Im Projekt "Berufsorientierung für eine neue Ausbildung im Betrieb" wurden vor dem Hintergrund veränderter Anforderungen in Ausbildung und Beruf Untersuchungen in 8 Ausbildungsabteilungen von insgesamt fünf Unternehmen durchgeführt. Die ausgewählten Unternehmen repräsentieren nicht den Durchschnitt der ausbildenden Unternehmen. Sie wurden ausgewählt, weil sie ihre Ausbildung inhaltlich, methodisch und organisatorisch an neuen Arbeitseinsatzkonzepten orientiert haben. Mit dieser Ausrichtung der Forschungsarbeiten sollte die Gefahr umgangen werden, eine rückständige Praxis in Beruf und Berufsausbildung zum Maßstab bildungspolitischer Überlegungen zu nehmen. Die Untersuchungen richteten sich u. a. auf zwei Fragestellungen:

  • Welche besonderen Akzentuierungen und ggf. Verkürzungen treten im Verständnis der Schlüsselqualifikationen in solchen Betrieben auf, deren Ausbildungskonzepte offensiv auf qualifizierte und breit angelegte Arbeitszuschnitte in einem kooperativen Arbeitszusammenhang ausgelegt sind?
  • Welche Probleme ergeben sich beim Übergang aus herkömmlichen Schulen in eine Berufs(aus)bildung, die durch neue Methoden und Organisationsformen der Ausbildung (z. B. Projekte, Leittext, entdeckendes Lernen und Gruppenarbeit) versucht, auf veränderte Qualifikationsanforderungen vorzubereiten?

Die unter dem Begriff "Schlüsselqualifikationen" subsumierten Befähigungen, Zielsetzungen und Funktionsbestimmungen können zunächst als offen für unterschiedliche Funktionen und Interpretationen aufgefasst werden. Bestimmte interessenpolitische Deutungen sind damit nicht zwingend verbunden. Daraus resultiert einerseits die Gefahr einer ökonomisch funktionalistischen Verkürzung und Instrumentalisierung. Andererseits enthalten die Qualifikationsziele und die damit verbundenen Ausbildungsreformen ein emanzipatorisches Potenzial. Im Vergleich zur bisherigen Berufsausbildung liegen ihnen ein komplexerer Begriff beruflichen Handelns und Elemente einer Persönlichkeitsbildung zugrunde. Sie sind insofern "ganzheitlicher" konzipiert.

Gegen eine Verengung auf funktionale Erfordernisse im Beruf wurde im Projekt "Berufsorientierung" in Aufnahme und Weiterführung vorhandener Ansätze (Schumann u. a. 1982, Fricke/Schuchardt 1985, Negt 1990) ein multiperspektivisches und interessenbezogenes Konzept von Schlüsselqualifikationen entwickelt. Analytisch unterschieden werden die Arbeitskraftperspektive, die Subjektperspektive und die gesellschaftliche Perspektive. Die Arbeitskraftperspektive zielt auf die Möglichkeiten des Verkaufs, der Erhaltung, der Optimierung und der Wertsteigerung der Arbeitskraft, als Existenzressource der Beschäftigten für sich selbst und für das Unternehmen. Die Subjektperspektive betrifft die Gesamtperson und die Beschäftigten als kollektive Akteure, ihre Identität und Würde und ihre "eigensinnigen" Entfaltungs- und Handlungsmöglichkeiten. Die gesellschaftliche Perspektive überschreitet die Begrenzung einer selbstreferentiellen Fixierung auf das eigene Unternehmen oder eines durch die Funktion bzw. die fachlich-berufliche Rolle eingeschränkten Relevanzbereiches und Realitätsausschnittes und umfasst die darüber hinausgehenden politischen Konsequenzen und Möglichkeiten beruflichen Handelns (vgl. dazu ausführlich: Simoleit/Feldhoff/Jacke 1991 und Simoleit/Jacke/Feldhoff 1994).

Eine wichtige Frage im Hinblick auf die bildungspolitische Bewertung der Ausbildungsreform und auf daraus abzuleitende Konsequenzen für die allgemein bildenden Schulen richtet sich auf die Berücksichtigung und Akzentuierung dieser Perspektiven in der reformorientierten betrieblichen Berufsausbildung. Von zentralem Interesse war hier, ob die Beschränkung der traditionellen Ausbildung auf eine Arbeitskraftperspektive, die sich zudem ausschließlich auf spezifische betriebliche Interessen richtete, überwunden wird und Subjektinteressen der Auszubildenden sowie Ansprüche aus der gesellschaftlichen Perspektive Berücksichtigung finden. Dabei war nicht nur zu untersuchen, ob die Ausbildung Freiräume für subjektive Ansprüche und z. B. für die Diskussion politischer Fragen gewährt, sondern ob die Ausbildung auch darauf gerichtet ist, Qualifikationen und Kompetenzen zu vermitteln, die diesen Perspektiven zuzuordnen sind. Im Hinblick auf die Subjektperspektive geht es dabei z. B. um die Förderung von Kompetenzen zur Wahrnehmung, Artikulation, Aushandlung und Durchsetzung von Interessen in betrieblichen Entscheidungsprozessen. Die gesellschaftliche Perspektive wurde in den Untersuchungen schwerpunktmäßig auf die Vermittlung und Förderung ökologischer Kompetenzen bezogen.

Die Ergebnisse (10) sind im Hinblick auf die Berücksichtigung der genannten Perspektiven ambivalent. Unproblematisch erscheint die Berücksichtigung der Arbeitskraftperspektive der Auszubildenden. Anzeichen für eine Ausbildung, die sich nur auf einen kurzfristigen betriebsspezifischen Qualifikationsbedarf richtet und die Interessen der Auszubildenden am Erwerb umfassender und betriebsunabhängiger Qualifikationen unberücksichtigt lässt, haben wir nicht vorgefunden. Die Notwendigkeit einer Förderung von Schlüsselqualifikationen ist im Kern in allen Betrieben unbestritten, auch wenn die Unschärfe des Begriffs aus verschiedenen Perspektiven kritisiert wurde. In der Ausbildungspraxis werden z. B. selbstständiges Vorgehen in der Arbeit, Kooperationsfähigkeit, methodisches Vorgehen und selbstständige Informationsbeschaffung mit Sozialformen und Methoden wie Gruppenarbeit, Leittext, Projekt, Junioren und Übungsfirmen, Plan und Rollenspiele oder systematische Erkundungen gefördert. Wenngleich traditionelle Ausbildungselemente (Ausbilderzentrierung, Vormachen-Nachmachen, Frontalunterricht) in einigen Untersuchungsbetrieben - entgegen der jeweiligen Konzeption - immer noch einen erheblichen Anteil ausmachen, kann festgehalten werden, dass reformorientierte Methoden in einigen Ausbildungsabteilungen bereits deutlich dominant sind. Auch in den übrigen Fällen wird ein weiterer Ausbau angestrebt. Die Reformbestrebungen in der betrieblichen Berufsausbildung und die veränderten Qualifikationsbestimmungen sind - bezogen auf die Arbeitskraftperspektive - relevante empirische Tatbestände und nicht nur legitimatorische Rhetorik.

Weniger eindeutig sind die Ergebnisse zur Berücksichtigung der Subjektperspektive in der reformorientierten Ausbildungspraxis. Die Handlungsspielräume im Arbeits- und Lernprozess werden von den Auszubildenden selbst, je nach Betrieb unterschiedlich, aber überwiegend positiv eingeschätzt. Einer Entwicklung, Verfolgung und Aushandlung individueller und gruppenkollektiver Interessen durch die Auszubildenden stehen die Ausbildungsverantwortlichen in den meisten Fällen aufgeschlossen gegenüber. Dies gilt vor allem für die Entwicklung von Projektideen und eigenständigen Problemlösungen. In dieser Hinsicht ist die Ausbildungsreform nicht nur ökonomisch bestimmt, sondern gleichzeitig auch Ergebnis professioneller, berufspädagogisch begründeter Reforminitiativen. Der Rekurs auf den betrieblichen Bedarf wird besonders von den Ausbildungsleitungen durch eine Orientierung an ganzheitlichen Formen der Arbeitskraftnutzung oder an der Mitgestaltung der Arbeitssituation durch die Beschäftigten vielfach ergänzt. Hier wird oft mit einer Tauschlogik argumentiert, die sich wie folgt zusammenfassen lässt (11):

Wenn das Unternehmen von den Beschäftigten erwartet, dass sie nicht nur festgelegte Operationen vollziehen, sondern mitdenken, für die Qualität des Produktes einstehen und Verantwortung übernehmen, müssen entsprechende Voraussetzungen geschaffen werden. Unerlässlich sind Freiräume und Beteiligungsmöglichkeiten für die Beschäftigten zur Sicherung individuell befriedigender Arbeitsbedingungen. Die Identifikation mit der Arbeitsaufgabe kann nicht über materielle Anreize oder aufgesetzte Konzepte einer "Corporate-Identity" gesichert werden.

Die überwiegend praktizierte Offenheit gegenüber Gestaltungsinitiativen ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer aktiven Förderung gestaltungsbezogener Kompetenzen. Eine gezielte Förderung und Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen, die auf die Sicherung und Erweiterung von Autonomiespielräumen und individuelle oder kollektive Einflussnahmen zielt, konnte nur in zwei der acht Ausbildungsabteilungen festgestellt werden. Hier setzt insbesondere ein montan mitbestimmtes Unternehmen Maßstäbe für eine zukünftige Ausbildung. Vorgefundene Beispiele für Gestaltungsaktivitäten von Auszubildenden, die durch Ausbildungsleitungen und AusbilderInnen in zwei Unternehmen aktiv gefördert und bisweilen geradezu provoziert wurden, sind:

  • eine Ermunterung zur Entwicklung eigener Projektideen für die Ausbildung und Hilfestellung bei der Realisierung;
  • die Einplanung von Reflexionsphasen in der Ausbildung mit dem ausdrücklichen Ziel, die Ausbildung zu verändern. In einem Unternehmen werden die Auszubildenden darüber hinaus sogar zu Überlegungen darüber ermuntert, wie die Arbeitsorganisation in Fachabteilungen außerhalb der Ausbildung verändert werden könnte. Diese Vorgehensweise hat in der betrieblichen Hierarchie und in den jeweiligen Fachabteilungen erhebliche, aber letztlich erfolglose Widerstände gegen die reformierte Ausbildung hervorgerufen;
  • eine Durchführung von Ausbildungsprojekten, in denen die Auszubildenden eigene arbeitsbezogene Forderungen zu systematischen Gestaltungsvorschlägen ausarbeiten (z. B. Ausbildungsprojekte zur Durchsetzung von Gleitzeit für Auszubildende);
  • die Ermunterung, sich aktiv für die Verfolgung eigener Interessen einzusetzen und dabei tradierte betriebliche Verhaltensnormen und Interessenvertretungsmuster nicht unreflektiert zu übernehmen. Das schließt eine Rückendeckung der Ausbildungsleitung bei begrenzten Regelverstößen der Auszubildenden ein;
  • die Durchführung künstlerischer Projekte in der Ausbildung.

Eindeutig defizitär stellt sich dagegen die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Perspektive dar. Zwar wird zumeist eine Offenheit gegenüber Reflexionen gesellschaftlicher Bezüge von Arbeit und Beruf postuliert. Das ist insofern als Fortschritt zu bewerten, als z. B. die Berücksichtigung von Umweltproblemen bis vor einigen Jahren in vielen Unternehmen und auch gelegentlich bei Betriebsräten und Gewerkschaften auf z. T. aggressive Ablehnung stieß. Die positive Einstellung der Ausbildungsverantwortlichen wird aber in der Ausbildungspraxis überwiegend (noch) nicht oder nur verkürzt eingelöst. Von den Akteuren selbst werden für die Thematisierung gesellschaftlich relevanter Themen und Problemlagen nur wenige Beispiele benannt. Von AusbilderInnen und insbesondere den AusbildungsleiterInnen wird zwar im Zusammenhang mit ökologischen Themen auf relativ hohe Standards bei der Verwendung (oder Vermeidung) problematischer Stoffe in den Ausbildungsabteilungen selbst verwiesen. Der Lern- und Handlungsmodus der Auszubildenden ist jedoch auf das unreflektierte Befolgen einer Norm der Vermeidung bestimmter "geächteter" Stoffe und Produkte gerichtet. Die Problematik wird in einigen Fällen - insbesondere im Rahmen der Ausbildung am Arbeitsplatz - noch einmal auf eine Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften reduziert. Eine systematische Reflexion ökologischer Risiken, die mit der jeweils spezifischen beruflichen Arbeit im Betrieb verbunden sind, findet demgegenüber in der Ausbildung einiger Unternehmen nicht, in anderen nur in Ansätzen statt - z. B. im Verlauf sozialpädagogischer Wochen. Perspektiven auf einen aktiven Beitrag von Berufstätigen zur Vermeidung von Umweltrisiken reichen zumeist nur bis zu einer - sicherlich notwendigen - Umgehung von Plastikbechern oder Tipp-Ex. Die Behandlung von Umweltrisiken klammert, von wenigen und zudem ungeplanten Ausnahmen abgesehen, die im Unternehmen hergestellten Produkte durchgängig aus. Beispiele für eine Integration ökologischer und fachlicher Kompetenzen haben wir - außer im unmittelbaren Zusammenhang mit Arbeitsschutzvorschriften - in keinem Fall vorgefunden. In einigen Fällen wird das Thema "Ökologie" darüber hinaus mit einem deutlichen Bezug auf die Privatsphäre behandelt. Umweltkriterien bleiben für die Auszubildenden auf diese Weise aufgesetzt und werden nicht in die Vorstellung von einer eigenen künftigen Berufspraxis integriert.