt worden. Die Arbeitsorganisation wird im allgemeinen nicht mehr, wie früher üblich, aus Notwendigkeiten der Technologie oder der Ökonomie einlinear abgeleitet. Technologien und Märkte setzen der Gestaltbarkeit der Arbeitsorganisation sicherlich Grenzen, erzeugen einen erheblichen Druck zu höherer Effizienz und wirken so leistungsverdichtend. Sie werden aber gleichzeitig auch als Faktoren angesehen, die Gestaltungsoptionen innerhalb bestimmter Entscheidungskorridore eröffnen. Flexible Märkte und flexible einsetzbare Technologien fördern - je nach Branche und Marktsegment in unterschiedlichem Maße - eine flexible Unternehmensorganisation mit einer dezentralen Entscheidungskompetenz. Welche Organisationsstrukturen sich jedoch letztlich durchsetzen, ist keine Frage von technischen oder ökonomischen Logiken und Modellen, sondern auch Ergebnis von Gestaltungs- und Aushandlungsprozessen im Betrieb, in die allerdings vielfältige außerbetriebliche Einflüsse hineinwirken. In diesem Zusammenhang ist immer wieder von einer "Politisierung" der betrieblichen Sozialbeziehungen die Rede (z. B.: Heidenreich/Schmidt 1990; Hirsch-Kreinsen u. a. 1990; Ortmann u. a. 1990). Trotz nachhaltig ungleicher Möglichkeiten der Durchsetzung von Interessen kann davon ausgegangen werden, dass Einflussmöglichkeiten auf allen Ebenen der betrieblichen Hierarchie bestehen. Dieses gilt sowohl für zielgerichtete, offene und formelle Strategien zur Veränderung betrieblicher Arbeitsteilungsstrukturen unter Nutzung etablierter Interessenvertretungsmuster, als auch und vermutlich in größerem Umfang für naturwüchsige, "heimliche" und informelle Aktivitäten (8). Von besonderer Bedeutung für den zweiten Aktivitätstyp ist hier die Möglichkeit für die FacharbeiterInnen und Fachangestellten, Regelungs- und Kontrolllücken im Arbeitsprozess zu nutzen und eine "aktive Beeinflussung der Arbeitsorganisation 'von unten'" (Voskamp/Wittke 1992: 31) zu bewirken. Trotz vielfältiger Verhaltens- und Verfahrensvorschriften sowie geregelter Verantwortlichkeiten verbleiben z. T. erhebliche Grauzonen, die von den Beschäftigten prinzipiell zur Erweiterung individueller und gruppenkollektiver Zuständigkeiten genutzt werden können. Zwar sind solche Möglichkeiten allgemein zu unterstellen, sie treten jedoch in Umbruchphasen - eine solche liegt zurzeit unstrittig vor - besonders hervor.

Die allenthalben diagnostizierten arbeitspolitischen Handlungsmöglichkeiten werden allerdings überwiegend nicht oder mit einer Tendenz genutzt, die im Hinblick auf die Überwindung überkommener Strukturen ambivalent einzuschätzen ist. So stellen z. B. Pries u. a. fest, dass "zwar die technischen Voraussetzungen immer freier genutzt werden können, die betrieblichen Akteure aber die übrigen, vor allem die sozialen Bedingungen der Arbeitsgestaltung nur unzureichend zu erkennen bzw. zu nutzen vermögen" (Pries u. a. 1989: 21). Der Blick auf vorhandene Chancen gestaltender Einflussnahme wird u. a. verstellt durch

  • die immer noch vorherrschende technokratische Vorstellung, technischer Wandel sei ein quasi naturgesetzlicher und damit nicht zu gestaltender Vorgang;
  • Dogmen und verfestigte Wertvorstellungen einer "ausschließlich zentralen Plan und Durchführbarkeit von technischen Innovationen" oder der "oft schon zwanghaft zu nennende Glaube, Arbeit ... rationalisieren zu müssen" (Rolf 1989: 140);
  • die bewusstseinsprägenden Formen der überkommenen Arbeitsorganisation und der damit verbundenen Definition von Arbeitsrollen, die alle Beteiligten offenbar nur unter Schwierigkeiten überwinden können (9) (vgl. Sydow 1989: 24; bezogen auf Betriebs und Personalräte vgl. Baethge/Oberbeck 1986: 397; Thomas 1989: 191).

Der eher skeptische Blick auf die Nutzung vorhandener Handlungs- und Gestaltungsspielräume durch betriebliche Akteure bedeutet nicht, dass sie gänzlich unterbleibt. Insbesondere jungen Fachkräften in Produktion und Verwaltung wird - von betrieblichen Akteuren, die im Rahmen des Projektes "Berufsorientierung" befragt wurden und in der einschlägigen Forschungsliteratur - bescheinigt, dass sie ihre Zuständigkeiten aktiv zu erweitern suchen. Solche Aktivitäten sind jedoch oft ausgesprochen ambivalent. Sie wirken einerseits beschleunigend auf Tendenzen zur Erweiterung von Arbeitsautonomie und Verantwortungsübernahme durch FacharbeiterInnen und Fachangestellte. Andererseits handelt es sich oft um individualistische Strategien, die sich zwar gegen vorhandene Arbeitsstrukturen und Hierarchien wenden, sie aber gleichzeitig durch Aufstiegsorientierungen auch stabilisieren. So kommen Voskamp/Wittke zwar zu dem Ergebnis, dass "die Arbeitsstrukturen sich durch die aktive Mitwirkung der 'Facharbeiter neuen Typs' bereits sehr viel weiterreichend gewandelt haben, als offizielle Konzepte vermuten lassen" (Voskamp/ Wittke 1992: 32). Die mit dem selbstbewussten Auftreten einhergehenden sozialen Spannungen werfen jedoch Probleme auf. Es kommt "typischerweise" zu Konfliktlinien "zwischen Jung und Alt" (ebd.). Aus der Produktion wird von Konflikten zwischen jungen Facharbeiter(Inne)n und älteren Einrichtern berichtet, "die um ihren sozialen Besitzstand fürchten müssen" (ebd.). Im Rahmen der Forschungsarbeiten im Projekt "Berufsorientierung" sind wir mehrfach und besonders ausgeprägt im Bereich der Unternehmensverwaltung auf solche Konflikte gestoßen. Die methodischen und analytischen Fähigkeiten junger Fachkräfte, ihre Tendenz vorgegebene Arbeitsstrukturen zu hinterfragen und ihre oft höheren Qualifikationen im Umgang mit IuK-Technologien stellen die tradierten Verfahren und Leistungsanforderungen und damit den Status der älteren Kolleginnen infrage, die darauf mit Abwehrhaltungen reagieren. Die mit der Restrukturierung der Arbeit einhergehende Tendenz der Leistungsverdichtung (und die Überforderung vieler älterer ArbeitnehmerInnen) kann den Auszubildenden und AusbildungsabsolventInnen eine positive Erfahrung und Selbstbestätigung vermitteln, da sie von vornherein für die neuen technischen Mittel und umfassendere Aufgabenzuschnitte ausgebildet werden. Hier gibt es deutliche Parallelen zu Untersuchungen von Littek/Heisig (1986). Danach sind viele junge, hoch qualifizierte Angestellte die (vorläufigen und relativen) Gewinner von Rationalisierungsmaßnahmen und treiben dabei Spaltungstendenzen innerhalb der Gruppe der Angestellten voran: "Das Management braucht nur die Rahmendaten vorzugeben, damit jüngere und qualifiziertere Angestellte aktiv werden und ihre älteren und geringer qualifizierten Kollegen unter Verhaltens und Anpassungszwänge setzen" (ebd.:246).

Hier zeigt sich exemplarisch die Kehrseite individueller arbeitsbezogener Ansprüche. Kritik an unbefriedigenden Arbeitsverhältnissen äußert sich überwiegend in "individuellen Aktivitäten zur Korrektur" (Baethge 1991: 16), d. h. in Konkurrenzverhalten und einer Aufstiegsorientierung, die immer ausgeprägter zu akademischer Bildung tendiert - oder auch nur in der "inneren Kündigung". Diese Strategien führen jedoch im Grundsatz zu einer Stabilisierung überkommener Hierarchien und Statusansprüche im Beschäftigungssystem, die auch aus ökonomischer Perspektive zunehmend fragwürdig werden.

Es wäre sicherlich verfehlt, die Dominanz individualistischer Strategien primär oder einseitig als Folge der schulischen Sozialisation zu begreifen. Hier greifen (zumindest) der Funktionswandel der Familie, die Ausdehnung vorberuflicher Sozialisation und Individualisierungsprozesse in der Erwerbsarbeit ineinander. Unabhängig von Ursachen- oder gar Schuldzuschreibungen ist jedoch die These einer Ambivalenz schulischer Sozialisation kaum von der Hand zu weisen. Sie trägt - als emanzipatorisches Moment - dazu bei, dass sich der "Eigensinn" der Subjekte gegen Formen der Fremdbestimmung im Arbeitsleben richtet (vgl. ebd.). Sie fördert jedoch gleichzeitig eine Dominanz der persönlichen gegenüber der sozialen Identität, die durchaus repressive Funktionen der betrieblichen Organisation stützen kann. Subjektive Ansprüche Dritter oder ökologische, soziale und ethische Prinzipien einer humanen Gesellschaft sind nicht unbedingt in den individualistischen Handlungshorizont eingelassen.