In den Diskussionen um zukünftige Anforderungen an Fachkräfte unterschiedlicher Berufsbereiche sind seit einigen Jahren Veränderungen im Qualifikationsverständnis zu verzeichnen. Gefordert werden breitere fachliche Qualifikationen und zusätzliche Kompetenzen, die zumeist unter dem Begriff "Schlüsselqualifikationen" zusammengefasst werden. Als Leitbilder erscheinen zunehmend FacharbeiterInnen und Fachangestellte, die Zusammenhänge verstehen, auf nicht vorherbestimmbare Situationen kompetent reagieren, kommunikations- und kooperationsfähig sind, Entscheidungen treffen, Kritik üben und sich nach Maßgabe wechselnder Anforderungen weiterbilden und spezialisieren.

Hintergrund veränderter Qualifikationsanforderungen ist der Strukturwandel in Produktion, Verwaltung und Dienstleistung. Neue Informations- und Kommunikationstechnologien, veränderte Marktbedingungen und neue bzw. wiederentdeckte Formen der Organisations- und Arbeitsgestaltung führen zumindest in einigen Bereichen des Beschäftigungssystems zu einem veränderten Stellenwert der verbleibenden menschlichen Arbeit. Dieser Wandel wird in wissenschaftlichen und arbeitspolitischen Diskussionen unter Formeln wie "neue Produktionskonzepte", "systemische Rationalisierung", "Organisationsentwicklung" und mittlerweile auch "Lean-Production" gefasst (1). Sie repräsentieren die Abkehr von einer Sichtweise, in der Produktion und Verwaltung durch fortschreitenden Technikeinsatz voll automatisiert und von menschlicher Arbeitsleistung weitgehend "befreit" sein werden. Obwohl durch die Technisierung weiterhin Arbeitsplätze verloren gehen, wurde vielfach - gerade mit der Verbreitung der IuK-Technik und durch erhöhte Anforderungen an die Flexibilität der Unternehmen - deutlich, dass personengebundene Kompetenzen der Beschäftigten für den Arbeitsprozess unerlässlich sind.

Auffällig ist, dass die Etiketten, mit denen der Wandel der Qualifikationsanforderungen vor allem in der Wirtschaftspublizistik aber auch - mit größerer Zurückhaltung - in den wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen belegt wird, vielfach den Zielen einer Bildungsreform ähneln, die an gesellschaftlichen Widerständen, institutionellem Beharrungsvermögen und bürokratischen Hemmnissen weitgehend gescheitert ist. Viele Anforderungen, die heute an Arbeitskräfte gestellt werden, weisen hohe Affinitäten zu Idealen der Bildungsreform auf: Selbstständigkeit, Denken in Zusammenhängen, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit und - in der Debatte seltener benannt - die Kritikfähigkeit.

Die veränderten Qualifikationsanforderungen schlagen sich auch in einer Neuorientierung der Berufsausbildung nieder. Seit der Neuordnung der industriellen Metall und Elektroberufe, die 1987 in Kraft trat, wird in neuen Ausbildungsordnungen die Anforderung gestellt, dass die Auszubildenden zur Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit befähigt werden, die "insbesondere selbstständiges Planen, Durchführen und Kontrollieren einschließt". Facharbeits und Fachangestelltenberufe werden nicht mehr als ausschließlich ausführende Berufe auf der Basis eines Kanons von fachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten aufgefasst, sondern als Berufe, die ein relativ hohes, wenn auch in den Ausbildungsordnungen nicht näher präzisiertes Maß an Selbstständigkeit erfordern. Eine Konkretisierung und Umsetzung wird jedoch seit einigen Jahren im Rahmen von Modellversuchen in der Berufsausbildung verfolgt, die zentral auf die Förderung von Schlüsselqualifikationen zielen. Die hier angewandten Methoden, Sozial- und Organisationsformen des Lernens weisen ihrerseits eine relative Nähe zur schulischen Reformdiskussion auf. Dies gilt in besonders hohem Maße für die Projektmethode, die in einigen Betrieben zum Eckpfeiler der Ausbildung geworden ist.

Die Veränderungen der Anforderungsprofile und einer in ersten Ansätzen darauf bezogenen Ausbildung haben in den letzten Jahren zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Bildung, Arbeit und speziell der Berufsausbildung geführt. Wurden von kritischen PädagogInnen und SoziologInnen - durchaus im Einklang mit der traditionellen Pädagogik - seit Ende der 60er Jahre vornehmlich die Vereinseitigungen und Restriktionen der Berufsausbildung im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung behandelt und kritisiert (in der Berufsausbildung geht es darum, die "Lernenden in eine vorgegebene Norm einzupassen"; Brater 1987: 122), so ist in den letzten Jahren ein deutlicher Perspektivenwechsel festzustellen. Für viele BeobachterInnen mit einem vormals kritisch-distanzierten Verhältnis zu den Entwicklungstendenzen der Erwerbsarbeit und zur betrieblichen Berufsausbildung

  • zeichnet sich mittlerweile eine "Koinzidenz ökonomischer und pädagogischer Vernunft" (Achtenhagen 1990: VII) ab;
  • kann "in dem Konzept der 'Schlüsselqualifikationen' ... auch eine neue Bezeichnung für das gesehen werden ..., was früher als Bildung bzw. genauer: als Persönlichkeitsbildung konzipiert worden war" (Arnold 1993: 95);
  • führt, "konsequent weitergedacht, die wirtschaftliche Bedarfsorientierung zur Forderung nach einer autonomen (Persönlichkeits-)Bildung. Diese Anforderung macht Berufsbildung perspektivisch zur allgemeinen Menschenbildung" (Brater 1987: 133);
  • besteht die Chance, "den lange Zeit unversöhnlichen Gegensatz zwischen Bildung und Arbeit abzumildern, vielleicht auch zu überwinden, ohne fortbestehende Spannungen zu leugnen" (Baethge 1988: 18).

Diese Einschätzungen beziehen sich allerdings auf eine gerade erst einsetzende Entwicklung zu veränderten Qualifikationsanforderungen und neuen Konzepten der Berufsausbildung. Die dominante betriebliche Praxis in Ausbildung und Beruf bleibt hinter den neuen Leitbildern deutlich zurück (2). Dementsprechend geht es den zitierten Autoren vor allem um die Identifikation von Chancen für eine Annäherung von Bildung, Ausbildung und Beruf und um die Entwicklung einer Bildungs- und Ausbildungspolitik, die geeignet sein könnte, eine solche Annäherung zu fördern. Der Blick auf positive Ansätze wird daher in der Regel mit Hinweisen auf den vorläufigen Charakter von Überlegungen und auf neue Risiken ergänzt. Zu befürchten sind unter anderem eine verschärfte Segmentierung und Spaltung beruflicher Perspektiven zu Lasten von Problemgruppen am Arbeitsmarkt sowie Tendenzen, Bildung für betriebs- und volkswirtschaftliche Anforderungen zu funktionalisieren. Darüber hinaus ist in Rechnung zu stellen, dass Schlüsselqualifikationen im betrieblichen Kontext mit anderen Verhaltenserwartungen verbunden sein können, als in bildungspolitischen Reformansätzen. Prinzipiell liegt hier die Vermutung nahe, dass der Gebrauch von Schlüsselqualifikationen in vielen Betrieben seine Grenze in der Befolgung betrieblicher Normen findet, die prinzipiell nicht hinterfragt und reflexiv gehandhabt werden dürfen. Eine derartige Verkürzung ließe eine kritische Abgrenzung schulischer Lernprozesse von betrieblichen Erwartungen an Schlüsselqualifikationen notwendig erscheinen.

Die derzeitige Praxis in den Schulen rechtfertigt jedoch die Annahme, dass die Unterrichtspraxis in den Schulen noch hinter einem funktional verkürzten Begriff von Schlüsselqualifikationen zurückbleibt. Der Wandel im Beschäftigungssystem trifft auf ein Bildungssystem, das in vielen Strukturelementen eher dem überkommenen tayloristischen Arbeitsteilungsprinzip entspricht als den - bislang noch minoritären - ganzheitlicheren und kooperativen Aufgabenzuschnitten in der Erwerbsarbeit. Zentrale Qualifikationsanforderungen und die Ziele der reformierten Ausbildung stehen in offensichtlichem Widerspruch zu einem schulischen Lernen, das zu drei Vierteln unter die Kategorie "Frontalunterricht" subsumiert werden muss (Hage u. a. 1985: 149), in dem Kooperation in der Klasse, in der Gruppe oder mit PartnerInnen nur einen untergeordneten Stellenwert besitzt, in dem selbstständige SchülerInnentätigkeit marginal ist (vgl. ebd., 47), Hierarchien festgeschrieben sind und Unterrichtsinhalte zentral festgelegt werden. Hier drängt sich fast zwangsläufig die These auf, dass die veränderten Rahmenbedingungen der Erwerbsarbeit inhaltliche, methodische und organisatorische Veränderungen in den Schulen erfordern.

Die weitere Verfolgung dieser These zwingt jedoch vorab zu einigen Klarstellungen zum Verhältnis von Bildungssystem und Beschäftigungssystem. Im Unterschied zu einem für die GEW in Nordrhein-Westfalen von den Politikwissenschaftlern Lehner und Widmaier erstellten Gutachten wird dieses Verhältnis hier nicht als einseitige Subordination der Bildung unter ökonomische Anforderungen einer "modernen Industriegesellschaft" (vgl. Lehner/Widmaier 1992) gefasst (3). Ich gehe demgegenüber von einem eigenständigen Bildungsauftrag der Schulen aus, der sich auf die Persönlichkeitsentwicklung von Schülerinnen und Schülern richtet. Eine Berücksichtigung ökonomisch begründeter Anforderungen ist zwar mit Blick auf individuelle und gesellschaftliche Reproduktionsinteressen erforderlich. Sie müssen allerdings im Bildungssystem selbst unter Berücksichtigung (fach-)wissenschaftlicher, (fach-)didaktischer und politischer Kriterien und Diskussionen selektiert und gewichtet werden. Sie sind nicht unreflektiert und unmittelbar aus Forderungen "der" Wirtschaft abzuleiten - zumal dort auch sehr unterschiedliche Positionen vertreten werden. Gleichzeitig und gleichgewichtig müssen in bildungspolitischen Reformkonzeptionen zudem ökologische, psychologische, kulturelle und politische Modernisierungsrisiken in den Blick genommen werden (vgl. Jacke/Simoleit/Lemmermöhle-Thüsing/Feldhoff 1993). Reformkonzeptionen, die diese Anforderungen aufnehmen, werden sich nicht darin erschöpfen, wesentliche Prinzipien einer modernisierten Produktion auf die Schule zu übertragen (vgl. Lehner/Widmaier 1992: 151 ff.) oder - wie in der Diskussion über Krise und Autonomie der Schulen gelegentlich anzutreffen - einer neuartigen Angleichung der Schule an neoliberale Leitbilder das Wort zu reden.