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4. Konzepte zur Neuordnung der Erwerbsarbeit

Eine Rückkehr zum Normalarbeitsverhältnis ist - dies dürfte deutlich geworden sein - weder realistisch noch den ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen angemessen; zu sehr hat sich das Erwerbssystem selbst im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels differenziert, zu sehr haben sich auch gesellschaftliche Ansprüche an die Erwerbsarbeit aufgefächert und einer umfassenden Standardisierung den Boden entzogen. Das normativ-institutionelle Gefüge der Regulierung des Erwerbssystems ist aber noch weitgehend auf das Normalarbeitsverhältnis abgestimmt und unterstellt eine Normalität, die inzwischen zur Fiktion geworden ist. Mit der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, der Massenarbeitslosigkeit und der Differenzierung von Beschäftigungsformen sind aber neue Formen der sozialen Ungleichheit entstanden. Sie erfordern neue Politiken und regulative Vorkehrungen, wenn gesellschaftlicher Desintegration und der Vertiefung der Segmentierung im Erwerbssystem sowie der Gräben zwischen den Geschlechtern und Generationen entgegengewirkt werden soll. Dabei kann es nicht darum gehen, die Differenzierungen von Beschäftigungsformen zu beseitigen; es kommt vielmehr darauf an, sie sozial abzusichern und Wahl- und Wechselmöglichkeiten für die Beschäftigten zu schaffen. Es mangelt nicht an Vorschlägen (vgl. Dombois 1999).

 

4.1 Ausweitung des Niedriglohnsektors

In das Zentrum kontroverser Diskussionen sind die Vorschläge zur Ausweitung des Niedriglohnsektors gerückt, die auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze für Personen mit niedrigen Qualifikationen vor allem im Dienstleistungssektor setzen. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass das hohe Niveau tariflicher und sozialpolitischer Regulierung und die vergleichsweise geringe Lohnspreizung in Deutschland einfache Tätigkeiten, gemessen an ihrer Produktivität, zu teuer mache und den Aufbau von Arbeitsplätzen mit niedriger Produktivität behindere; Potenziale zusätzlicher Beschäftigung, die im Dienstleistungssektor und vor allem im Bereich der personalen und sozialen Dienstleistungen ausgemacht werden, könnten nicht ausgeschöpft werden. Von der Erweiterung des Niedriglohnbereichs wird eine massive Expansion der Beschäftigung für Arbeitskräfte mit niedrigen Qualifikationen in arbeitsintensiven Dienstleistungsbereichen erwartet.

Es lässt sich dabei die neoliberale, marktorientierte Konzeption, wie sie von der bayrisch-sächsischen Kommission für Zukunftsfragen vorgestellt wurde, von eher institutionalistischen Konzeptionen unterscheiden, [/S. 19:] die eine Umorientierung von Arbeitsmarktpolitik und eine Re-Regulierung des Arbeitsmarkts verlangen; zu Letzteren ist der Vorschlag zu zählen, den Rolf Heinze und Wolfgang Streeck jüngst im Rahmen des Bündnisses für Arbeit vorgelegt haben. Die bayrisch-sächsische Kommission schlägt eine Radikalkur vor, die wie Claus Offe und Susanne Fuchs kritisch vermerken, "drei Dinge methodisch miteinander verbindet: das unbedingte Vertrauen auf die wissenschaftliche Lehre (nämlich der Marktökonomie); die Missachtung von bestehenden Institutionen und die heroische Zuversicht in die Mechanismen eines kontrollierten Bewusstseinswandels" (Fuchs/ Offe 1998, S. 297). Sie plädiert für eine radikale Deregulierung, die Aufhebung bisheriger sozialstaatlicher oder tariflicher Mindeststandards und insbesondere eine Öffnung des Lohnsystems nach unten, die eine produktivitätsorientierte Entlohnung einfacher Dienste möglich machen und nach Vorbild des US-amerikanischen "Job-Wunders" die Schaffung einer großen Zahl von zusätzlichen Arbeitsplätzen - bis zu vier Millionen - für Niedrigqualifizierte ermöglichen soll (vgl. Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen 1997, Bd. III, S. 19). Es wird ausdrücklich in Kauf genommen, dass die erhoffte Integration über den Markt mit zunehmender sozialer Ungleichheit verbunden ist (zur Kritik auch Bergmann 1998, S. 319 ff. und Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen 1998).

Heinze und Streeck setzen dagegen stärker auf eine Verbindung von Marktmechanismen mit staatlichen Regulierungs- und Umverteilungspolitiken, so vor allem eine degressive Subventionierung der Sozialversicherungsbeiträge für Niedrigeinkommen, die durch weitere Maßnahmen flankiert werden sollen. Sie erwarten, dass dadurch Angebot wie auch Nachfrage im Bereich einfacher Dienstleistungstätigkeiten belebt, die hohe Arbeitslosigkeit von niedrigqualifizierten Arbeitskräften vermindert und sozial kaum geschützte geringfügige Beschäftigung sowie Schwarzarbeit in den ersten, regulierten Arbeitsmarkt überführt werden könnten.

Die Vorschläge zur Einrichtung eines Niedriglohnsektors sind auf breite Kritik aus unterschiedlichen Quellen gestoßen. Zentrale Annahmen werden in Zweifel gezogen. Von besonderem Gewicht ist der Einwand, dass soziale und personenbezogene Dienstleistungen qualifizierten Personals bedürfen, eine stärkere Lohnspreizung daher kaum zu einer Ausweitung der Dienstleistungen, etwa im Gesundheits- und Ausbildungsbereich, führen würden (vgl. Bosch 1999). Weiterhin werden die hohen Kosten einer allgemeinen Subventionierung von Niedriglohntätigkeiten angeführt und Zweifel an den erwarteten Beschäftigungseffekten, zumal für die besonders von Arbeitslosigkeit betroffene Gruppe der Niedrigqualifizierten, erhoben (vgl. Schupp u. a. 1999 und Bender u. a. 1999). Schließlich gelten die Befürchtungen dem möglichen Missbrauch und Mitnahmeeffekten, die dazu beitragen könnten, Sozialstandards in einen Abwärtssog zu ziehen und das institutionelle System industrieller Beziehungen auszuhöhlen (vgl. Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen 1998, S. 135 ff. und Engelen-Kefer 1999, S. 1 ff.).

 

4.2 Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung

Während Konzeptionen zur Ausweitung des Niedriglohnsektors auf die Erschließung zusätzlicher Beschäftigungspotenziale setzen, zielen Strategien der Arbeitszeitverkürzung auf eine gleichmäßigere Verteilung eines gegebenen Erwerbsarbeitsvolumens, indem Beschäftigte ihren Arbeitsplatz zeitweise oder teilweise für Erwerbslose freimachen.

Es gibt inzwischen zahlreiche Ansätze der Arbeitsumverteilung auf betrieblicher, tariflicher und/ oder gesetzlicher Ebene, die im Gegensatz zu früher verfolgten Politiken der Arbeitszeitverkürzung nicht mehr einen (vollständigen) Einkommensausgleich vorsehen (vgl. Seifert 1998, S. 579 ff.). Dazu zählen: Regelungen, die Rechte auf Teilzeitbeschäftigung für bestimmte Beschäftigtengruppen (etwa Lehrer, Ältere) schaffen und dafür Neueinstellungen vorsehen; der Abbau von Überstunden; die Erweiterung von Freistellungen (Elternurlaub, Sabbaticals) mit befristeten Ersatzeinstellungen; schließlich auch betriebliche Bündnisse für Arbeit, welche eine befristete kollektive Arbeitszeitreduzierung ohne Lohnausgleich im Tausch gegen Beschäftigungsgarantien vorsehen (so etwa das VW-Modell). [/S. 20:]

Anders als in Fällen freiwilliger, optionaler Arbeitszeitverkürzung, welche die Interessenabwägung den einzelnen überlassen (wie Elternurlaub oder Sabbaticals, aber auch das Gros der Teilzeitbeschäftigung), dürften der kollektiven Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich enge Grenzen gesetzt sein. Es scheint kaum durchsetzbar, allgemeine, kollektive Verkürzungen dauerhaft akzeptabel zu machen, die weder nach besonderen Gruppen und ihren Zeit- und Einkommenspräferenzen differenzieren noch Spielräume für freiwillige Entscheidungen lassen. Schwierig ist dies insbesondere dort, wo Arbeitsumverteilung nicht so sehr auf die Stabilität der Beschäftigung im eigenen Betrieb, sondern allgemein auf die Verminderung von Arbeitslosigkeit zielt und somit "abstrakte Solidarität" mit den Erwerbslosen einfordert.

Aber auch die optionalen Formen der Arbeitszeitverkürzung sind mit Restriktionen befrachtet, die die Reichweite der Arbeitsumverteilung beschränken. Sie sind nämlich entweder mit Einbußen - vor allem bei den Ansprüchen an Einkommen und soziale Sicherung - verbunden oder belasten öffentliche Sozialkassen zugunsten bestimmter Gruppen (etwa Ältere); auch gibt es kaum Garantien dafür, dass frei gewordene Arbeitsplätze auch tatsächlich wieder neu besetzt und nicht zu Rationalisierungszwecken eingespart werden.

 

4.3 Vermittlung von Erwerbsarbeit mit anderen Tätigkeiten jenseits des Markts

Eine zentrale Rolle kommt der Arbeitszeitpolitik auch in Vorschlägen zu, welche nicht nur Räume für die Umverteilung der Erwerbsarbeit, sondern auch für eine bessere, flexiblere Abstimmung von Erwerbstätigkeit und nicht marktvermittelten Tätigkeiten wie Familien-, Eigen- und Gemeinwesenarbeit öffnen und so eine gleichmäßigere Verteilung der verschiedenen Tätigkeitsarten zwischen den Lebensphasen der Individuen sowie zwischen den Geschlechtern ermöglichen sollen. Strategien umfassen vor allem verschiedene Formen der Arbeitszeitverkürzung, sei es als dauerhafte oder phasenweise Reduzierung der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit, sei es als blockartige Freistellung wie Sabbaticals oder Elternurlaub.

Bislang ist die Abstimmung der Erwerbsarbeit auf die differenzierten Lebenslagen und -ansprüche problematisch, weil "optionale", spezifischen Interessen entsprechende Erwerbsformen - sofern sie überhaupt zugänglich sind - häufig nicht die individuelle Existenz sichern, meist auch mit erhöhten Risiken behaftet sind. Einen interessanten Vorschlag macht Günther Schmid mit der "Strategie flexibler Arbeitsmarktübergänge". Dabei geht es vor allem darum, bisher blockierte oder riskante Übergänge zwischen verschiedenen Erwerbsformen und Tätigkeitsbereichen durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zu erleichtern und sozial abzusichern: Übergänge zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, zwischen Bildung und Beschäftigung, zwischen Haushalts- und Erwerbstätigkeit, zwischen Erwerbstätigkeit und Rente, zwischen Kurz- und Vollzeitbeschäftigung. Dazu soll das vorhandene Instrumentarium der aktiven staatlichen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und der Tarifpolitik genutzt und ausgestaltet werden (vgl. Schmid 1994, S. 9-23). Die Strategie der Übergangsarbeitsmärkte zielt auf eine spürbare Verminderung der Arbeitslosigkeit, zugleich aber auch auf eine flexiblere, den differenzierten Lebenslagen und -interessen entsprechende Gestaltung des Erwerbssystems mit einer Vielzahl unterschiedlicher Formen, die aber in höherem Maße als "abweichende Erwerbsformen" im Regime des herkömmlichen Normalarbeitsverhältnisses sozial abgesichert sind.

Die hier nur skizzierten Konzeptionen und Strategien zeigen neue - teils komplementäre, teils alternative - Wege in der Arbeitsmarktpolitik auf. Bislang wenig ausgeschöpft sind die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Umverteilung von Erwerbsarbeit - zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen, zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung. Wenig entwickelt sind auch noch Politiken, die flexiblere Abstimmungen und Übergänge zwischen Erwerbsarbeit und anderen, nicht marktorganisierten Tätigkeitsbereichen fördern. Eine weitere gesellschaftliche Umverteilung von Erwerbsarbeit verlangt nicht nur materielle und soziale Anreize zur Reduzierung von Arbeitszeit oder zum phasenweisen Ausscheiden aus dem Erwerbsarbeitsmarkt zugunsten erwerbsloser Personen, sondern auch langfristige soziale Sicherungen und Garantien; es wird dies nicht ohne die Aufgabe herkömmlicher Prinzipien gehen, die Anrechte auf die soziale Sicherung an die Erwerbstätigkeit zu binden. In jedem Fall verlangen die neuen Wege einen Umbau des etablierten, am Normalarbeitsverhältnis orientierten institutionellen Regulierungssystems - so von Arbeits- und Sozialrecht und industriellen Beziehungen. Sie rühren stets auch an etablierte Ansprüche und Privilegien und erfordern daher neue gesellschaftliche Pakte und Konzessionen der korporativen Akteure.

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