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Beiträge 1980-1989

 

Bergmann, Klaus (1988): Gesellschaftslehre – aus der Sicht des Geschichtsunterrichts

Niemand wird es einem Geschichtsdidaktiker verdenken, wenn er auch historisch denkt, wenngleich seine eigentliche Betätigung das systematische Nachdenken über historisches Lernen und die Bildung von Geschichtsbewusstsein ist. Ich muss noch einmal zurück zur Ausgangsposition den kulturkampfähnlichen Auseinandersetzungen, die 1972 mit der ersten Vorlage der HRRL GL aufgebrochen sind. Wenige Begriffe haben damals die Gemüter der Gegner der RRL mehr bewegt und erregt als der des Gegenwartsbezuges der Geschichte.

Es ginge offenkundig darum, so die Gegner wörtlich, "die historische Bildung auf das Bereitstellen von Argumenten für gesellschaftliche Probleme der Gegenwart einzuschränken". Dies entspreche – so wörtlich – "totalitärem Denken". Um so mehr müsse – so wörtlich – "darauf hingewiesen werden, dass es eine typische Methode politischer Diktatursysteme ist, die Geschichtsbetrachtung auf das Herauspräparieren von historischen Belegstücken zu beschränken, die zur Untermauerung der eigenen Legende oder Weltanschauung dienen" (1).

Geschichte werde dadurch – so wörtlich – "zum Belegmaterial für Gegenwartsbezüge denaturiert" (2).

Oder die Geschichte – so wörtlich – "wird ebenso wie die Geographie zu einem Steinbruch der politischen Argumentation, aus dem man sich je nach Bedarf Belege für die eigene Gegenwartsdeutung holt" (3).

Es steht zu erwarten, besser: zu hoffen, dass die Verfasser solcher Vorwürfe heute anders über diesen zentralen Begriff der Geschichtstheorie und der Geschichtsdidaktik denken. An diesem Begriff kommt niemand, der über Geschichtsunterricht und über den Beitrag des Geschichtsunterrichts zur historisch politischen Bildung nachdenkt, vorbei. Und es kommt nach der intensiven erkenntnistheoretischen und geschichtsdidaktischen Diskussion, die in den letzten Jahren geführt worden ist, niemand daran vorbei, differenzierter die in diesem Begriff enthaltenen Implikationen und Konsequenzen zu sehen und zu beurteilen, als das 1972 und in den folgenden Jahren zum Zwecke politischer Argumentation und Agitation geschehen ist.

Ich stelle diesen Begriff, diese geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Kategorie in den Mittelpunkt meiner Überlegungen. Sie ist der Schlüsselbegriff, der eine geschichtsdidaktische Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit der Selbständigkeit der Fächer mit der Forderung nach fächerübergreifendem Unterricht allererst ermöglicht.

  1. Ich werde diese Kategorie in einem ersten Teil aus geschichtstheoretischer Sicht besprechen. Geschichtstheorie ist diejenige Disziplin der Geschichtswissenschaft, die nach den Grundlagen, Voraussetzungen, Möglichkeiten historischer Erkenntnis fragt.
  2. In einem zweiten Teil werde ich die Kategorie Gegenwartsbezug aus der Sicht der Geschichtsdidaktik befragen. Geschichtsdidaktik ist diejenige Disziplin, die nach den Grundlagen, Voraussetzungen und Möglichkeiten von Bildungs und Selbstbildungsprozessen an und durch Geschichte fragt und sich der Frage nach der Bildung von Geschichtsbewusstsein widmet.
  3. Im dritten Teil werde ich mich der Frage zuwenden, welche Konsequenzen sich aus den Bestimmungen der geschichtstheoretischen und der geschichtsdidaktischen Kategorie für die historisch politische Bildung ergeben, um schließlich im
  4. vierten Teil Fragen zu stellen, die auf eine Zusammenarbeit der an historisch politischer Bildung beteiligten Fächer gerichtet sind.
 

1. Gegenwartsbezug aus geschichtstheoretischer Sicht

Geschichte ist gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden. Oder vielleicht deutlicher: Geschichte ist je und je gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden. Die Erforschung und Reflexion des Geschehenen erfolgen unter dem Einfluss von Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen, ja Zukunftshoffnungen. Der italienische Geschichtstheoretiker Benedetto Croce hat diesen unauflöslichen Zusammenhang wie folgt ausgedrückt: "Das praktische Bedürfnis, auf das sich jedes geschichtliche Urteil gründet, verleiht der Geschichte die Eigenschaft, "zeitgenössische Geschichte" zu sein, weil sie in Wirklichkeit – wie fern auch chronologisch die Tatsachen in der tiefsten Vergangenheit ruhen mögen – immer auf ein gegenwärtiges Bedürfnis, eine gegenwärtige Lage bezogen ist." (4)

Jakob Burckhardt hat den Zusammenhang auf die knappe Formel gebracht: "Unser Gegenstand ist diejenige Vergangenheit, welche deutlich mit Gegenwart und Zukunft zusammenhängt." (5) Ich füge erläuternd hinzu: Dieser Zusammenhang besteht nicht einfach in einem Ursachenzusammenhang.

Geschichtstheoretisch ist es schlechthin unbestreitbar, dass Geschichte als Rekonstruktion vergangenen menschlichen Handelns und Leidens erst entsteht, wenn ein gegenwärtiges zukunftsgerichtetes Interesse und Bedürfnis an Orientierung und Information vorliegt, das auf eine an erfolgversprechende Regeln gebundene Erinnerung drängt. Die wissenschaftliche Geschichte ist von solchen praktischen Interessen abhängig. Sie fallen ihr aus der sozialen Lebenswelt zu. Sie bedingen auch, dass Geschichte im Fortgang der Realgeschichte immer wieder umgeschrieben wird und werden muss.

"Dass die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übriggeblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden ist, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen lässt." (6) – So trotz des fatalen Sprachgebrauchs "Genosse" Johann Wolfgang von Goethe.

Geschichte, die aus praktischen, im Fortgang der Realgeschichte wechselnden Bedürfnissen immer neu geschrieben wird, hat für die Gesellschaft, in der sie entsteht, eine praktische Bedeutung. Ihre Ergebnisse können nicht ohne Schaden für vernunftgeleitetes Handeln übersehen und übergangen werden.

Dass Geschichte als Historie, als wissenschaftliche Geschichte gegenwärtiges, je und je gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden ist, ein Nachdenken, das unter dem Einfluss von Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen erfolgt, ist geschichtstheoretisch unstrittig, muss aber noch etwas genauer erläutert werden.

Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen durchdringen sich wechselseitig. Unsere Gegenwartserfahrungen werden durch Traditionen, die uns lebensgeschichtlich erreichen und prägen, mitbestimmt und durch Zukunftshoffnungen beurteilbar. Unsere Traditionen werden durch Gegenwartserfahrungen im Lichte von Gegenwartserfahrungen stets neu bedacht und auf uns bezogen, werden durch Zukunftshoffnungen kritisch gewürdigt, bestätigt oder neu erschlossen und neu sortiert; und unsere Zukunftserwartungen werden durch Traditionen, auf die wir uns beziehen, z.B. demokratische Traditionen, wie sie einmal Gustav Heinemann eingeklagt hat bestärkt, oder durch Traditionen, auf die andere sich beziehen, in Frage gestellt, durch Gegenwartserfahrungen enttäuscht oder als sinnvoll, vielleicht gar notwendig bestätigt.

So unterschiedliche, unterscheidbare zeitliche Dimensionen damit auch angesprochen sind, sie haben doch wieder gemeinsam, dass sie auf einer einzigen zeitlichen Ebene auftauchen und wirken: Traditionen, Gegenwartserfahrungen, Zukunftshoffnungen sind je und je Gegenwartsphänomene, die in die Orientierung und den Vollzug gesellschaftlichen Handelns in der Gegenwart eingehen und darin wirksam werden.

Sie entfalten ihre bestimmende Kraft, wenn wir in unserer Zeit – also der sogenannten Gegenwart – als Gesellschaft vor Problemen stehen. Probleme werden hier verstanden als Herausforderungen einer Gesellschaft, die innerhalb der Gesellschaft übereinstimmend gesehen, aber divergierend beurteilt werden.

Probleme werden zugleich verstanden als Herausforderungen der Gesellschaft, die wesentliche Momente des gesellschaftlichen Lebens betreffen, sie gefährden, bedrohen, in Frage stellen – nicht also bloß intime und private, bloß aktuelle (Reisepassverlängerung) und technisch oder administrative. Ich nenne ohne jede Vollständigkeit – ein brain storming unter uns würde eine Fülle weiterer Probleme ergeben:

  • Umwelt
  • Fortschritt (Technikfolgenabschätzung)
  • Frieden und Abrüstung
  • Arbeit
  • Frauenbenachteiligung und -unterdrückung
  • Dritte Welt
  • Aids
  • Demokratie in Anspruch und Wirklichkeit.

Gesellschaftliche Probleme sind gesellschaftliche Orientierungsschwierigkeiten. Dass sie übereinstimmend gesehen werden (oder vielleicht auch nur empfunden werden), ändert nichts daran, dass sie unterschiedlich beurteilt werden, und dass unterschiedliche Wege zur Lösung empfohlen werden, hängt mit gesellschaftlichen Interessengegensätzen zusammen: Unterschiedliche gesellschaftliche Standorte bedingen unterschiedliche gesellschaftliche, ökonomische, politische, kulturelle Interessen, die zugleich mit bestimmten Wertorientierungen verknüpft sind.

Gesellschaftliche Probleme verlangen oder rufen hervor: unterschiedliche Arten der Betrachtung, des Nachdenkens, der Analyse – und unter diesen eben die historische Betrachtungsweise.

Die Geschichtswissenschaft wendet sich in den Personen einzelner Geschichtswissenschaftler diesen gegenwärtigen Problemen zu – und zwar auf ihre spezifische Weise, mit der ihr als Wissenschaft eigentümlichen methodischen Rationalität der historischen Erkenntnis. Sie macht die gegenwärtigen Probleme zu ihrem Denkobjekt, das sie more historico, nach Art der Geschichte angeht. Sie ist als Fachwissenschaft eine objektiv mögliche und übliche Weise, die Wirklichkeit denkend zu betrachten, zu ordnen, zu begreifen und – aber erst sekundär – in Form je und je gegenwärtigen historischen Wissens das Ergebnis dieser Betrachtung. Sie ist eine Weise des Denkens, die bestimmte, von anderen Wissenschaften unterschiedene Fragestellungen, Aussageabsichten und Kategorien und Methoden erarbeitet hat und anwendet, Fragestellungen, Aussageabsichten, Kategorien und Methoden, die systematisch verfeinert worden sind, sich als ertragreich erwiesen haben und den Geltungsanspruch historischer Aussagen und Urteile begründen.

Die Geschichtswissenschaft produziert dabei Erkenntnisse über vergangenes menschliches Handeln und Leiden, geht aber nicht in den Wissensbeständen auf, die sie akkumuliert. Sie ist Denken über die erkennbare menschliche (und unmenschliche) Vergangenheit, das durch die Auskunftsbedürftigkeit der Gegenwart ausgelöst wird.

Diese Aussagen lassen sich an der Entwicklung der Geschichtswissenschaft, der empirischen Geschichtsforschung trefflich verfolgen, insbesondere an der sogenannten Historischen Sozialwissenschaft:

In unserer Zeit entwickelt sich die Geschichtswissenschaft zu einer problemorientierten, an gegenwärtigen Problemen orientierten, und zwar absichtsvoll orientierten und sich als solche ausweisenden Historischen Sozialwissenschaft oder – ein anderer Begriff – Gesellschaftsgeschichte. Diese Gesellschaftsgeschichte weist eine spezifische Option auf Vernunft auf. Sie versteht die ihr eigene Vernunft – die sogenannte Historische Vernunft – in zweifacher Hinsicht, und sie ist damit theoriebewusster, gesellschaftsbewusster, politikbewusster, als sie es je in der Geschichte der Geschichtswissenschaft in Deutschland war:

  1. Historische Vernunft als formale Bestimmung der methodischen Rationalität, die den Forschungen der Historie zugrundeliegt und den Geltungsanspruch ihrer Aussagen begründet.
  2. Historische Vernunft zeigt sich überall dort als inhaltliche Bestimmung, wo das historische Denken daraufgerichtet ist, historische Prozesse und Vorgänge der Humanisierung (und ihres Scheiterns) zu erinnern, zu vergegenwärtigen und wachzuhalten. Gesellschaftsgeschichte ist nach den Worten Hans Ulrich Wehlers "Erforschung der erkennbaren menschlichen und unmenschlichen Vergangenheit unter der leitenden Hinsicht eines Interesses an emanzipatorischen Entwicklungsprozessen, an der Durchleuchtung der Widerstände gegen sie und an der Vermehrung ihrer Durchsetzungschancen" (Wehler). (7)
 

2. Geschichtsdidaktik und Gegenwartsbezug

Das praktische Interesse, das die Geschichtswissenschaft anleitet, gegenwärtige Probleme und damit verbundene Orientierungsbedürfnisse auf ihre Weise anzugehen, berechtigt sie dazu, verpflichtet sie dazu, ihre Forschungsergebnisse als ihre Antwort auf die Orientierungsbedürfnisse dorthin zu vermitteln, wo sie entstanden sind: in die Lebenswelt, in die Lebenspraxis der Gesellschaft.

Die Geschichtsdidaktik ist die Disziplin, die darüber nachdenkt, wie Geschichte Geschichte als Denkform und Geschichte in Form von lebensweltlich, gesellschaftlich angeregten Forschungsleistungen – in die Lebenswelt zurückvermittelt werden kann. Das "Wie" ist dabei auf den ersten Blick missverständlich. Sie fragt nach der "Orientierungsrelevanz" des Faches als Denkform; sie fragt nach der Orientierungsrelevanz historischer Forschungsergebnisse in einer Gegenwart, die von den Problemen geprägt ist, der die Geschichtswissenschaft ihre Fragen an die erkennbare menschliche (und unmenschliche) Vergangenheit entnimmt.

Die Geschichtsdidaktik fragt also – ich zitiere W. Hilligen – nach dem "Bedeutsam-Allgemeinen" der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft von Schülerinnen und Schülern: Sie ist nicht "Abbilddidaktik". Sie befragt die selber von Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen ausgehende Geschichtswissenschaft daraufhin,

  1. welchen Beitrag sie durch ihre Forschungsleistungen zur Aufklärung gegenwärtiger und voraussichtlich zukünftiger Probleme leisten kann und
  2. inwieweit Geschichte als eine bestimmte Denkform Schülerinnen und Schüler befähigen kann, Gegenwartsprobleme more histerico anzugehen.

Da Schule, Unterricht, Schulfächer – und vor allem andern die an politischer Bildung im engeren Sinne beteiligten Schulfächer – auf vernünftige Orientierung in der Gesellschaft und auf vernünftiges gesellschaftliches Handeln vorbereiten sollen, sollen Schüler nach gesellschaftlicher Übereinkunft in ihnen lernen, Probleme der gesellschaftlichen Praxis vernünftig anzugehen. Dazu gehört nicht nur die Fähigkeit, bereits seit langem existierende, strukturelle gesellschaftliche Probleme also Probleme, deren Problemhaltigkeit seit langem bekannt ist zu kennen und Lösungsmöglichkeiten kennenzulernen und zu kennen.

Dazu gehört vielmehr auch, mit neu auftauchenden Problemen umgehen zu lernen, also Verfahren zu lernen, erprobte, bewährte, im historischen Lernprozess der Gattung als unverzichtbar erkannte Fragestellungen und zugehörige Denkmethoden zu erlernen, die einen vernünftigen Umgang mit Problemen und gerade auch mit neu (oder wieder neu) auftauchenden Problemen ermöglichen.

 

3. Folgerungen

Die Gegenwartsbezogenheit (und Zukunftsbezogenheit) historischen und geschichtsdidaktischen Denkens – so lässt sich zusammenfassen – kann nicht als wissenschaftsfremdes und illegitim politisches Element aufgefasst werden, schon gar nicht als Ausfluss "totalitären Denkens": Sie folgt aus der inneren Logik der historischen Erkenntnis und des geschichtsdidaktischen Denkens.

Die Gegenwartsbezogenheit (und Zukunftsbezogenheit) äußert sich in konkreten Gegenwartsbezügen. Und damit kommen wir zu einem eminent wichtigen Befund, zu einem Befund, der nun einmal in jede Lehrplanplanung eingehen muss, will sie denn den Anspruch haben, zeitgemäss wissenschaftlich begründet zu sein. Es geht in der historisch-politischen Bildung politische Bildung ist keine politische Bildung, wenn sie nicht als historisch politische Bildung angelegt ist – primär immer um gegenwärtige, im weitesten Sinne ethisch politische Probleme. Im Geschichtsunterricht wird danach gefragt, wie historisches Denken im Sinne eines Ensembles von Frageweisen, Denkweisen und Ergebnissen dazu beitragen kann, gegenwärtige Probleme so vernünftig zu betrachten und betrachten zu lernen, dass daraus eine nach Maßgabe des Möglichen vernünftige Praxis sich ergibt.

Der Clou für die historisch politische Bildung besteht eben darin, dass der Geschichtsunterricht von den gleichen gegenwärtigen Problemen ausgeht oder zumindest prinzipiell ausgehen kann, die auch den Politikunterricht bestimmen. Die Gemeinsamkeit der Probleme begründet die Idee des fächerübergreifenden Unterrichts: Bei diesem Unterricht bringen die an historisch politischer Bildung beteiligten Fächer ihre je eigenen Frageweisen, Denkweisen und Kategorien ein, um das ihnen gemeinsame Problem zu betrachten, zu bedenken. Und sie kommen aus ihrer Sicht zu Ergebnissen, die dabei helfen, dass gemeinsame Problem differenzierter – aus der Sicht der Geschichtsdidaktik: erfahrungsgesättigter und mit empirisch erworbener historischer Phantasie und Alternativität – zu betrachten.

Bezogen auf den Geschichtsunterricht heißt das mitnichten, dass dabei aus der Geschichte Belegmaterial für vorgefasste Meinungen herangezogen wird – wie das die Gegner der Rahmenrichtlinien beschworen haben. Der Geschichtsunterricht ist auf die methodische Rationalität der Geschichtswissenschaft festgelegt. Er kann das gegenwärtige Problem nur dann historisch vernünftig angehen, wenn die Frage an die erkennbare menschliche und unmenschliche Vergangenheit für alle Antworten offen ist.

Einer solchen Orientierung der Geschichtsdidaktik an der Gegenwartsbezogenheit steht die traditionelle Darstellungsform des Geschichtsunterrichts – der sogenannte chronologische Durchgang – mit traditionellen Unterrichtsinhalten, dem sogenannte Kanon (Kanon ist übrigens Bildung durch Auslassung!), scheinbar entgegen. Ich spreche hier gegen die absolute Dominanz der Chronologisierung der Geschichte. Sie macht den im Diskurs der Historiker praktisch wirksamen und in ihre Forschungsleistungen je und je eingebrachten und deutlich beobachtbaren Gegenwartsbezug in der Regel fast unerkennbar. Sie widerspricht weiterhin in eklatanter Weise den Interessen, die Schülerinnen und Schüler an Geschichte haben. Und diese Interessen sind nicht gering zu schätzen, nicht so sehr, weil die Schüler ungeheuren Frustrationserfahrungen ausgesetzt sind, sondern vor allem deshalb, weil die absolute Dominanz des chronologischen Durchgangs langfristig demotiviert und gerade das verhindert, ja vernichtet, was Geschichtsunterricht anstrebt: Interesse am historischen Denken und an der Bildung eines vernünftigen, reflektierten Geschichtsbewusstseins. Ich spreche also zwar gegen die klassische Darstellungsform von Geschichte, nicht aber gegen alle traditionellen Unterrichtsinhalte. Sie bilden ein wichtiges kommunikatives Element in unserer Gesellschaft, die nur um den Preis des Kommunikationsabbruches zwischen den Generationen aus dem Geschichtsunterricht ausgeblendet werden könnten. Diese Themen haben aber ihren Wert nicht an sich, sondern nur für uns. Sie sind aus keinem anderen Grund klassische Themen des Geschichtsunterrichts, weil sie in jeder Gegenwart, aus jeder Gegenwart neu betrachtet und mit Gewinn für diese Gegenwart neu befragt werden können, immer neu im doppelten Sinne fragwürdig.

Ich spreche entschieden für die Erkennbarkeit des Gegenwartsbezugs im Geschichtsunterricht und spreche damit zugleich entschieden gegen den objektivistischen Trugschluss, die Geschichte sei einfach die Summe aller vergangenen Handlungen, ihrer Voraussetzungen, Bedingungen, Absichten und Folgen, die rein für sich, also unabhängig von den Absichten gegenwärtigen Handelns ("wertfrei"), erforscht und dargestellt werden könnten.

 

4. Fragen

Aus den bisherigen Überlegungen können sich einige Fragen ergeben:

Aus welchem Grunde sollte es unmöglich oder nicht sinnvoll sein, die an politischer Bildung beteiligten Fächer zu der Benennung gemeinsam interessierender gesellschaftlicher Herausforderungen zusammenwirken zu lassen? Aus welchem Grunde sollte es unmöglich sein, Fächer darauf zu verpflichten, die ihnen gemeinsamen Probleme auf ihre je eigene Art anzugehen und an ihnen ihre Eigenständigkeit voll zur Geltung zu bringen – ihre Eigenständigkeit, die darin besteht, dass sie ihre fachspezifischen Errungenschaften einsetzen, um sozialkundliche, geographische und historische Antworten auf das gemeinsame Problem zu geben?

Warum sollte es nicht möglich sein, Lehrpläne so zu konzipieren, dass Zeit und Raum bleibt, um die Kooperation zu ermöglichen und die Fächer nicht völlig isoliert voneinander arbeiten zu lassen?

Warum sollte es nicht möglich sein, die traditionellen Bildungsinhalte im Lehrplan so zu streuen, dass sie allesamt zwar "durchgenommen" werden müssen, ohne doch in der traditionellen Darstellungsform des chronologischen Durchgangs behandelt werden zu müssen?

Warum sollte es nicht möglich sein, die lebensweltlich entstandenen und aufbrechenden Interessen der Schüler an Geschichte und an bestimmten Inhalten des Geschichtsunterrichts variabel zu befriedigen, d.h. dann, wenn sie aufbrechen? Warum sollte es nicht möglich sein, das auch bei Schülerinnen und Schülern wirkende Ensemble von Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen, das allererst zur Auseinandersetzung mit vergangenem menschlichen Handeln und Leiden reizt, durch entsprechende Konzeption des Lehrplans und Hinweise auf organisatorische Möglichkeiten zu berücksichtigen? Die Zeitgenossenschaft von Schülerinnen und Schülern, aus der das Interesse an Geschichte als einer bestimmten Frage und Denkweise resultiert, ist eine generationsspezifisch wache Zeitgenossenschaft, die zu ertragreichen, spannenden Anfragen an die Geschichte führt und – wenn es befriedigt wird – das Interesse an Geschichte nicht abtötet.

Die Folgerungen können m. E. nur lauten für die Fächer bzw. Fachvertreter – ich sage damit nichts Neues (8):

  1. Kooperation, unbedingte Kooperation bei der Benennung gemeinsam interessierender gesellschaftlicher Herausforderungen; Kooperation heißt dabei Kooperation der Fachvertreter von Sozialkunde, Geographie und Geschichte. Kooperation heißt Suche nach gemeinsam interessierenden, für Gegenwart und voraussehbare Zukunft bedeutenden, gesellschaftlichen Herausforderungen.
  2. Eigenständigkeit, unbedingte Eigenständigkeit in der Vermittlung der je facheigenen Fragestellungen, Kategorien und Denkmethoden, die eine – ich betone: eine – je eine Zugangsmöglichkeit zum betreffenden Problem darstellen.
  3. 3. Die Integration der dabei innerhalb der einzelnen Fächer erbrachten, erarbeiteten Ergebnisse zu einer vernünftigen, vielseitigen Problemwahrnehmung und Handlungsperspektive ist das Resultat von Kooperation und Eigenständigkeit.

Kooperation, Eigenständigkeit, Integration sind Phasen der Planung und Durchführung von Unterricht. Es geht dabei nicht nur um die Ergebnisse. Wichtig ist vor allem, dass die verschiedenen Zugangsmöglichkeiten, die durch die verschiedenen Fächer repräsentiert werden, eingeübt werden, und dass die Integration der fachspezifischen Ergebnisse erkennbar durch die Fachvertreter hilfreich angeleitet wird. Mündigkeit kann nur heißen, dass die Schülerinnen und Schüler in einem durch die Fachvertreter angeleiteten Prozess lernen, die Frage und Denkweisen der Fächer und ihre Ergebnisse anzuwenden.

Gesellschaftslehre als Lernbereich war und ist kein "Flop", sondern ein zukunftsweisender Ansatz. Denn sie fordert nur, was wissenschaftlich allenthalben zu beobachten ist: gemeinsame Problemwahrnehmung und Problembenennung, Konstituierung von entsprechenden Forschungsbereichen – Ökologie, Friedensforschung, Frauenforschung z.B. –, die mit den Frage und Denkweisen der traditionellen Fächer angegangen, bearbeitet werden und in den Fächern zu Ergebnissen führen, die zu einer differenzierten Einschätzung des Problems führen und zu einem Zusammenhangwissen. Ökologie, Friedensforschung, Frauenforschung z.B. sind dabei keine Fächer, sondern Forschungsbereiche, die durch Fächer bearbeitet werden, die etwas zu fragen und zu sagen haben und deren Ergebnisse zu einer differenzierten Sicht integriert werden.

Im übrigen ist unmittelbar einsichtig, dass neue Inhalte des Geschichtsunterrichts – so z.B. die politische Argumentation mit historischen Sachverhalten und Erfahrungen ("Geschichte als politisches Argument") oder die Werbung mit Geschichte ("historisierende Werbung") – in einem fächerverbundenen Unterricht besser zu besprechen sind als in einem traditionellen Fachunterricht.

 

5. Abschließende Bemerkungen

Wenn Fächerautonomie heißen sollte, dass die an historisch politischer Bildung beteiligten Fächer – statt selbst zu bestimmen, wie es ja im Wort steckt, dazu bestimmt werden, unabhängig voneinander, isoliert nebeneinander, nicht durch das Interesse an gemeinsamen gegenwärtigen Problemen miteinander verbunden, ihre traditionellen didaktischen Darstellungsformen – im Geschichtsunterricht der chronologische Durchgang – zu verwenden und dann vielleicht auch noch vorrangig auf eine krude nationale Identität abzuheben, dann wäre dies gegenüber dem Erkenntnisstand von Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik eine denkgeschichtliche Regression.

Das muss auch deshalb in dieser Schärfe gesagt werden, weil es zu Lasten von Schülerinnen und Schülern geht, die in der Geschichtsdidaktik wie in anderen Fachdidaktiken auch als anspruchsberechtigte Subjekte gesehen werden – als Subjekte, die zum Anspruch berechtigt sind, in der Schule nach Maßgabe des der Schule Möglichen zu Selbstbestimmung fähig zu werden, selber denken zu lernen, wie gesellschaftliche Herausforderungen vielfältig analysiert werden müssen, um die Ergebnisse der Analyse zu einem Zusammenhangwissen zu integrieren, das ein vernünftiges Handeln anleitet.

 

Anmerkungen

(1) Broschüre der CDU Hessen 1973: "Marx statt Rechtschreibung", abgedruckt in: Bergmann, Klaus; Pandel, Hans-Jürgen. Geschichte und Zukunft, Frankfurt/M. 1975, S. 187

(2) CDU Abgeordneter Sälzer im Landtag 29.03.1973, abgedruckt in: Bergmann/Pandel, a.a.O., S. 189

(3) Hartmut Müller Kinet 1973, abgedruckt in: Bergmann/Pandel, a.a.O., S. 269

(4) Benedetto Croce, Die Geschichte als Gedanke und als Tat, Bonn 1944, S. 41

(5) Jakob Burckhardt, Historische Fragmente, hg. von E. Dürr, Stuttgart 1957, S. 1

(6) Johann Wolfgang von Goethe, Erfahrung der Geschichte. Historisches Denken und Geschichtsschreibung in einer Auswahl, hrsg. von Horst Günther, Frankfurt/M. 1982, S. 208

(7) Hans Ulrich Wehler, zitiert nach: Christian Meier, Klio als Klatschbase, in: Kursbuch 91: Wozu Geisteswissenschaften?, März 1988, S. 54

(8) Vgl. dazu H. J. Pandel, Integration durch Eigenständigkeit?, in: Rolf Schörken (Hrsg.), Zur Zusammenarbeit von Geschichts und Politikunterricht, Stuttgart 1978. S. 346 ff.

 

Literatur

Broschüre der CDU Hessen (1973): "Marx statt Rechtschreibung", abgedruckt in: Bergmann, Klaus; Pandel, Hans Jürgen. Geschichte und Zukunft, Frankfurt/M.

Burckhardt, Jakob (1957): Historische Fragmente. Hg. von E. Dürr, Stuttgart.

CDU Abgeordneter Sälzer im Landtag 29.03.1973 (1973): abgedruckt in: Bergmann, Klaus; Pandel, Hans-Jürgen. Geschichte und Zukunft, Frankfurt/M.

Croce, Benedetto (1944): Die Geschichte als Gedanke und als Tat. Bonn.

Müller Kinet, Hartmut (1973): abgedruckt in: Bergmann, Klaus; Pandel, Hans-Jürgen. Geschichte und Zukunft, Frankfurt/M.

Goethe, Johann Wolfgang von (1982): Erfahrung der Geschichte. Historisches Denken und Geschichtsschreibung in einer Auswahl. Hg. Von Günther, Horst, Frankfurt/M.

Pandel, Hans-Jürgen [1] (1978): Integration durch Eigenständigkeit? In: Schörken, Rolf. Hg. Zur Zusammenarbeit von Geschichts und Politikunterricht. Stuttgart. [2]

Wehler, Hans Ulrich, zitiert nach: Meier, Christian (1988): Klio als Klatschbase. In: Kursbuch 91: Wozu Geisteswissenschaften?

 

Bergmann, Klaus (1988): Zeitgeschichte in der politischen Bildung

 

1. Geschichte und Zeitgeschichte

Geschichte als Historie ist gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden. Erforschung und Reflexion des Geschehenen erfolgen unter dem Einfluss von Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen. So ist alle Geschichte Zeit Geschichte. Und so ist Geschichte als gegenwarts und zukunftsbezogene Auseinandersetzung mit der erkennbaren menschlichen und unmenschlichen Vergangenheit unabdingbarer Bestandteil aller politischen Bildung. Im engeren, gebräuchlichen und hier gemeinten Sinn ist Zeitgeschichte eine Bezeichnung für die jüngste Vergangenheit und zugleich für die mit ihr befasste Disziplin der Geschichtswissenschaft. Die Zeitgeschichte ist nicht allgemein datierbar. Als "die Geschichte der Zeit dessen, auf den das Wort bezogen ist" (Jäckel 1975, 71), ist sie nur in Hinsicht auf den oder die Betrachtenden zeitlich je und je ungefähr begrenzbar. Sie ist immer das zur Lebensgeschichte des erkennenden Subjekts zeitgleich verlaufende Geschehene und doch auch mehr: Sie umgreift zudem jene nicht selber erlebte Geschichte, die im Gespräch mit Zeitgenossen (oral history) vergegenwärtigt werden kann.

Die Zeitgeschichte macht den der Geschichte eigenen Bezug auf die Lebenspraxis in besonderer, oft unvermittelter Weise erkennbar. Es ist ein wesentliches Merkmal der jüngsten Vergangenheit, dass ihre materiellen und ideologischen Grundlagen, ihre herrschaftlichen Verhältnisse und mentalen Strukturen jenem Handlungsrahmen unmittelbar ähnlich sind, der gegenwärtigem und voraussehbar zukünftigem Handeln vorgegeben ist. Die Besonderheit der Zeitgeschichte kann auch für das moralische Interesse der wissenschaftlichen Zeitgeschichte stehen das Interesse, die in der jüngsten Vergangenheit offenbar gewordenen Gefährdungen der Menschlichkeit und Möglichkeiten der Unmenschlichkeit (totaler Staat, totaler Krieg, Holocaust, technische Möglichkeiten der Beeinflussung, Beherrschung, Unterdrückung und Vernichtung), ja endlich der Vernichtung der Menschheit (Hiroshima, atomares Wettrüsten, ökologische Katastrophen) in ihren Voraussetzungen und Bedingungen zu erkennen und bekämpfen zu helfen. [/S. 550:]

Die Geschichtswissenschaft kann der Eigentümlichkeit, dass die jüngste Vergangenheit der Gegenwart in ihren Strukturen ähnlicher ist als frühere Vergangenheiten, besser gerecht werden, seit sie sich von einer vordergründigen politischen Ereignisgeschichte abgewandt und das Konzept einer "Historischen Sozialwissenschaft" oder "Gesellschaftsgeschichte" entworfen hat. Ein wesentlicher Teil der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zum "moralischen Beruf" der Historie und zu Geschichte als einer kritischen Gesellschaftswissenschaft, die in ihrem wissenschaftlichen Bemühen um die Vergangenheit von "konkreter Utopie", von der "Hoffnung auf eine grundlegende Verbesserung der menschlichen Existenz"(Wehler im Anschluss an Horkheimer) angeleitet wird. Eine kritische historische Gesellschaftswissenschaft, die sich Marx näher als Ranke weiß, eröffnet den Blick auf grundlegende Herrschaftszusammenhänge und ideologische Strukturen der Zeitgeschichte, die der traditionellen Historie verschlossen waren, und schärft den Blick für die historisch je und je unnötige Kluft zwischen Möglichem und Wirklichem.

Didaktisch nicht weniger bedeutsam ist die gerade bei der Erforschung der jüngsten Vergangenheit beobachtbare Zuwendung zur "Alltagsgeschichte" (Bergmann/Thurn 1985). Alltagsgeschichte ist an einer Historie interessiert, in der die historisch gleichsam stummen Gruppen etwa Frauen, Arbeiter, Angehörige von Unterschichten ihre historische Sprache finden und zu Wort kommen; sie zielt zugleich darauf, dass diese Gruppen sich die ihnen nicht bewusste, ihnen enteignete oder verlustig gegangene eigene Geschichte selber aneignen können, indem sie befähigt werden, ihren historischen Verstand eigenständigen gebrauchen und vorgesetzten Geschichtsdarstellungen kritisch zu begegnen. Die bevorzugt angewandte Methode ist für den Bereich der Zeitgeschichte das Verfahren der oral history, der mündlichen Befragung von Zeitgenossen in zwanglosen Gesprächssituationen, die für beide beteiligten Seiten als Lernsituationen gedacht sind.

Wenn es der Alltagsgeschichte gelingt, ihre Kenntnisse und Erkenntnisse darüber, wie Menschen unserer Zeit Geschichte erfahren, erlitten und wahrgenommen haben, mit der Gesellschaftsgeschichte und ihren Kenntnissen und Erkenntnissen darüber, welche Faktoren struktureller Art sich gleichsam hinter dem Rücken und gegen die Absichten der Menschen durchgesetzt haben, zu vermitteln, werden wichtige Lernprozesse möglich: Die Spannung zwischen dem, was Historiker über die bedingenden Strukturen und das Gesetz der unbeabsichtigten Wirkungen wissen, und dem, wie nach Einsicht der Alltagshistorie die Menschen die Strukturen und die aus ihnen hervorgehenden politischen Vorgänge erlebt, gesehen, wahrgenommen und auf sie handelnd einzuwirken versucht haben, fordert Fragen und Nachdenken heraus und fördert Einsichten in politisches Handeln.

 

2. Zeitgeschichte in der politischen Bildung

Es geht in der politischen Bildung primär um gegenwärtige Probleme, denen eine dauerhafte, nicht bloß aktuelle gesellschaftliche Bedeutung zugesprochen werden kann. Es geht auch im Geschichtsunterricht primär immer um gegenwärtige, im weitesten Sinne politische Probleme; es wird gefragt, wie historisches Denken dazu beitragen kann, gegenwärtige Probleme so zu betrachten, dass daraus eine vernünftig begründbare politische Praxis folgt. Der Geschichtsunterricht, der den Unterricht in Zeitgeschichte einschließt, geht dabei von den gleichen [/S. 551:] gegenwärtigen Problemen aus, die auch den Politikunterricht bestimmen. Die Gemeinsamkeit der Probleme begründet die Idee des kooperativen Unterrichts: Bei diesem Unterricht bringen die an politischer Bildung beteiligten Fächer ihre je eigenen Denkweisen ein, um das ihnen gemeinsame Problem mit unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden zu betrachten. Die Rolle der Zeitgeschichte hängt davon ab, ob sie innerhalb des kooperativen Unterrichts dem Politik , Geographie oder einem anderen Fachunterricht Dienstleistungen erbringt oder ob sie innerhalb des Geschichtsunterrichts die eigene Denkweise zur Geltung kommen lässt.

 

2.1 Zeitgeschichte als Dienstleistung

Im Rahmen des Politikunterrichts oder eines anderen Fachunterrichts wird Zeitgeschichte oft benutzt, um den Lernenden Sachinformationen über die historische Gewordenheit des gegenwärtig anstehenden Problems zu vermitteln. Die Kenntnis dieser in den Lernprozess gleichsam von außen eingegebenen Informationen über die historischen Ursachen und Prägungen ist für ein der Problemlage angemessenes politisches Bewusstsein und Handeln unabdingbar. In diesem Sinne stellt die Zeitgeschichte Wissen über Daten, Fakten, Personen, Institutionen oder Zusammenhänge bereit, das im Politikunterricht oder im Unterricht anderer Fächer gebraucht wird und abgerufen werden kann.

Darüber hinaus liefert die Zeitgeschichte historische "Fälle", auf die bei der Besprechung politologischer, ökonomischer oder soziologischer Systembegriffe und struktureller Regelmäßigkeiten unserer Zeit beispielhaft oder ergänzend verwiesen werden kann. Auch dies ist ein Beitrag, zu dem die Zeitgeschichte für Zwecke politischer Bildung innerhalb des Unterrichts anderer Fächer herangezogen werden kann. Er erfordert in diesen Fällen keinen eigenständigen Zeitgeschichte Unterricht, da er in der Vermittlung oder Benutzung eines isolierten und nicht selbständig ermittelten Wissens sich erschöpft.

 

2.2 Zeitgeschichte und Historisches Denken

Im Rahmen des kooperativen Unterrichts lehrt die Zeitgeschichte als Bestandteil des Geschichtsunterrichts ein gegenwärtiges Problem nach Art der Historie zu betrachten und mit den Mitteln des historischen Denkens anzugehen. Wo an der Zeitgeschichte historisches Denken gelernt werden soll, heißt dies zunächst, das Fragen nach Ursachen und das Erkunden von Ursachen zu lernen, die die gegenwärtige Entscheidungssituation maßgeblich herbeigeführt haben. Dies ist der selbstverständlichste Anteil, den zeithistorisches Lernen an politischer Bildung hat: Lernende zu befähigen, historische Informationen eigenständig zu erheben und narrativ zu verknüpfen.

Historisches Lernen an der Zeitgeschichte geht nicht in dieser selbständigen Ermittlung der Ursachen des gegenwärtigen Problems auf. Die Zeitgeschichte erschließt darüber hinaus in konkret genetischer Betrachtung den Lernenden Erfahrungen, die in der jüngsten Vergangenheit Menschen unserer Zeit in Situationen und mit Problemen gemacht haben, die mit den gegenwärtigen Situationen und Problemen vergleichbar sind. Wenn z.B. Arbeitslosigkeit ein wesentliches gesellschaftliches Problem unserer Zeit und der nächsten Zukunft ist, dann ist es sinnvoll, danach zu fragen, wie Menschen in der jüngst zurückliegenden Vergangenheit in vergleichbaren Situationen sich verhalten haben; es bietet sich eine Untersuchung darüber an, wie Menschen in der Weltwirtschaftskrise von 1929 und den folgenden Jahren oder in der Rezession der [/S. 552:] 60er Jahre als bedingt vergleichbaren Situationen in die Arbeitslosigkeit geraten sind, was sie gedacht, gewollt und getan haben, um mit dieser Situation fertig zu werden und welche auch unbeabsichtigten Folgen ihr politisches Handeln und Unterlassen gehabt haben.

Schüler und Erwachsene lernen dabei nicht nur in einer Anschaulichkeit und Dichte, die "betroffen" machen kann Erfahrungen kennen, die Zeitgenossen im Laufe der Zeit gemacht haben und ihnen in Erzählungen noch vermitteln können. Sie lernen auch ihnen fremde oder ihnen in etwa geläufige Wertorientierungen kennen, an denen sie sich reiben und mit denen sie sich auseinandersetzen können, um ihre eigenen Wertvorstellungen, ihre spontanen Identifikationen oder Distanzierungen zu überprüfen, zu verändern, abzuwandeln oder kritisch zu bestätigen. Sie erweitern der Möglichkeit nach ihre von gegenwärtigen Selbstverständlichkeiten geprägten Vorstellungen und Denkmuster durch "historische Phantasie": Wie in der "früheren" Geschichte gibt es auch im Umkreis der Zeitgeschichte gedachte und gelebte, antizipierte und gescheiterte Möglichkeiten menschlich gesellschaftlicher Existenz zu entdecken, vor dem Vergessen zu bewahren und neu zu bedenken. Der Zeitgeschichte Unterricht beugt damit einem "Verlust der Geschichte" vor, wobei hier nicht der bildungsbürgerliche Klageruf über die angebliche Abnahme einer bestimmten Form historischer Bildung gemeint ist, sondern vielmehr dass gerade im Bereich der Zeitgeschichte die Bereitschaft zu Erinnerung und kritisch selbstkritischer Rückschau überlagert werden kann durch die Bereitschaft zu vergessen, zu verdrängen, zu beschönigen oder Schuld buchhalterisch aufzurechnen.

Darüber hinaus erhalten die Lernenden im Zeitgeschichte Unterricht an konkret nachvollziehbaren Abläufen grundlegende Einsichten in politisches Handeln: Sie erkennen, dass politisches Handeln der Versuch einer sinnvollen Reaktion auf vorgefundene und vorgegebene Umstände ist, auf Wertvorstellungen, Sinngebungen oder sehr handfesten materiellen Interessen beruht, erfolgreich sein oder scheitern und unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben kann oder dass es Diskrepanzen zwischen früheren Ansprüchen und gegenwärtiger Wirklichkeit geben kann, die aufgeklärt werden können. Im Zeitgeschichte-Unterricht werden solche Einsichten nicht abstrakt aufgesetzt und vermittelt, sondern an konkreten historischen Handlungsverläufen ermittelt, erkannt und auf den sozialwissenschaftlichen Begriff gebracht. Letztlich lernen die Erwachsenen und Schüler eine bestimmte Form des Denkens das historische Denken, das den durch menschliches Handeln ausgelösten Veränderungen in der Zeit mit bestimmten Fragestellungen, Methoden und Kategorien nachgeht.

 

3. Zeithistorisches Denken und Lebenspraxis

Historisches Denken als ein besonderes Vermögen, die Wirklichkeit vernünftig zu betrachten, ist eine in der alltäglichen Lebenspraxis oft benötigte Fähigkeit. Die Lebensgeschichte eines jeden Menschen ist mit der allgemeinen Geschichte seiner Zeit eng verwoben. Historisches Denken kann helfen, die je eigene Lebensgeschichte in den Zusammenhang der Zeitgeschichte einzuordnen, die erlebte Geschichte kritisch zu erinnern und im Gedächtnis zu halten und die geschehende Geschichte mit den erlernten Fragestellungen und Methoden zu betrachten, um so die Lebensgeschichte nicht als bewusstlose und unbegriffene Leidensgeschichte zu erfahren. Der Zusammenhang von Lebensgeschichte und Zeitgeschichte muss daher [/S. 553:] in Lernprozessen an den Biographien der Lernenden und Lehrenden ausdrücklich besprochen werden. Dabei gibt es zwischen Schulunterricht und Erwachsenenbildung einen wesentlichen Unterschied: In der Schule geht es um eine Geschichte, die von den Schüler(inne)n selbst nicht bewusst erlebt worden ist, die aber ihre Kindheit und Jugend geprägt hat oder vor ihrer Zeit lag. In der Erwachsenenbildung geht es um eine Geschichte, in die die Erwachsenen handelnd und leidend verstrickt waren (und noch sind) und die nunmehr kritisch aufgeklärt und begriffen werden soll.

Als das artgemessenste und im Sinne politischer Bildung ertragreichste Verfahren hat sich dabei das "entdeckende Lernen" erwiesen, das in den letzten Jahren von Schüler(inne)n in Archiven und bei oral history Gesprächen mit Zeitzeugen erprobt worden ist. Auch im Bereich der Erwachsenenbildung und Selbst bildung in Geschichtsvereinen, Geschichtswerkstätten oder in der gewerkschaftlichen und politischen Bildungsarbeit kommt das Prinzip des entdeckenden Lernens erfolgreich zur Geltung. Das dabei auftauchende Problem, dass in der Regel die Zeitzeugnisse, die Befragten und Beteiligten von ihrem jeweiligen Standort her die Vergangenheit als eine Geschichte erzählen, die sich von den Geschichten der anderen Befragten und Beteiligten unterscheidet, ist kein Lernhemmnis, sondern ermöglicht einen wichtigen Schritt auf dem Weg des Erlernens des historischen Denkens: Die Lernenden müssen erfahren, dass die unterschiedlichen Geschichten, die von einer gemeinsam erlebten oder ermittelten Vergangenheit erzählen, nicht einfach voreinander "falsch" sind. Sie müssen vielmehr "für die Problematik differenter Geschichten sensibilisiert werden und Methoden erlernen, wie unterschiedliche Versionen von Geschichten auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft" (Becher 1979, 304), nach Maßgabe des Möglichen miteinander vermittelt und in den gesellschaftlichen Zusammenhang der allgemeinen Zeitgeschichte eingeordnet werden können.

Historisches Denken ist auch da gefragt, wo zeithistorische Sachverhalte in unterschiedlichen Formen und Absichten in der Öffentlichkeit präsentiert werden. Wo immer Zeitgeschichte ob in politischer oder in scheinbar bloß unterhaltsamer Absicht "unters Volk gebracht" wird, droht die Übermächtigung des Laienpublikums durch vormündige Geschichtsdarstellungen. In Lernprozessen müssen daher an Fallbeispielen zeitgeschichtliche Sendungen der Rundfunk und Fernsehanstalten, zeitgeschichtliche Artikel in der Presse, der Gebrauch und Missbrauch von Zeit-"Geschichte als Argument" (Calließ) in der politischen Debatte, die Verwendung zeitgeschichtlicher Klischees in der Werbung, die Behandlung und Misshandlung von Zeitgeschichte bei Gedenkveranstaltungen oder zeitgeschichtliche Versatzstücke in Stammtischparolen methodisch kritisch, vor allem ideologiekritisch betrachtet werden, um in Zukunft der öffentlichen Verwendung von Geschichte nicht unberaten und unbedarft ausgesetzt zu sein.

Wird historisches Denken an zeitgeschichtlichen Sachverhalten eingeübt, kann vielleicht verhindert werden, dass die Lernenden in Lernprozessen und in der Lebenspraxis nur mehr "betroffen" reagieren. Die vielberedete "Betroffenheit" ist kein Ziel des zeitgeschichtlichen Unterrichts, allerdings ein wichtiger Gegenstand des Nachdenkens. Es geht nicht um die Abstützung gefühliger Identitäten, sondern darum, mit den Mitteln vernünftigen historischen Denkens von Betroffenheit zu Aufklärung, von Reflexen zu Reflexion, von naiver Identifikation zu überlegter Identität, von unüber[/S. 554:]legter Parteinahme zu kritischem Engagement zu kommen und jenseits des Unterrichts von spontaner Reaktion zu einem politischen Handeln, das bei dem Versuch, soziale Ungerechtigkeiten aufzuheben, Gefährdungen der Menschlichkeit und der Menschheit zu bekämpfen und das Mögliche wirklich werden zu lassen, die Voraussetzungen und Bedingungen vernünftig einschätzt.

 

Literatur

Becher, Ursula (1979): Zeitgeschichte und Lebensgeschichte. In: Geschichtsdidaktik, 4/1979.

Bergmann, Klaus; Thurn, Susanne (1985): Didaktik der Alltagsgeschichte. In: Bergmann, Klaus; Kuhn, Annette; Rüsen, Jörn; Schneider, Gerhard (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Bd. 1. 3. Aufl. Düsseldorf.

Bracher, Karl Dietrich (1987): Zeitgeschichtliche Erfahrungen als aktuelles Problem. In: Aus Politik und Zeitgeschichte [3] B11/1987.

Galinski, Dieter; Herbert, Ulrich; Lachauer, Ulla (Hrsg.) (1982): Nazis und Nachbarn. Schüler erforschen den Alltag im Nationalsozialismus. Reinbek.

"Geschichte erfahren" (1986): Schwerpunktthema von: Geschichtsdidaktik 1/1986.

"Geschichtsbewusstsein" (1987): Themenheft von: Geschichtsdidaktik 2/1987.

Giesecke, Hermann [4] (1978): Skizzen zu einer politisch begründeten historischen Didaktik. In: Neue Sammlung, 1/1978 [5].

Heer, Hannes; Ullrich, Volker (Hrsg.) (1985): Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung. Reinbek.

"Historikerstreit"(1987): Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München, Zürich.

Jäckel, Eberhard (1975): Begriff und Funktion der Zeitgeschichte. In: ders.; Weymar, Ernst (Hrsg.) Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Stuttgart.

Lucas, Friedrich J. (1966/1972): Der Bildungssinn von Geschichte und Zeitgeschichte in Schule und Erwachsenenbildung. In: ders., Geschichte als engagierte Wissenschaft. Stuttgart.

"Oral History – Kommunikative Geschichte" (1984): Schwerpunktthema von: Geschichtsdidaktik 3/1984.

Paul, Gerhard; Schossig, Bernhard (Hrsg.) (1986): Die andere Geschichte. Geschichte von unten. Spurensicherung, ökologische Geschichte, Geschichtswerkstätten. Köln.

Schörken, Rolf (Hrsg.) (1978): Zur Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht. Stuttgart.

Schörken, Rolf (Hrsg.) (1981): Der Gegenwartsbezug der Geschichte. Stuttgart.

Sutor, Bernd (1986): Zeitgeschichte und Politikunterricht. In: Katholische Bildung, 7-8/1986.

Sygusch, Frank (1987): Auswahlbibliographie zum "Historiker-Streit" (Stand Juli 1987). In: Gerstenberger, Heide; Schmidt, Dorothea (Hrsg.) Normalität oder Normalisierung. Geschichtswerkstätten und Faschismusanalyse. Münster.

Wehler, Hans Ulrich (1976): Bismarck und der Imperialismus. 4. Aufl. München.

"Zeitgeschichtsunterricht": Ständiges bibliographisches Stichwort in der Zs. "BIBreport" und in den (daraus zusammengestellten) Jahresbänden "ADIEU. Duisburg.

Zitzlaff, Dietrich (1987): Das neue Geschichtslernen. Themen, Formen, Impulse. Eine Auswahlbibliographie. In: Politisches Lernen (DVPB-NRW), 3/1987.

 

Redaktionelle Änderungen durch sowi-online: Abkürzungen für "Zeitgeschichte" und "politische Bildung" ausgeschrieben; Form der Literaturangaben geändert, Literaturverzeichnis vervollständigt (Vornamen; ergänzt: Wehler). Seitenangaben zu Aufsätzen und Quelle Calließ fehlen im Original.


 

 

Hilligen, Wolfgang (1985): Zur Kooperation zwischen Politischem Unterricht und Nachbarfächern, zumal der Geschichte

Das Verhältnis von Politischem Unterricht und Geschichte (wie auch Erdkunde) im Rahmen der Politischen Bildung ist bisher noch nirgendwo in Übereinstimmung zwischen Sozialwissenschaftlern und Historikern praktikabel gemacht worden. Die Saarbrücker Rahmenvereinbarung aus den 60er Jahren z. B., in der die drei Fächer unter dem Begriff Gemeinschaftskunde für die Sek. II zusammengefasst worden waren, wurden additiv gehandhabt, mit harten Auseinandersetzungen um Anteile und Prioritäten. In diesem Kapitel soll die These begründet werden, daß die - eigenständigen - Fächer auf Kooperation angewiesen sind und daß hierfür didaktische Instrumente (Leit- bzw. Schlüsselfragen) notwendig, zumindest hilfreich sind. Ausgehend von Materialien zu einem Überblick über die Entwicklung des Verhältnisses der Fächer Politischer Unterricht und Geschichte (2.5.0) und von Thesen für die Kooperation (2.5.1) werden didaktische Vorschläge (2.5.2) skizziert. Diese werden sowohl in Leitfragen (2.5.3) als auch in einem Unterrichtsbeispiel und Hinweisen für die Auswahl im Zusammenhang mit der Matrix konkretisiert (2.5.4, 2.5.5)

 

2.5.0 Überblick über Möglichkeiten und Entwicklung des Verhältnisses von Politischem Unterricht und Geschichte

Grundsätzlich lassen sich etwa die folgenden Möglichkeiten unterscheiden:

  • Mit der historischen Bildung ist die politische im wesentlichen geleistet (zumal mit der Geschichte der jüngsten
    Vergangenheit).
    In den meisten Bundesländern herrschte mindestens bis zum Ende der 50er Jahre diese Auffassung
    vor.
  • Geschichtsunterricht und politischer Unterricht (Sozialkunde) werden so gut wie unabhängig voneinander geplant
    und/oder erteilt.
    Das ist in der Mehrzahl der Geschichts- und Politikstunden noch die Regel.
  • Der Geschichtsunterricht wird (mehr oder weniger) in den politischen Unterricht integriert.
    Diese Konzeption wurde z.
    B. in den Hessischen Rahmenrichtlinien "Gesellschaftslehre" von 1972 vertreten. Geschichtsunterricht beschränkte
    sich im wesentlichen auf Vorgeschichte der Gegenwart, auf das Erfahrbarmachen von Veränderungen und auf die
    ideologiekritische Betrachtung historischer Zeugnisse.
    An dieser Verkürzung der historischen Dimension entzündete
    sich der Widerstand der (gut organisierten) Historiker und Geschichtslehrer und trug wohl mit dazu bei, diese zur Entwicklung
    eigener und neuer didaktischer Konzepte herauszufordern. Nach dem Hessischen Oberstufenurteil von1981 wird diese Lösung
    nicht mehr offiziell vertreten. [/S. 242]
  • Neuerdings zeichnet sich eine Tendenz ab, eine sozialgeschichtlich angereicherte historische Betrachtungsweise so stark zu
    betonen, dass nicht nur das Gewicht des politischen Unterrichts zurückgedrängt, sondern seine Eigenständigkeit
    gefährdet wird.
  • Eine Kooperation der Fächer (seltener: ihrer Betrachtungsweisen) wird zwar immer wieder gefordert (z. B. in den
    Richtlinien von Nordrhein-Westfalen von 1972/73); Lösungsvorschläge beschränken sich aber, soweit ich sehe, auf
    organisatorische Regelungen.
 

2.5.1 Thesen zur Kooperation

1. Kooperation setzt voraus, dass in jedem und von jedem Fach aus neben der eigenen auch die Sicht- und Frageweise des anderen gepflegt und vermittelt wird: in der Geschichte neben (oder auch nach) der diachronischen, wo immer möglich, die systematische; in den Sozialwissenschaften neben der systematischen auch die häufig retrospektive (zurückblickende), diachronische. Dort steht die Einzigartigkeit der zu verstehenden Geschehnisse und Gestalten im Vordergrund, hier das Verallgemeinerungsfähige und Strukturelle:

Ohne historische Methoden und Fragestellungen können Lernende nicht die Einzigartigkeit von Personen und Ereignissen erfahren und nicht verstehen, warum Menschen je verschieden sind; ohne systematische, synchronische (die Zeiten zusammenschauende) Methoden und Betrachtungsweisen können sie nicht erkennen, was an den Menschen menschlich ist und welchen vergleichbaren Aufgaben sie sich trotz aller Andersartigkeit der Bedingungen je gegenübergestellt sehen.

 

Grafik1

Das heißt: "Geschichte ohne Soziologie ist blind, Soziologie ohne Geschichte ist leer" (Topitsch)*: "Social Sciences without History have no root, History without Social Sciences bears no fruit" (Hermann Finer) (Zit. nach Beyme von 1970, 19). Diesen in den beiden Wissenschaften unbestrittenen Satz müssten sich die Lehrenden beider Fächer zueigen machen.

2. Wie die doppelte Blickrichtung im Unterricht wirksam wird, hängt nicht von perfekten Richtlinien ab, sondern davon, dass Lehrer über "Methoden" - über heuristische Instrumente! - verfügen, mit deren Hilfe sie den Wechselbezug bei geschichtlichen wie bei politischen Themen herstellen können.

Vergleichbares gilt für das Fach Erdkunde. Einige Didaktiker der Geographie benutzen heute zur Beurteilung der gesellschaftlichen Bedeutung geographischer Faktoren den Begriff "Daseinsgrundfunktionen". Die Nähe zum Begriff "Überleben" und zum Begriff "Bedürfnisse" ist deutlich. Als Daseinsgrundfunktionen werden Essen, Sich-Kleiden, Wohnen, Vorsorge, in Gesellschaft leben und Fortpflanzung bezeichnet (vgl. Geographische Rundschau, Heft 12/1974). [/S. 243]

Die Bedrohung der Lebensgrundlagen verlangt heute im politischen Unterricht auch die Kooperation mit der Biologie: bei Aufgaben des Umweltschutzes im weitesten Sinne, aber auch für die Erkenntnis, dass sich die Evolution nicht mehr allein mit Ergebnissen der Fitnesskonkurrenz erklären lässt, dass ein Überleben der Gattung Mensch nur möglich ist, wenn sich die Gattung fähig erweist, innerhalb der Grenzen der Biosphäre zu kooperieren (vgl. Markl, 2.2.5.2).

 

2.5.2 Zusammengefasste didaktische Vorschläge für die Kooperation von Politischem Unterricht und Geschichte

1. Ausgangspunkt und oberstes Auswahl- und Wichtigkeitskriterium für beide Fächer/Aspekte ist die aufs Existentielle zielende didaktische Frage:

Wie können wir durch Geschichts- und Politikunterricht dazu beitragen, Schüler für die menschenwürdige Bewältigung von Situationen auszustatten, von denen wir heute und voraussichtlich morgen betroffen sind; wie können wir sie ausstatten für die Wahrnehmung von Chancen und die Bewältigung von Gefahren unserer geschichtlichen Situation?*

2. Weil Fragen an Geschichte, Gegenwart und Zukunft (wie sie von Historikern, Gesellschaftswissenschaftlern, Fachdidaktikern, Politikern gestellt werden), als perspektivisch erkannt worden sind (d. h. dem oft unbewussten Vorverständnis und/oder den bewussten Interessen und Absichten der Fragenden erwachsen), ist es notwendig, diese Perspektiven (Vorentscheidungen, Wert- und Zielvorstellungen) offenzulegen und Kontroversen darüber zum Thema zu machen - wenn man nicht einem "geheimen Curriculum" verfallen will.

Zunehmend wird die Perspektivität historischer Aussagen von Geschichtsdidaktikern wie von Historikern (und zwar nicht nur von solchen, die der Kritischen Theorie mehr oder weniger nahestehen) betont. Zumal Mommsen weist eindringlich nach, in welcher Weise leitende Gesichtspunkte (metatheoretische Fragestellungen) unvermeidbar in den Erkenntnisprozess einspielen. Er folgert daraus, daß die Prämissen offengelegt und gegenüber einer intersubjektiven Überprüfung offen bleiben müssen (dtv WR 4281, 444f.); Annette Kuhn zitiert Kocka mit dem Satz: "Aussagen über die Vergangenheit sind von Einschätzungen der Gegenwart und von Stellungnahmen zur wünschenswerten Zukunft durchsetzt" (Schörken 1978, 123).

Wie Rohlfes sagt, entstehen historische Sachverhalte "aus den Fragen der Historiker an die historische Überlieferung, sind also nicht die vergangene Wirklichkeit selbst". Er fährt dann fort: "Ebensowenig sind sie beliebige Konstrukte, die ihr Dasein lediglich gegenwärtigen Erkenntnisinteressen verdanken. Solche Erkenntnisinteressen sind zwar der Rahmen, innerhalb dessen das historische Material ausgewählt, analysiert, interpretiert und bewertet wird, aber wie dieser Rahmen ausgefüllt wird, das liegt nicht mehr in der Reichweite des Erkenntnisinteresses, sondern hängt allein von den Aussagen des zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials ab - zumindest innerhalb eines Wissenschaftsverständnisses, dem Objektivität eine Tugend und nicht ein Aberglaube ist" (Schörken 1978, 24).

In dieser Konzeption werden die Perspektiven, - die Prämissen für die Wertungen - in den Optionen formuliert. Didaktisch fungieren die Optionen in beiden Fächern:

  • als Ergebnisse der Geschichte, hinter die wir nicht zurückfallen dürfen;
  • als Ziele, denen durch Politik und Erziehung Geltung verschafft werden muss;
  • als Inhalte (die freilich, wenn sie nicht Leerformeln bleiben sollen, nicht irgendwann [/S. 244] einmal zu vermitteln bzw. zu lernen sind, sondern die immer wieder an konkreten historischen und gegenwärtigen Situationen thematisiert werden müssen, indem ihre Konsequenzen für menschenwürdiges Überleben verdeutlicht werden);
  • und damit vor allem: als Wertperspektiven, die bei Antworten auf Fragen an historische und gegenwärtige Entwicklungen und Ereignisse angelegt werden.

3. (Kernthese) Kooperation wird vor allem dadurch hergestellt, dass man an Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Geschichtsunterricht und im politischen Unterricht grundsätzlich gleiche, zumindest vergleichbare Fragen richtet. Im gesellschaftswissenschaftlich-politischen Bereich geht es um systematische Antworten als Voraussetzung für eine schärfere Erfassung von Zusammenhängen; im historischen Bereich geht es um Antworten, mit deren Hilfe sich der Schüler in die Vielfalt, Eigenständigkeit und Widerständigkeit historischer Situationen hineinleben kann.

 

2.5.3 Vorschläge für didaktische Leitfragen für die Kooperation

Die Leitfragen sollen dazu dienen, Einzelfragen und Unterrichtsgegenstände so auszuwählen und zu gewichten, dass sie als Antwort auf Probleme von allgemeiner Bedeutung erkannt werden können. Mit ihrer Hilfe können geschichtliche, erdkundliche und Themen der politischen Bildung als verschiedene Aspekte gleicher Fragestellungen begriffen werden. In ihrer allgemeinen Form zielen sie auf Überleben und menschenwürdiges Leben ab; ihre Beantwortung soll für die Bewältigung (für Erkennen, Urteilen, Handeln) von und in Situationen qualifizieren, von denen Schüler subjektiv und objektiv betroffen sind. So gesehen lassen sich alle Themenbereiche der drei Fächer in vier zentrale Themen- bzw. Fragenkomplexe gliedern:

  1. Erarbeitung, Sicherung, Verbesserung des Lebensunterhaltes
    In welcher Weise und in welchem Ausmaß waren/sind Menschen je von der Natur abhängig? Wovon und von wem hing/hängt es ab, ob Bedürfnisse befriedigt werden können?
  2. Verteilung von Eigentum und Macht; Regelungen des Zusammenlebens
    Wie waren/sind Eigentum, Besitz, Macht, Ansehen verteilt? Wie kamen/kommen verbindliche Entscheidungen zustande? Wie wurden/werden sie durchgesetzt? Gab/gibt es Rechte der Person? für alle?
  3. Austrag von Konflikten
    Wie (mit welchen Mitteln) wurden/werden Konflikte ausgetragen? Welche Regelungen gab/gibt es dafür?
  4. Rechtfertigung, Sinngebung, Normen; Möglichkeiten und Formen menschlicher Kommunikation
    Wie wurde/wird die staatlich gesellschaftliche Ordnung begründet, gerechtfertigt, infrage gestellt? Wie wurde/wird die Frage nach dem Sinn des Daseins beantwortet? Wie erhielten/erhalten die Menschen Informationen?

Schon diese allgemeinen Fragen können sowohl auf historische als auch auf gegenwärtige Themen, Situationen und Probleme angewendet werden, einschließlich der politisch bedeutsamen geographischen Themen. [/S. 245]

Für die Geschichte lassen sie sich weiter konkretisieren, indem zum Beispiel gefragt wird:

  • Zu 1.:
    Welche Fortschritte in der Beherrschung der Natur wurden erzielt? Auf Kosten welcher Gruppen? Welche Einbussen waren damit verknüpft? Welche Abhängigkeiten wurden vermindert, vermehrt?
  • Zu 2.:
    Welche Fortschritte bei der Überwindung von sozialen Ungleichheiten, bei der Sicherung der Personrechte, der Lösung von Problemen der Daseinsvorsorge wurden zu jener Zeit erzielt? Welche Gruppen waren daran beteiligt?
  • Zu 3.:
    Welche Regelungen/Institutionen gab es für den Austrag von Konflikten zwischen Gruppen? Zwischen Völkern?
  • Zu 4.:
    Welche Begründungen dienten der Aufrechterhaltung der jeweiligen Ordnung? Mit welchen Gründen wurde sie infragegestellt? Welche Möglichkeiten hatten die Menschen (hatten Gruppen) sich zu informieren?

In der Politischen Bildung wird in Bezug auf die Beteiligung an zustimmungswürdigen Entscheidungen zusammengebracht, was in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, aber auch in den Fächern Geschichte (zeitlich) und Erdkunde (räumlich) getrennt erscheint. Im Zusammenhang mit Situationen kann gefragt werden:

  • Zu 1.:
    Welche langfristigen Lösungen sind angesichts des Widerspruchs zwischen technisch Möglichem einerseits und Ressourcenknappheit, Umweltbelastung, Stress in Arbeit und Freizeit anderseits zustimmungswürdig?
  • Zu 2.:
    Welche Möglichkeiten der Beteiligung sind in einer konkreten Situation gegeben? Müssten neue geschaffen werden? Trägt diese mögliche Lösung dazu bei, Freiheit der Person, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit zu fordern? Welche politische Aufgabe bleibt ungelöst, weil sie nicht erkannt wird? weil Gruppen die Macht besitzen, ihre Lösung zu blockieren? Was können Einzelne, Gruppen und Staat zur Lösung beitragen?
  • Zu 3.:
    Welche Möglichkeiten bestehen in einem konkreten Konflikt, vernünftige Lösungen gewaltfrei durchzusetzen? Welche müssten geschaffen werden?
  • Zu 4.:
    Wie lässt sich durch Aufklärung und Information bewirken, was früher durch unmittelbare Erfahrung in Gang gesetzt wurde?

Ein zweiter (zangenartiger) Frageansatz dient dazu, die Themen (Probleme), historische und gegenwärtige Inhalte und die Situation der Schüler bei der Planung und im Unterricht miteinander in Verbindung zu bringen:

Es wird gefragt:

  • von der jeweiligen historischen Situation aus:
    Welche Probleme, die Menschen damals beschäftigten, die sie damals zu lösen hatten, spielen heute (und - so weit wir wissen - voraussichtlich auch morgen) eine wichtige Rolle?
    Welche damaligen Probleme sind durch die Entwicklung überholt?
    Welche Lösungen müssen aufgrund neuer Bedingungen anders lauten?
    Welche damaligen Ansätze sind verkümmert?
    Welche Probleme wurden in zustimmungsfähiger Weise gelöst?
  • von gegenwärtigen Situationen und Problemen aus:
    Für welche dringenden gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit enthält die jeweilige historische Epoche Vergleichbares? [/S. 246]
    Wo zeigen sich Veränderungen, Unterschiede?
    Wodurch sind sie hervorgerufen worden?
  • von den Lernenden aus:
    Bei welchen vergangenen und gegenwärtigen Problemen kann eine primäre (unmittelbare, subjektive) Betroffenheit bei Schülern vorausgesetzt werden?
    Bei welchen Problemen muss der Zusammenhang zwischen vergangenen und gegenwärtigen Tatbeständen einerseits und existentieller Betroffenheit andererseits didaktisch erst bewusst gemacht werden?

Leitfragen für die Erdkunde lassen sich nicht durchgängig auf alle erdkundlichen Themen anwenden.

Mit dem Begriff "Daseinsgrundfunktionen" (Essen, Sich Kleiden, Wohnen) kann gefragt werden, inwieweit diese Funktionen je von klimatischen, räumlichen Bedingungen abhängig sind. Aber diese Fragestellung greift zu kurz, wenn nicht zugleich nach den historischen und politischen Bedingungen für die Entwicklung der räumlichen Faktoren gefragt wird. Daneben ist aufzuzeigen, dass in der Erdkunde als gleichzeitig, aber räumlich getrennt, erfahren werden kann, was historisch "ungleichzeitig" ist.

Für die Kooperation der Fächer Erdkunde und Politische Bildung kann gefragt werden:

  • Von der Erdkunde aus:
    Welche räumlichen Bedingungen sind den bei uns herrschenden vergleichbar? Welche Folgen haben Eingriffe in die Natur für uns? Welche Lösungen, die dort entwickelt worden sind, können eine Hilfe für die Beurteilung und Lösung unserer Probleme leisten?
  • Von unserer Situation aus:
    Wie lässt sich regionale Disparität (zwischen Regionen innerhalb unseres Landes, Europas, der Welt) ausgleichen? Welche unserer politischen Formen und welche Wertvorstellungen können auch von anderen Völkern anerkannt werden? unter welchen Bedingungen?*
 

2.5.4 Beispiel zum Gegenwartsbezug historischer Themen

Hierzu das Protokoll eines Sozialwissenschaftlers, der ein Praktikum betreute:

"Es handelt vom Probeunterricht einer Studentin in einer Dorfschule, den der Verfasser als 'Tutor' miterlebte. Das Stundenthema lautete: Albrecht der Bär besiedelte die Mark Brandenburg. Die Studentin berichtete, wie Albrecht der Bär Siedler ins Land holte, das 'menschenleer' war. Die Siedler kamen aus übervölkerten westlichen Gauen des Reiches; die Studentin erzählte, wie in diesen Gauen die Bauern ihre kinderreichen Familien kaum mehr ernähren konnten und wie dann die jüngeren, landlosen Söhne in die Weiten des freien Ostens aufbrachen. Der Verfasser griff ein und fragte, wie man denn eigentlich heute mit dem Problem fertig werde. Verblüfftes Schweigen. Aber auf weitere Fragen kam dann - wie zu erwarten - zutage, dass die meisten Väter der Kinder dieses Dorfes nicht mehr in der Landwirtschaft, sondern in der nahegelegenen Stadt arbeiteten. Und schließlich brachten die Kinder heraus: "Wir lösen das Problem nicht mehr, indem wir neues Land erobern, sondern durch neue Arbeitsplätze in der Industrie."

Darauf folgte noch eine Frage: Wie ist es nun aber in den Ländern, wie beispielsweise Indien, das gerade im Erdkundeunterricht behandelt worden war, in denen das Land auch nicht mehr für die vielen Menschen ausreicht, in denen es aber noch so gut wie keine Industrie gibt? Die Kinder diskutierten die Frage und kamen nun selbst zu dem Ergebnis, dass nur drei Möglichkeiten bestehen:

  1. Hunger und Seuchen begrenzen die Bevölkerung.
  2. Man führt einen Eroberungskrieg gegen die Nachbarn, um neues Land zu gewinnen.
  3. Das Gebiet wird so schnell wir möglich wirtschaftlich entwickelt" ( Krockow 1969, 30).

Es wird deutlich, 1., dass es sich beim Dozenten nicht etwa um einen methodischen Vorsprung [/S. 247] handelt, sondern darum, dass er als didaktisch denkender Sozialwissenschaftler die historische Situation auf eine fundamentale Erkenntnis hinbezieht; und 2., dass dieses Beispiel zugleich zum Transfer anregt:

Der Sachverhalt, dass sich durch Technisierung, durch "Massenproduktion", Bedingungen des Lebens im Raum verändert haben, lässt sich auf andere Situationen übertragen.

 

2.5.5 Weitere Instrumente

"Abhängig - wovon und von wem?"

Hier wird die fundamentale Erkenntnis systematisiert, dass anstelle der Abhängigkeit von den natürlichen Bedingungen zunehmend - und heute im besonders hohen Maße - die von den Mitmenschen, von den Vorkehrungen der Gesellschaft getreten ist.

Es geht darum, die Vorstellung vom "Volk ohne Raum" (H. Grimm) als Irrtum zu enthüllen. Tolstois Erzählung "Wieviel Erde braucht der Mensch" kann ergänzend gelesen werden.

 

  Sammler und Jäger Ackerbau Ägypter heute
Nahrung Geschichtlichkeit
"Jagdgründe"
Zufall
genügend Boden
Vieh
Ungestörtheit
Ausbau der Kanäle und Dämme -
Wetter und Wasserstand (Vorratshäuser)
funktionierender Handel und Transport in der ganzen Welt
Kleidung erlegte Tiere mit geeignetem Fell Arbeitskraft,
Zeit für die Webarbeit
Geräte
Anspruch auf die Erzeugnisse der Handwerker durch Arbeit -
nur wer zum Dorf gehörte, bekam etwas
Kleidung wird maschinell hergestellt;
immer mehr kaufen nicht, was sie brauchen, sondern was "modisch" ist
Wohnung natürliche Gegebenheiten, z. B. Höhlen jede Familie erbt oder baut sich ihr Haus Wer in der Dorfgemeinschaft mitarbeitet, erhält Bauplätze immer mehr Eigenheime, aber immer noch in den Städten am meisten Miet-Wohnungen
Gefahren jeder aus einer anderen Sippe ist "Feind" Eroberervölker (Nomaden) lange Zeiten ohne äußere Gefahren jeder Krieg -
Diktatur -
aber auch Verkehr
Wünsche auf die Urbedürfnisse beschränkt für wenige werden Schmuck, Wohnkultur, kunstvolle Gegenstände möglich

Die Voraussetzung einer nur von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängigen Produktion muss relativiert werden, und zwar im Bezug auf die Erde als Ganzes. Das verlangt in der Tabelle eine neue Spalte. In dieser Spalte Morgen muss sich bei allen in der Waagerechten aufgeführten Bedürfnissen die Begrenztheit der Ressourcen und die Gefährdung des Ökosystems niederschlagen. [/S. 248]

 

 

2.5.6 Literaturhinweise

  1. Benutzte Literatur

Beyme, Klaus von (1970): Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa. München: Piper [6].

Hilligen, Wolfgang (1981): Zur Kooperation von Geschichte und Politischem Unterricht. In: 25 Jahre Politische Bildung in Hessen. Protokoll Nr. 06/103/1981 des Hess. Instituts für Lehrerfortbildung.

Hilligen, Wolfgang (1976): Zum Verhältnis von Geschichte und Sozialkunde. In: Zur Didaktik des politischen Unterrichts II. Schriften 1950-1975, kommentiert 1975. Ein Supplement. Opladen: Leske, Seite 165-188.

Krockow, Christian von (1969): Sozialwissenschaften, Lehrerbildung und Schule. Opladen: Leske [7].

Markl, Hubert (1980): Ökologische Grenzen und Evolutionsstrategie Forschung. In: Mitteilung der DFG (3); in einer verkürzten Fassung in: FAZ, Dezember 1980.

Mickel, Wolfgang (Hg.) (1979): Politikunterricht im Zusammenhang mit seinen Nachbarfächern. Mit Beiträgen von Behrmann, Böttcher, Cube, Grosser und Sutor, München: Ehrenwirth.

Mommsen, Wolfgang J. [8] (1977): Der perspektivische Charakter historischer Aussage und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis. In: Koselleck, Reinhart (Hg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. München: dtv, WR 4281.

Schörken, Rolf (Hg.) (1978): Zur Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht. Anmerkungen und Argumente 20. Stuttgart: Klett [9].

Schörken, Rolf (1977): Der lange Weg zum Geschichtscurriculum. In: Geschichtsdidaktik, Jg. 2 ( 3-4).

Tibi, Bassam (1980): Akkulturation und interkulturelle Kommunikation. Ist jede Verwestlichung kulturimperialistisch? In: Gegenwartskunde/GSE. Jg. 29 (2). Seite 173-189.

  1. Neuere Schriften zur Didaktik der Geschichte

Die Geschichtsdidaktik hat im vergangenen Jahrzehnt (im Vergleich zur Entwicklung der Didaktik des Politischen Unterrichts: etwa ein Jahrzehnt verspätet) eine neue Entwicklung genommen. Einige wichtige Schriften:

Behrmann, Günter [10]; Jeismann, Karl-Ernst; Süssmuth, Hans (1978): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts (Studien zur Didaktik, B. 1) Paderborn: F. Schöningh.

Bergmann, Klaus; Kuhn, Annette; Rüsen, Jörn; Schneider, Gerhard (Hg.) (1979): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Bd. 1 und 2. Düsseldorf : Schwann.

Bergmann, Klaus; Rüsen, Jörn (Hg.) (1978): Geschichtsdidaktik: Theorie für die Praxis. Düsseldorf: Schwann.

Kuhn, Annette (1974): Einführung in die Didaktik der Geschichte. München: Kösel.

Kuhn, Annette; Rothe, Valentine (1980): Geschichtsdidaktisches Grundwissen. Ein Arbeits- und Studienbuch. München: Kösel.

Mayer, Ulrich; Pandel, Hans-Jürgen (1976): Kategorien der Geschichtsdidaktik und Praxis der Unterrichtsanalyse. Anmerkungen und Argumente 13. Stuttgart: Klett [9].

Süssmuth, Hans (Hg.) (1973): Historisch-politischer Unterricht. Stuttgart: Klett [9].

 

2.5.7 Anmerkungen

* Formuliert in Analogie zu Kants Aussage: Anschauung ohne Begriffe ist blind, Begriffe ohne Anschauung sind leer.

* Auf die Tragfähigkeit des existentiellen Ansatzes bei Chancen und Gefahren für den Geschichtsunterricht hat Rolf Schörken (1977, 344) nachdrücklich hingewiesen.

* Zu dieser schwierigen Frage vgl. Bassam Tibi: Akkulturation und interkulturelle Kommunikation. Ist jede Verwestlichung kulturimperialistisch? In: Gegenwartskunde/GSE, Jg. 29 (2), 1980, 173ff.

 

Pandel, Hans-Jürgen (1987): Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen

Der extensive Gebrauch des Begriffs Geschichtsbewusstsein in der politisch-publizistischen Alltagspraxis wie in der Geschichtsdidaktik täuscht über den geringen Grad seiner theoretischen Elaboriertheit. Diese Tatsache macht es notwendig, sich einmal näher damit zu beschäftigen, was gegenwärtig unter Geschichtsbewusstsein genauer zu verstehen ist. Die aktuelle Diskussion um "Endlagerung des Faschismus" und "Geschichte als Schadensabwicklung" sowie der zunehmend erneute Gebrauch von historischen Gesten und Ritualen verlangt Aufklärung über die Struktur des Geschichtsbewusstseins. Ich sehe noch nicht, dass in der Geschichtsdidaktik ein konsensfähiger Begriff von Geschichtsbewusstsein besteht. Wir müssen aber ein gewisses Vorverständnis haben, welche Momente eigentlich jene Struktur ausmachen, die wir Geschichtsbewusstsein nennen, um seine Wirkungsweise erklären zu können. Erst danach können wir drei Aufgabengebiete der Bewusstseinsforschung erfolgreich angehen: empirische Forschung, Geschichtsschreibung und geschichtsdidaktische Pragmatik. Wir können dann eine "Morphologie" (Jeismann) des gegenwärtigen Geschichtsbewusstseins erstellen sowie eine Zeitgeschichte der Mentalitäten schreiben. Diese empirischen Aufgaben - wohl die wichtigsten der Geschichtsdidaktik - werden die Grundlage dafür darstellen können, geschichtsdidaktisch begründet handeln zu können. Eine geschichtsdidaktische Pragmatik, d. h. eine geschichtsdidaktische Handlungstheorie, wird aber nicht so lange warten können, sondern wird gleichzeitig ansetzen müssen. Aus diesem Grund wäre eine Diskussion um die Struktur von Geschichtsbewusstsein dringend erwünscht.

 

1. Normativität, Komparatistik, Transformation

a) Ein solcher Versuch, der eine Dimensionierung des Geschichtsbewusstseins vornimmt, um seine Struktur zu erkennen, muss sich dem Problem der Normativität stellen. Er muss sagen und auch "fest"-legen, was er als Geschichtsbewusstsein ansehen will. Es wäre ein problematisches Verständnis, nur eine bestimmte Ausformung von Geschichtsbewusstsein allein als Geschichtsbewusstsein anzusprechen, an dem dann alle anderen Formen gemessen werden, ob sie auch orthodox genug seien, um als Geschichtsbewusstsein approbiert zu werden. Diesen dogmatischen Umgang finden wir im politisch-publizistischen Alltag. Wenn einer beim anderen nicht die Bewusstseinselemente seines eigenen Geschichtsbewusstseins wiederfindet, so wird ihm fehlendes oder mangelndes Geschichtsbewusstsein unterstellt. Eine nichtnormative Theorie des Geschichtsbewusstseins, die sowohl für Zwecke der empirischen Forschung wie auch für eine geschichtsdidaktische Pragmatik brauchbar ist, muss auf der einen Seite sehr wohl bestimmen, welche Bewusstseinsformen sie als Geschichtsbewusstsein ansprechen will, auf der anderen Seite darf sie aber doch nicht in dem Sinne normativ verfahren, dass sie nur bestimmte Ausformungen für "richtiges" Geschichtsbewusstsein hält und alle anderen vorfindbaren Erscheinungsformen als nicht vorhandenes oder als falsches Geschichtsbewusstsein ausgibt. Eine Theorie von Geschichtsbewusstsein muss deshalb eine kategoriale Verfasstheit von Geschichtsbewusstsein ausweisen, um Geschichtsbewusstsein empirisch als Geschichtsbewusstsein zu identifizieren und um einen Vergleich zwischen verschiedenen Ausformungen von Geschichtsbewusstsein anstellen zu können.

b) Eine solche Strukturbestimmung, die sich des Problems der Normativität bewusst ist, lässt dann auch vergleichende Forschung möglich werden. Komparatistik ist deshalb notwendig, weil Geschichtsbewusstsein in Pluralität erscheint. Wir wissen, dass Geschichtsbewusstsein sozialisationsabhängig ist. Das alltäglich-vorschulische und außerschulische Geschichtsbewusstsein ist gleichfalls sozialisationsabhängig. Ob es das ausschließlich ist, versucht von Borries in diesem Heft zu erörtern. In den verschiedenen sozialen und historischen Kontexten, den nach sozialen Schichten und parteipolitisch geprägten Gruppen ausgerichteten Lebenswelten, verläuft historische Sozialisation ebenso unterschiedlich wie in verschiedenen historischen Regionen. Wir sprechen sogar von regionalem Geschichtsbewusstsein. Geschichtsbewusstsein erscheint in verschiedenen Ausprägungen. Will man diese unterschiedlichen Ausprägungen nicht im Sinne einer Defizithypothese interpretieren, nach der immer etwas "fehlt", so müsste die Andersartigkeit abgeleitet und plausibel gemacht werden.

Auch die Annahme, dass die verschiedenen Formen von Geschichtsbewusstsein nicht defizitäre Formen sind, sondern nur anders, aber prinzipiell gleichwertig, löst das Problem nicht, sondern wertet nur die verschiedenen pluralen Formen. Wenn man von Ausprägungen spricht, so impliziert das, dass es gewissermaßen eine ursprüngliche Form gibt, die sich in unterschiedliche Formen ausfaltet. Dieser Gedanke legt nahe, dass man hinter den aktuellen Erscheinungsformen die "ursprüngliche" Form wiederfindet.

Das jeweils konkrete und individuelle Geschichtsbewusstsein wäre dann immer nur eine Aktualisierung aus einem Gesamtpotential der möglichen kategorial verfassten Strukturierungen. Das "nur" soll allerdings nicht bedeuten, dass das individuelle Geschichtsbewusstsein hinter irgendeinem hehren, umfassenden, normativ aufgefassten Geschichtsbewusstsein zurückbleibt, wie die Performanz hinter der Kompetenz. Das "nur" bedeutet vielmehr, dass Geschichtsbewusstsein als ein individuelles immer in Individualität erscheint und nicht als ein allgemeines in seiner Abstraktheit. Unser Sprachgebrauch führt uns dabei in die Irre. Es existiert in der Sprache nur die Singularform von Geschichtsbewusstsein, keine Pluralform. Wenn wir im Plural von Geschichtsbewusstsein reden, dann sprechen wir immer von Formen des Geschichtsbewusstseins. Die Sprache legt uns somit das Geschichtsbewusstsein nahe; die Empirie findet es aber nur als Pluralität vor. Aus diesem scheinbaren Widerspruch kommen wir nur schwer heraus. Wir müssen das konkrete Geschichtsbewusstsein immer nur als einen Ausschnitt aus der potentiellen Kategorialität auffassen, die zugrunde gelegt werden muss, wenn die individuellen und verschiedenen Formen von Geschichtsbewusstsein trotz aller Unterschiedlichkeit als "Geschichtsbewusstsein" identifiziert werden sollen.

c) Geschichtsbewusstsein äußert sich nicht nur im Erzählen, sondern auch im Umerzählen von Geschichten. Geschichten werden immer in unterschiedlichen Graden in andere Geschichten transformiert, ohne dass dabei die Ausgangserzählung unkenntlich wird. Geschichtstheoretisch und geschichtsdidaktisch gesehen, brauchen wir Angaben, die uns erklären, warum Geschichten nicht nur unterschiedlich erzählt, sondern auch umerzählt werden. Ein solches Veränderungsbedürfnis finden wir schon auf der lebensgeschichtlichen Ebene. Ein und dieselbe Ereignisfolge wird von unterschiedlichen Menschen auch unterschiedlich erzählt. Sie bedienen sich unterschiedlicher Relevanzstrukturen und Erzählpläne, die unterschiedliche Geschichten produzieren.

Ohne es an dieser Stelle ausführlich begründen zu können, gehe ich davon aus, dass Geschichtsbewusstsein mit "Erinnern" nichts zu tun hat. Formal gesehen ist Geschichtsbewusstsein eine narrative Kompetenz. Sie besteht in der Fähigkeit, Geschichte zu erzählen und zu verstehen. Die Geschichte (bzw. die Geschichten), die wir uns erzählen und die wir als erzählte verstehen, hat einen anderen Status als die Geschichte, in die wir im Alltag verstrickt sind. Die Geschichte(n) erfahren wir nicht, sondern sie werden tradiert, erzählt: Wir erinnern uns nicht an sie, sondern sie werden uns in einer kulturellen Kommunikation überliefert.

"'Kulturelle Kommunikation' ist eine Information, die man nicht durch direkte Beobachtung (Sinnesdaten) erhalten oder aus ihr ableiten kann: sie geht notwendigerweise von einem Bewusstsein zu einem anderen über" (Devereux 1984a: 279).

Diese Tradierung von Bewusstsein zu Bewusstsein schließt nicht schon ein, dass die Geschichte, die erzählt wird, die gleiche bleibt. Obwohl die gehörte Geschichte nur als erzählte Geschichte - nicht als erlebte Geschichte - angeeignet wird (wir also nicht über unterschiedliche Erfahrungsdaten verfügen), wird sie so transformiert, dass wir annehmen, sie sei erst jetzt "richtiger" geworden. Wir haben es also mit der Tatsache zu tun, dass nicht nur erlebte Ereignisfolgen von unterschiedlichen Menschen verschieden erzählt werden, sondern auch die gleiche tradierte Geschichte wird unterschiedlich erzählt. Geschichtsbewusstsein äußert sich also nicht nur in erzählten Geschichten, sondern auch im Transformationsbedürfnis an erzählten Geschichten.

 

2. Dimensionierung

Auf das einzelne Individuum bezogen ist Geschichtsbewusstsein eine individuelle mentale Struktur, die durch ein System aufeinander verweisender Kategorien gebildet wird. Dieses kognitive Bezugssystem wird im Prozess des Sprachlernens erworben (1). Die durch (direkte wie durch kommunikative) Erfahrung geformte mentale Struktur ist für die Art und Weise verantwortlich, wie eine Geschichte erzählt wird, welche Perspektiven gewählt, wie das Verhältnis von oben und unten, von arm und reich gesehen wird, ob Verhältnisse generell statisch oder veränderbar gesehen werden.

Ich möchte vorschlagen, Geschichtsbewusstsein als eine mentale Struktur zu bezeichnen, die aus sieben aufeinander verweisende Doppelkategorien besteht. In dem Maße, in dem das Kind diese grundlegenden Kategorien ausdifferenziert, erwirbt es jenes kognitive Bezugssystem, ohne das es weder Geschichte verstehen noch Geschichte erzählen könnte.

Diese Kategorien sind:

  • Zeitbewusstsein (früher- heute/morgen) Wirklichkeitsbewusstsein (real/historisch imaginär)
  • Historizitätsbewusstsein (statisch - veränderlich)
  • Identitätsbewusstsein (wir - ihr/sie)
  • politisches Bewusstsein (oben - unten)
  • ökonomisch-soziales Bewusstsein (arm - reich)
  • moralisches Bewusstsein (richtig - falsch)

Dem jeweiligen Geschichtsbewusstsein des einzelnen Individuums liegt eine individuelle mentale Strukturierung aus diesen Kategorien zugrunde. Dieses kognitive Bezugssystem, das das Geschichtsbewusstsein ausmacht, wird durch Entwicklungserfahrungen gebildet. In diesen Entwicklungserfahrungen wird die mentale Struktur des Individuums ausgebildet.

In welcher Reihenfolge und in welcher Gleichzeitigkeit diese einzelnen Kategorien erworben werden, wissen wir noch nicht. Wir können sie aber in drei Basiskategorien und vier soziale Kategorien einteilen, ohne damit schon eine Präferenz in den individuellen Lernprozessen anzugeben. Die drei fundamentalsten Differenzierungen dieser mentalen Strukturierung, die allen anderen vorausliegen, bestehen in der Fähigkeit, die Prädikate "früher" und "heute" (bzw. "morgen"), "real" und "imaginär" sowie statisch -veränderlich/veränderbar (sein - werden) korrekt zu verwenden. Natürlich werden die Orientierungsbegriffe nicht ausschließlich nacheinander erworben, sondern auch gleichzeitig. Dennoch wird es Hierarchien geben: Erst wenn Fiktion und Realität geschieden sind, kann aus dem Märchenerzählen ein historisches Erzählen werden. Für dieses historische Erzählen sind dann die Kategorien Identitätsbewusstsein, ökonomisch-soziales Bewusstsein, politisches Bewusstsein und moralisches Bewusstsein maßgeblich.

Die vier letzten Dimensionen beziehen sich auf die Komplexität von Gesellschaft. Geschichtsbewusstsein umfasst ein strukturiertes Wissen über Veränderung von jeweils konkret und spezifisch organisierten Gesellschaften in der Zeit. Veränderungen von Gesellschaft als Bewusstseinsinhalt beschreibt nicht nur Veränderungen in der Zeit, sondern auch was sich in der Gesellschaft strukturell verändert und was nicht - ob sich z. B. die politische Stratifikation verändert bzw. verändern kann oder ob es überhaupt wünschenswert ist, dass sie sich verändert.

Die Ausbildung dieser dimensionierten Doppelkategorien in der Lebensgeschichte ergibt jene individuelle mentale Strukturierung, die wir Geschichtsbewusstsein nennen können. Das bedeutet allerdings nicht, dass es ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein im Sinne eines bewussten Seins sein muss. Es muss sich nicht um ein durchdachtes moralisches Bewusstsein oder um ein konkretes Herrschaftsbewusstsein handeln. Moralisches Bewusstsein wie auch politisches Bewusstsein kann sich in moralischem Relativismus wie in politischer Apathie äußern. Dennoch ist eine Kategorisierung der Bereiche moralisches Bewusstsein und Herrschaftsbewusstsein vollzogen.

 

2.1 Zeitbewusstsein

Die grundlegende Kategorie, sowohl im zeitlichen wie auch im allgemein-kategorialen Sinne, dürfte für das Erlernen von Geschichte die Unterscheidung der Zeitmodi (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft; gestern - heute - morgen) darstellen (2).

Die ältere Geschichtsdidaktik und -methodik hat viel Energie darauf verwandt, diese Kategorien zu vermitteln. Der Erfolg solcher Bemühungen ist nachweislich auch nicht größer gewesen als jene Bemühungen, die nicht so sehr auf Zeit und Datierung fixiert waren. Diese Bemühungen vergaßen in der Regel einen zentralen Punkt, dass erst in der Kombination mit anderen Kategorien Zeit für das Lernen von Geschichte einen Wert hat. Die Isolierung und Abstrahierung von anderen Kategorien entkleidet Zeit gerade des historischen Charakters. Das Pauken von Zahlen, die Arbeit am Zeitstrahl etc. waren weniger Arbeit mit historischer, sondern mit biologischer und kalendarischer Zeit. Wenn d) Geschichte als Prozess Veränderung in der Zeit ist, darf dieser Fluss nicht wieder in einzelne Fixpunkte von datierbaren Fakten "fest"-gestellt werden. Eine Fixierung auf datierbare Ereignisse übersah langsam ablaufende Prozesse und langdauernde Strukturen. Sie blieb vorwiegend auf der Ebene der Ereignisgeschichte verhaftet, d. h. sie hatte diplomatiegeschichtlichen, besonders außenpolitischen Charakter.

Der Ausgangspunkt für das Denken in den verschiedenen Zeitmodi ist die lebensweltliche Wahrnehmung der Zeitlichkeit von Erfahrung und Handeln. Sprachlich drückt sich Zeitbewusstsein in der Fähigkeit aus, Ereignisse mit den Begriffen "gestern" "heute" und "morgen" zu versehen. Zeitbewusstsein als Dimension von Geschichtsbewusstsein leistet aber mehr als die zeitliche Lokalisierung (die Temporalisierung) von Ereignissen. Zeitbewusstsein als Komponente von Geschichtsbewusstsein konkretisiert sich darüber hinaus in vier Hinsichten:

  1. Zeitbewusstsein beinhaltet die Vorstellung von der Dichtigkeit der Ereignisse in der Zeit. Das jeweils konkrete und individuelle Zeitbewusstsein drückt sich darin aus, dass es bestimmte historische Epochen mit mehr Ereignissen und in kürzeren Abständen besetzt hat als andere. Für manche Zeitepochen verfügt das Individuum über ein Wissen von der Existenz vieler bzw. weniger Ereignisse (3).
  2. Die zweite Komponente bezieht sich auf die Länge der Zeitausdehnung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es geht hier um die Frage, wie weit das Geschichtsbewusstsein in die Vergangenheit zurück und in die Zukunft vorausdenkt. Auch die zeitliche Erstreckung von Gegenwart steht hier zur Debatte. Im zeittheoretischen Sinne kann Gegenwart zwar als ausdehnungsloser "Punkt" angesehen werden. Individuen erleben Gegenwart aber sehr wohl in einer zeitlichen Erstreckung, deren Ausdehnung herauszufinden wäre.
  3. Die dritte Komponente bezeichnet die Akzentuierung der Zeitdimensionen. Gesellschaften in bestimmten historischen Situationen und Epochen betonen immer eine Zeitdimension, bevorzugen sie vor den anderen und halten diese für wichtiger, um ihre eigene Lage zu deuten. Auch Individuen argumentieren mehr vergangenheits-, gegenwarts- oder zukunftsbezogen (4).
  4. Die vierte Komponente ist die Narrativierung von Zeit und meint die Umgliederung von wahrgenommenen und gelernten Ereignissen, wenn sie in eine Geschichte eingehen. Narrativierung von Zeit ist die Transformation der Chronik der wahrgenommenen und gelernten Ereignisse in eine narrative Chronologie. Man kann die Ursachen eines Ereignisses zeitlich nach der Wirkung erfahren und dennoch durch zeitliche Umgruppierung eine Geschichte nach Ursache und Wirkung erzählen. Die chronologische Reihenfolge, in der die Ereignisse wahrgenommen werden (indirekt oder kommunikativ), wird von uns in der Weise verändert, dass damit eine sinnvolle Geschichte entsteht. Über eine solche narrierende Umgruppierung von Zeit liegen allerdings noch keine gesicherten empirischen Ergebnisse vor.
 

2.2 Wirklichkeitsbewusstsein

Die zweite Grundorientierung besteht darin, Personen und Handlungen die Prädikate "real" und "imaginär" zuzusprechen (Prentice 1978). Dass es Personen und Handlungen (in der Sprache) gibt, die erfunden (fiktiv) sind (Rotkäppchen, Asterix etc.), muss das Kind erst lernen. Vermutlich geht das Kind zuerst von der Existenz von (sprachlich verfügbar gemachten) Personen und Handlungen aus und lernt erst dann mühsam, Existenzvorbehalte zu machen. Wenn es schon mit Existenzvorbehalten umgehen kann, muss es sich öfter der Existenz von Personen und Sachverhalten fragend versichern. So einfach ist es mit historischen Personen nicht. Sie lassen sich nicht nach der Dimension "gibt es" und "gibt es nicht" differenzieren. Historische Ereignisse (Personen, Dinge, Sachverhalte) sind nicht "nicht-existierende", sondern nur gegenwärtig "nicht mehr" existierende Ereignisse.

Diese Ausdifferenzierung von gegenwärtigen, imaginären und historischen Personen und Ereignissen vollzieht sich im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung von Zeit in den Zeitdimensionen Vergangenheit und Gegenwart.

Lebensgeschichtlich muss die Nicht-Existenz imaginärer Personen (Weihnachtsmann, Rotkäppchen, Asterix, Eisenherz) gelernt werden. Es ist ganz sicher eine Fehlinterpretation, wenn man annimmt, die Unterscheidung von historischen und imaginären Personen wäre eine Denkleistung, die in der frühen Jugend abgeschlossen würde. Sicher ist dieser Aspekt des Geschichtsbewusstseins für die frühen lebensgeschichtlichen Phasen ein größeres Problem als für spätere. Es ist aber lediglich ein graduelles.

Eine Befragung bei Osnabrücker Studenten nach Personen wie Rasputin, Siegfried, Robin Hood, Romulus und Remus zeigte, dass die Imaginarität von Personen durchaus nicht eindeutig geklärt ist (5). (Beispiel: Prinz Eisenherz wurde von 11,1% der befragten Studenten als historisch, 73,5% als imaginär eingeordnet. 13,2% wussten sich nicht zu entscheiden.)

Aber auch bei historischen Situationen treffen wir die gleiche Problematik. Traum und Fiktion müssen vom Geschichtsbewusstsein einen Ort angewiesen bekommen. Das Geschichtsbewusstsein ordnet den imaginären Bestandteilen immer bestimmte (zeitliche und räumliche) Bereiche zu und nimmt ihnen dadurch zwar ihre Imaginarität, rückt sie aber gleichzeitig in räumliche und zeitliche Distanz: Das goldene Zeitalter wird in der Vergangenheit angesiedelt, die humanitär befriedete Welt in der Zukunft verortet. Die "gute alte Zeit" gab es in der vorindustriellen Periode, das Matriarchat als erste Vergesellschaftungsform wird in die Frühgeschichte verlegt. Das friedliche Miteinander ohne Normen und Zwänge findet sich in der Südsee, und die bäuerlich-kleinhandwerkliche Kommune ohne Arbeitsteilung geht auf das Land (bzw. nach Griechenland oder Kalifornien).

Das historische Denken ordnet seine Imaginationen, Träume und Utopien in den verschieden akzentuierten Zeitdimensionen an. Dem Geschichtsbewusstsein fällt somit die Funktion zu, unsere Wunschträume in der Zeit zu verorten (6).

Wirklichkeitsbewusstsein ist jener Aspekt von Geschichtsbewusstsein, der die Grenze zwischen real und fiktiv zieht. Das bedeutet zunächst nur, dass eine solche Grenze im Bewusstsein gezogen wird, noch nicht, wo sie gezogen wird. In den verschiedenen Kulturen erfolgt die Grenzziehung unterschiedlich. Aber dass solche Grenzen gezogen werden, ist die Voraussetzung für Geschichtsbewusstsein und gleichzeitig ein strukturierendes Strukturmoment selbst. Die jeweils konkret individuellen Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein, die als Bedingung ihrer Existenz diese Grenze gezogen haben, weisen Personen und Ereignissen ihren Platz diesseits und jenseits dieser Grenze zu: das jeweils konkret individuelle Geschichtsbewusstsein nimmt eine exakte Einordnung in einen dieser beiden Bereiche vor. Die Grenzziehung ist im individuellen Bewusstsein scharf und bewusst. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist diese Grenze keineswegs eindeutig gezogen. Davon zeugen die verschiedenen Mythen: Barbarossa, Friedrich der Große, Dolchstoßlegende, Hitlers "Wunder"-Waffen, "Stunde Null" etc.

Wollte man annehmen, dass die individuellen Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein nur diesseits der Grenze real-historisch ausgebildet seien, würde Geschichtsbewusstsein auf eine rein rationalistische Form festgelegt werden. Mythen, Legenden, Affabulationen würden als nicht zum Geschichtsbewusstsein gehörig betrachtet werden. Dass aber solche Mythen zum Geschichtsbewusstsein gehören, wissen wir aus der alltäglichen Erfahrung und kennen auch die ideologischen Bindewirkungen kollektiver Mythen. Aus dieser Tatsache resultiert eine wichtige Funktion von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik: historische Legenden und Mythen aufzulösen und das Wirklichkeitsbewusstsein zu schärfen.

 

2.3 Historizitätsbewusstsein

Die Unterscheidung der Zeitdimensionen im Zeitbewusstsein und der Realitätsgrade im Wirklichkeitsbewusstsein ist zunächst einmal für das einzelne Individuum statisch. Personen und Verhältnisse ändern und verändern sich aber. Sie veralten und verjüngen sich, sie werden und vergehen. Diese Kenntnis soll die Kategorie Historizitätsbewusstsein ausdrücken, der die Erkenntnis von Geschichtlichkeit zugrunde liegt (7). Geschichtlichkeit beruht auf einer grundsätzlichen und fundamentalen Syntheseleistung, die relativ spät aus den Basiskategorien von Zeitlichkeit und Realität gebildet wird. Die lebensweltlich erfahrene Historizität ist immer nur auf ein unmittelbares, direktes Erfahren und Handeln bezogen. Die Personen und Gegenstände, die erfahren und behandelt werden können, sind stets real und präsent. Die Historizität historischer Ereignisse lässt sich dagegen nur über Erzählungen und durch Denkakte erfahren.

Die Kategorie Geschichtlichkeit, bezogen auf das Bewusstsein, können wir als Historizitätsbewusstsein bezeichnen. Es bezeichnet das Wissen, dass Personen, Dinge und Ereignisse sich in der Zeit verändern, aber auch, dass bestimmte Dinge und Ereignisse sich nicht verändern - scheinbar in der kurzen Zeit der eigenen Lebensspanne unveränderlich sind. Die über die lebensweltliche Erfahrung hinausgehende Historizität lässt sich dann nur über historische Erzählungen (kommunikativ) erfahren.

Historizitätsbewusstsein bezeichnet aber nicht nur das Wissen um Veränderungsprozesse, sondern beinhaltet auch die Anwesenheit von alltäglichen "Geschichtstheorien" im Bewusstsein des einzelnen. "Alltägliche Geschichtstheorie" wird dabei sowohl im Sinne einer Theorie der Geschichte wie einer Theorie der Geschichtswissenschaft verstanden. Alltägliche Geschichtstheorie ist eine naive, nicht reflektierte, aber aus primären und sekundären Erfahrungen resultierende Annahme darüber, was Geschichte ist, was ihre Kraftzentren sind, was Geschichte verändert, was unveränderlich ist, was Gegenstand von Geschichte ist, was Geschichte mit einem selbst zu tun hat, d. h. die Entdeckung, dass man selbst der Historizität unterworfen ist und eine eigene Geschichte hat (Schacht 1978). Als alltägliche Theorie des historischen Wissens enthält das Historizitätsbewusstsein auch Annahmen darüber, woher wir etwas über vergangene Zeiten wissen können.

Zusammengefasst gesagt, bezeichnet Historizitätsbewusstsein jenen Aspekt von Geschichtsbewusstsein, der Angaben darüber enthält, was im historischen Prozess veränderlich ist und was statisch bleibt, wer oder was diese Veränderungen bewirkt (gibt es ein Subjekt der Geschichte und wenn ja, wer ist dieses). Historizitätsbewusstsein drückt ferner das Wissen um die Differenz von Natur und Geschichte aus.

 

2.4 Identitätsbewusstsein

Identitätsbewusstsein beruht auf der Erfahrung, dass einzelne Menschen wie auch Menschengruppen sich ändern und doch mit sich selbst identisch bleiben. Als Kategorie des Geschichtsbewusstseins ist es das Bewusstsein, zu verschiedenen Gruppen "wir" sagen zu können und sich damit von anderen ("sie"; "ihr") abzugrenzen (8). Identitätsbewusstsein ist aber nur dann ein Strukturmoment von Geschichtsbewusstsein, wenn dies "wir" in zeitlicher Dimension gesehen wird, d. h. durch Verweis auf vergangene Handlungen der Bezugsgruppe, die als Identifikationsobjekt gewählt wird, Identität begründet. Identität als Strukturmoment von Geschichtsbewusstsein ist somit eine Orientierung in diachroner Weise.

Das Individuum sagt zu verschiedenen Gruppen "wir". Diese Gruppen variieren in der Größe: unsere Familie, unser Verein, unsere Stadt, unsere Nation (Devereux 1984b) etc. Das Individuum identifiziert sich mit den Mitgliedern dieser verschiedenen und verschieden großen Gruppen. Wir können deshalb von der Größe des identitiven Raumes des Individuums sprechen (Vgl. Streit 1982). Die Wir-Ihr-Differenzierung ist in der Regel mit einer Verteilung von sozialen Wertigkeiten verknüpft (9). Die Ihr-Gruppen (besonders wenn es sich um Minderheiten handelt, die der allgemeinen Norm nicht folgen) werden somit abgewertet. Die Ihr-Gruppe ist nicht "unseresgleichen", sie ist anders, fremd.

Den Mechanismus, der zu einem Identitätsbewusstsein, zu einem Kollektivbewusstsein führt, hat Piaget ausführlich analysiert (Piaget, Weil 1976). Piaget beschreibt das Verhältnis, dass das Kind zu übergeordneten Kollektiven eingeht, als logische und affektive Dezentralisierung. Zu Anfang der individualgeschichtlichen Entwicklung betrachtet das Kind sich selbst als den einzig logisch und affektiv möglichen Standpunkt (Egozentrismus). Es nimmt an, dass der Standpunkt, den es selbst vertritt, von allen geteilt wird.

Auf der ersten Stufe kann das Kind zwar wir und ihr unterscheiden, aber diese Unterscheidung gilt radikal. Ein Osnabrücker kann kein Deutscher sein und ein Deutscher kann kein Osnabrücker sein. Deutscher und Osnabrücker sind räumlich und logisch verschiedene Klassen. Ebenso kann ein Deutscher kein Europäer sein und Europäer kann kein Deutscher sein.

Auf der zweiten Stufe kann das Kind schon die räumliche, aber noch nicht die logische Inklusion vollziehen. Deutschland liegt in Europa, aber dennoch kann ein Deutscher kein Europäer sein. Auf der affektiven Ebene kann es aber auch schon eine affektive Dezentrierung vornehmen. Andere Länder, andere Bezugsgruppen können ihm schon gefallen, aber nur, wenn sie einem Mitglied der Familie gefallen. Das Kind ist in der Lage, seine Affekte auch auf Gruppen zu zentrieren, die außerhalb der eigenen liegen (Dezentrierung); hier wäre der Übergang zur diachronen Identität zu sehen.

Auf der dritten Stufe nimmt das Kind die kollektiven Stereotypen an, die eine jede Wir-Gruppe von sich entwirft (10).

 

2.5 Politisches Bewusstsein

Politisches Bewusstsein als Strukturmoment von Geschichtsbewusstsein ist hier im engeren Sinne von "politisch" gemeint - es soll als Herrschaftsbewusstsein verstanden werden. Hier ist nicht "staatsbürgerliche Kompetenz" gemeint (Steiner 1984), das Wissen von Verfassungsorganen und deren Wirkungsweise, sondern der Sachverhalt, dass Gesellschaften durch Herrschaft geordnet sind. Immer dort, wo von Geschichte die Rede ist, haben wir es mit asymmetrisch verteilten Machtverhältnissen zu tun. Dieses Bewusstsein, dass gesellschaftliche Verhältnisse von Machtverhältnissen durchdrungen sind, ist etwas, was nicht allein durch Unterricht oder Unterweisung allgemein vermittelt wird, sondern gehört zu den sehr frühen lebensgeschichtlichen Erfahrungen:

"Psychologisch betrachtet gehören die Dimensionen groß - klein und Macht - Ohnmacht in die prägenitale Entwicklung, sind also ein außerordentlich frühes und grundlegendes Problem." (Horn 1968)

Wenn dieses Herrschaftsbewusstsein schon sehr früh erworben wird, so bedeutet das noch nicht, dass späteres Lernen kaum noch Einfluss darauf hat. Geschichtsunterricht sollte sich vor allem darüber im klaren sein, wo Schüler die Macht lokalisieren. Dieses Wissen ist für die Geschichtsdidaktik wichtig, wenn Geschichtsunterricht überhaupt einen Beitrag zur politischen Bildung leisten will:

"Die Macht konzentriert sich nach Ansicht der Schüler in den Verfassungsorganen Regierung, Parteien und Parlament (in dieser Reihenfolge). Auch den Organen des Pressewesens kommt danach eine beträchtliche Macht zu, sie haben mehr Macht als die Gewerkschaften, welche wiederum mehr Macht als die Arbeitgeberverbände auf sich vereinigen.... ,Macht' wird von den Schülern hier als politische Macht verstanden, für die man sich alternative Konstellationen kaum vorzustellen vermag" (Urban 1976).

Dass wirtschaftliche Institutionen Macht ausüben, wird in der Regel von Schülern nicht gesehen. "Daraus muss nach unserer Ansicht abgeleitet werden, dass wirtschaftliche Macht einen weißen Fleck auf der Landkarte des politischen Schülerbewusstseins darstellt" (Urban 1976: 115).

 

2.6 Ökonomisch-soziales Bewusstsein

Zur Wahrnehmung historisch-gesellschaftlicher Sachverhalte gehört auch die Wahrnehmung von sozial-ökonomischen Unterschieden. Die Kategorien arm - reich werden zwar durch die Kategorien "oben" und "unten" überlagert, sind mit ihnen aber noch nicht identisch. Die Wahrnehmung von sozialen Unterschieden in historischen Darstellungen sowie die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit in der Gegenwart ist an die Erfahrung dieser Prädikate in der alltäglichen kindlichen Umwelt gebunden.

Kinder lernen schon sehr früh die Begriffe arm und reich zu gebrauchen und richtig anzuwenden. Ob die Begriffe arm und reich heute historisch veraltet sind (Wacker 1976: 62) und auf unsere Gegenwart nicht mehr passen, ist hier nicht so wichtig. Ein Bewusstsein von gesellschaftlicher Ungleichheit ist dennoch vorhanden, wie auch neuere Untersuchungen zeigen (Leahy 1981). Kinder haben aber bestimmte Schwierigkeiten, sich selbst und ihre Familie in diesem Bezugssystem unterzubringen: "Dieselben Kinder, die in der Mehrzahl angeben, in ihrem Bekanntenkreis seien mehr arme Leute zu finden, nehmen wiederum in der Mehrzahl ihre Eltern aus" (Wacker 1976: 70). Sie können wohl ihre Umwelt nach den Kategorien "arm" und "reich" einschätzen, haben aber offensichtlich Schwierigkeiten in der Selbstlokalisation.

Der gleiche Tatbestand wird aus der Berliner Kinderladenbewegung berichtet:

"Auch bei Gegenüberstellungen wie: reiche Kapitalisten, die immer reicher werden, arme Arbeiter, die relativ verarmen, stießen wir häufig auf den Widerstand der oder besser die Abwehr der Kinder: Sie wollten ihre Eltern keinesfalls als arm hingestellt sehen, sondern betonen wider allen Augenschein, wie gut sie doch verdienten und wohnten, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sein könnten" (Autorenkollektiv am psychologischen Institut der Freien Universität Berlin 1971:124; zitiert nach Holzkamp 1973: 228)

Hier treten offensichtlich bewusstseinsinterne Konflikte auf, die zu Schwierigkeiten führen, die einzelnen Strukturmomente "ökonomisches" und "moralisches Bewusstsein" (11) in einem Gesamtkonzept zu integrieren.

Wacker berichtet, dass die Schüler mit einem "inkongruenten Erklärungsmodell" die Ursachen von arm und reich erklären wollten. "Während Armut überwiegend als durch unbeeinflussbare Gegebenheiten ... verursacht gesehen wird, soll Reichtum wesentlich die Frucht individueller Bemühungen sein" (Wacker 1976: 76). Arm ist eine Eigenschaft von Personen, die von außen kommt, Reichtum dagegen ist eine Eigenschaft, die die Person der eigenen Tüchtigkeit (Begabung, Fleiß...) verdankt (externe und interne Kausalattributation).

Daran scheint Geschichtsunterricht nicht ganz unbeteiligt zu sein. Unsere Schulbücher verstärken diese inkongruenten Erklärungsmuster:

  • "Weitblickende Unternehmer stampften die neuen Industrien aus dem Boden" (Geschichte für die Hauptschule 1981: 21).
  • "Die Unternehmer in der frühen Zeit der Industrialisierung kamen meist aus bürgerlichen Familien und arbeiteten sich durch Sparsamkeit, Können, Erwerbssinn und nüchtern abwägendes Gewinnstreben empor" (Geschichtliche Weltkunde 1975: 168).
  • "Der große Bevölkerungszuwachs ... brachte vielen Menschen die Sorge: wie das tägliche Brot erwerben? Woher Wohnung nehmen?... " ( Geschichtliche Weltkunde 1975: 171).

Armut und Reichtum als gesellschaftliche Kategorien, die auch gesellschaftlichen Ursprungs sind, werden hier auf Persönlichkeitsmerkmale reduziert: auf Weitsicht und Tatkraft einerseits und auf Hilflosigkeit andererseits.

Die jüngste (mir bekannte) Untersuchung (Leahy 1981), an die eine Analyse des ökonomischen Bewusstseins anknüpfen könnte, versucht, die Entwicklung von Schichtungskonzepten in Begriffen der kognitiven Entwicklung zu beschreiben. Sie untersucht zwei allgemeine Trends der kognitiven Entwicklung und der sozialen Wahrnehmung: Zwischen Kindheit und Adoleszenz findet ein Wandel in der Betonung von beobachtbaren "peripheren" zu vermuteten psychologischen oder "inneren" Eigenschaften von Personen statt. Zweitens, die Betonung jüngerer Kinder von Verhalten und äußerer Erscheinung ist verbunden mit Berufs- und Geschlechtsrolle.

 

2.7 Moralisches Bewusstsein

Eine geschichtsdidaktisch gerichtete Theorie des Geschichtsbewusstseins stößt immer wieder auf die kognitiven Schwierigkeiten beim Umgang mit moralischen Prinzipien. Die Welt historischer Sachverhalte wird "moralisiert", d. h. es wird nach den zugrunde liegenden Motivationen und den Begründungsformen von Handlungen gefragt, und diese werden dann gewertet. Historische Ereigniszusammenhänge werden als gut oder schlecht, historische Handlungen als richtig oder falsch klassifiziert. Darüber hinaus finden sich Formen des moralisierenden Deutens (Vorsehung, Verschwörung, Dolchstoß etc.) historischer Entwicklungsprozesse. Dennoch ist uns im Moment noch völlig unbekannt, welche Bedeutung moralische Prinzipien für die Wahrnehmung und Deutung von Geschichte haben.

Moralisches Bewusstsein allgemein besteht in der Selbstobligation gegenüber sozialen Normen (12). Es ist deshalb nach den sozialen Normen und deren Bindung zu fragen. Hinsichtlich der Wahrnehmung und Deutung von Geschichte besteht moralisches Bewusstsein in der Fähigkeit, die Prädikate gut und böse nicht willkürlich oder zufällig, sondern nach Regeln anzuwenden.

Hier stellen sich für das Geschichtsbewusstsein zwei Probleme, von denen das eine Geschichte als Prozess und das andere die Verstehbarkeit historischer Situationen betrifft.

  • Im Kohlbergschen Konzept geht es nicht darum, ein historisches Ereignis richtig oder falsch, gut oder schlecht, akzeptabel oder verwerflich zu finden: ob die Bauern im Bauernkrieg "richtig" handelten, als sie zur Gewalt griffen, ob der gesellschaftliche Umsturz 1918/19 richtig oder verwerflich war, ob die Verschwörer des 20. Juli das tun durften oder nicht, was juristisch Hochverrat war, ist nicht Gegenstand einer genaueren Analyse des moralischen Urteils in der Geschichtsdidaktik. Hier geht es einzig und allein darum, welche Argumentationsniveaus für Pro- oder Contra-Entscheidungen benutzt wurden. Auf jeder der 6 Kohlbergschen Argumentationsstufen ist zu jedem Ereignis eine Pro- und eine Contra-Haltung möglich.

Die vorfindbaren moralischen Argumentations- und Begründungsmuster lassen sich hierarchisch ordnen (Egozentrik, Heteronomie, Autonomie), und diese Hierarchie bringt einen entwicklungslogischen Zusammenhang zum Ausdruck. Es spricht vieles dafür, dass die Entwicklung des moralischen Bewusstseins einem rational nachkonstruierbaren Muster folgt. Über diesen Entwicklungsgang des moralischen Bewusstseins geben uns die Untersuchungen von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg Auskunft. Nach Kohlberg vollzieht sich das moralische Bewusstsein in sechs Stufen (13).

Die Untersuchung von moralischen Argumentationsformen, die sich auf historische Ereignisse beziehen, erlaubt eine zureichendere Analyse des historischen Handlungszusammenhanges als bisher. Ein Konzept wie das von Kohlberg, das allgemeine Menschheitsgeschichte und individuelle Lebensgeschichte verknüpft, vermeidet es, den Schülern die unterschiedlichen Handlungsorientierungen und Wertsysteme in der Geschichte als ein buntes, beliebiges und zufälliges Kaleidoskop kontingenter Ereignisse ohne eine bestimmte Entwicklungslogik vorzustellen. Wenn die Muster moralischen Handelns stets kontingent wären, wäre eine historistische Relativierung begründet. Eine solche Annahme schränkt die historischen Erkenntnismöglichkeiten ein, man kann aber mehr erkennen, als der Historismus für möglich hielt.

  • Während wir moralisches Bewusstsein im alltäglichen Leben wie auch moralisches Bewusstsein in hypothetischen Situationen bei Kindern relativ früh finden, ist damit noch nicht entschieden, wie ihr moralisches Bewusstsein mit historischen Situationen umgeht. Was vom einzelnen Individuum hier gefordert ist, ist eine Verbindung der Basisorientierungen (Realität, Zeit, Geschichtlichkeit) mit dem moralischen Bewusstsein. Es scheint so, dass eine Verknüpfung von moralischem Bewusstsein und dem Bewusstsein von Geschichtlichkeit im weiteren Sinne erst auf einer zeitlich ziemlich späten lebensgeschichtlichen Stufe erfolgt. Auf der frühen Phase werden moralische Urteile für historische Situationen analog zu gegenwärtigen hypothetischen Situationen vorgenommen, ohne dass das Bewusstsein von Geschichtlichkeit dabei leitend wäre. Dass das moralische Bewusstsein als Komponente von Geschichtsbewusstsein nicht allein von Entwicklungs- und Sozialpsychologie hinreichend analysiert werden kann, zeigt die immer noch vorhandene Interpretationsregel des Historismus. Dem Historismus ist ein ethischer Relativismus eigen, der die "Geltung moralischer Urteile allein an Rationalitäts- oder Wertstandards derjenigen Kultur- und Lebensform bemisst", die verstanden werden soll und nicht an der, der das urteilende Subjekt angehört (Habermas 1983: 132)! Dass das nach den Erfahrungen mit dem Faschismus nicht mehr gelten kann, ist zwar theoretisch plausibel, trifft aber noch nicht die aktuelle Praxis. Wir müssen vielmehr von der Existenz eines kindlichen Historismus ausgehen, der alles legitimiert, weil es eben "damals" so üblich war (14).
 

3. Individuelles Geschichtsbewusstsein und Sinnbildungsprozesse - Versuch einer Matrix

Wenn Geschichtsbewusstsein strukturiert ist, d. h. über die oben ausgewiesenen kategorial wirkenden Strukturmomente definiert ist, ergibt sich daraus der praktische Aspekt. Eine solche Strukturierung kann als Dimensionierungsvorschlag für empirische Forschung sowie als Diagnose-, Analyse- und Planungsinstrument in einer geschichtsdidaktischen Pragmatik Verwendung finden. Die Strukturbestimmung macht Geschichtsbewusstsein für Empirie erforschbar und für Pragmatik identifizierbar. Wir wissen dann, wann wir Geschichtsbewusstsein vor uns haben und wann nicht. Das ist der anfangs skizzierte normative Aspekt.

Bisher ist aber nur von Strukturmomenten die Rede gewesen. Es wurde vorausgesetzt dass diese Momente eine Struktur bilden. Deshalb müssen jetzt noch einige Hypothesen über das Zusammenwirken der Strukturmomente angefügt werden. Das Zusammenwirken der einzelnen Strukturmomente von Geschichtsbewusstsein kann man vielleicht am besten durch eine Matrix ausdrücken (15), in der die Flächen, Linien, Punkte kategorial verfasste und noch nicht inhaltlich gefüllte Potentionalitäten der möglichen Ausprägung von Geschichtsbewusstsein bedeuten. Das Matrixmodell hat den Vorteil, dass das Geschichtsbewusstsein nicht durch die verschiedenen Inhalte (unterschiedliches Wissen) erklärt wird, sondern durch die prinzipiell gleichen Kategorien.


Abb1

Abb. 1: Idealtypische Strukturierung

Diese Struktur, dieses Gitterwerk, hätte die Funktion, dargestellte Geschichte wahrnehmbar zu machen. Das würde aber noch nicht die verschiedenen individuellen Ausprägungen des Geschichtsbewusstseins erklären. Geschichtsbewusstsein hat aber nicht nur eine Wahrnehmungsfunktion, sondern auch eine Deutungsfunktion, und diese Deutung erfolgt individuell und soziokulturell unterschiedlich. Es sind zwar alle Strukturmomente an der (intellektuellen) Verarbeitung und Deutung von Geschichte beteiligt, aber nicht alle in gleicher Weise.

Die bisher vorgestellte Struktur sagt noch nichts darüber aus, wie ein konkret individuelles Geschichtsbewusstsein aussieht und sich von dem Geschichtsbewusstsein eines anderen Individuums unterscheidet. Eine solche Strukturbestimmung sagt vorerst auch nichts darüber aus, was passiert, wenn Geschichtsbewusstsein lebensgeschichtlichen Wandlungsprozessen unterworfen wird. Solche Wandlungen ergeben sich bei einschneidenden lebensgeschichtlichen Erfahrungen in historischen Situationen oder Ereignisketten und durch Denkprozesse über Geschichte, durch Nachdenken, das allerdings durch Gegenwartserfahrungen ausgelöst wird. Eine tiefgreifende Veränderung des Geschichtsbewusstseins - vielleicht die wichtigste - erfolgt in der Adoleszenz. Nicht, dass jetzt erst Geschichtsbewusstsein ausgebildet würde, wie die ältere Entwicklungspsychologie noch behauptet, sondern es erfolgt in der Adoleszenz eine tiefgreifende Umstrukturierung. Daraus müssen für eine elaborierte Theorie des Geschichtsbewusstseins Konsequenzen gezogen werden: Die Struktur des Geschichtsbewusstseins, die zunächst noch statisch ist, muss dynamisiert werden: sie muss individuelle Unterschiede wie lebensgeschichtliche Wandlungen erklären.

Die Struktur wird durch sozial und individuell unterschiedliche Kombinationen von Strukturmomenten gebildet. Das macht die Pluralität von Geschichtsbewusstsein aus.


Abb. 2

Abb. 2: Konkret-individuelle Strukturierung

Bestimmte soziale und individuelle Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein beinhalten die für sie typische Dominanz von bestimmten Strukturmomenten und verweisen die anderen auf einen niedrigeren Rangplatz. Es gibt somit basale und ephemere Strukturmomente in den einzelnen Typen von Geschichtsbewusstsein. Ob allerdings im Laufe der Lebensgeschichte das Kontinuum von basalen bis ephemeren das gleiche bleibt, ist damit noch nicht gesagt.

Es ergeben sich also "Verzerrungen" der Strukturierung, die nicht nur individuelle Verschiedenheit ausdrücken, sondern darüber hinaus auch die Sinnbildungsprozesse bei der kreativen Produktion wie auch bei der produktiven Transformation von Geschichten anzeigen können. Wo sich die Strukturverzerrungen kumulieren, wäre also die individuell eigenartige "Sinnmitte" des Geschichtsbewusstseins zu lokalisieren, die die Ereignisbeschreibungen zu sinnvollen Geschichten erzählt. Sinnbildungsprozesse müssen von einem anfangs "leeren" Sinnzentrum ausgehen, wenn es sich um Bildungsprozesse handelt, also um solche Prozesse, in denen etwas entsteht. Sinnbildung entsteht somit durch Verzerrung der idealtypischen Struktur, d. h. einzelne Dimensionen verschieben sich und bilden damit ein Sinnzentrum aus.

Konkrete Formen von Geschichtsbewusstsein könnten etwa dann in den folgenden Arten beschrieben werden:

  • Traditionelle Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein aktualisieren aus dem Potential der Möglichkeiten lediglich die Dimensionen der staatlich verfassten Macht und Herrschaft in der als Nation organisierten Wir-Gruppe.
  • Dieser traditionell bürgerlichen Ausprägung von Geschichtsbewusstsein steht ein nicht weniger traditionelles, sich antibürgerlich gebendes Geschichtsbewusstsein gegenüber. Hier wird die Wir-Gruppe am unteren Ende der ökonomischen Stratifikation angesiedelt. Das Historizitätsbewusstsein ist auf die Aufhebung aller ökonomischen Stratifikationen und der daran gebundenen Herrschaftsverhältnisse gerichtet.
  • Neuere Bewusstseinsformen setzen die Definition der Wir-Gruppe zwar auf der Seite der ohnmächtigen und ökonomisch Abhängigen an. Konstitutiv ist aber, dass sie sich in der Objektrolle, der Rolle der Leidenden, aber moralisch Mächtigen sehen. Legitimation ergeben nicht die stolzen Taten der Vergangenheit, sondern die antizipierten Schrecken der Zukunft (16).

Über die Beschreibung von Geschichtsbewusstsein durch die ausgewiesenen Doppelkategorien ließe sich sicherlich hinsichtlich Vollständigkeit und zureichender Definition der einzelnen Momente diskutieren. Mein Vorschlag zielt in erster Linie aber auf zwei mir wichtig erscheinende Punkte:

  1. Es gilt, Geschichtsbewusstsein als ein komplexes Gebilde aufzufassen, das sich durch kategorial wirkende Strukturen auszeichnet und sich nicht über die Anwesenheit oder Abwesenheit von historischem Wissen definiert.
  2. Geschichtsbewusstsein ist nicht nur eine formale Orientierung in der historischen Zeit, sondern eine sozial-politische Orientierung über sich wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse.

Wollte man die ersten drei Strukturmomente (Zeit, Wirklichkeit, Historizität), die in der Tat eine grundlegendere Ebene des Geschichtsbewusstseins bilden als die übrigen vier (Identität, Herrschaft, Sozialschicht, Moral), allein zur Definition von Geschichtsbewusstsein heranziehen, so würde Geschichtsbewusstsein entpolitisiert und dem Gesamtbereich "Geschichte" nur sehr verkürzt Rechnung getragen.

 

Anmerkungen

1 Vor zehn Jahren habe ich mit Ulrich Mayer den Versuch gemacht, "Kategorien der Geschichtsdidaktik" über die Analyse von Sprachverwendung und Sprachhandeln zu erkennen. Dieser Ansatz - damals zum Zwecke der Unterrichtsanalyse unternommen - kann auch für die empirische Erforschung von Geschichtsbewusstsein genutzt werden. Vgl. Mayer, U.; Pandel, H.-J. (1976) Kategorien der Geschichtsdidaktik und Praxis der Unterrichtsanalyse. Stuttgart.

2 Um die Kategorie Zeit sprachlich erkennbar zu machen, ist die linguistisch gerichtete Untersuchung von Wunderlich immer noch unübertroffen. Vgl. Wunderlich, D. (1970) Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, München. Zu dieser und den folgenden zwei Hinsichten vgl. Riegel, K. (1978) Versuch einer psychologischen Theorie der Zeit. In: Rosenmayr, L. (Hrsg.) Die menschlichen Lebensalter. München, 269-292.

3 Zu dieser und den folgenden zwei Hinsichten vgl. Riegel (1978).

4 Vgl. auch die Analysen von Autobiographien, die Bodo von Borries in seinem Beitrag in Gd 1/1987 vorgelegt hat.

5 Diese Ergebnisse verdanke ich der Arbeitsgruppe Barbara Glosemeyer, Frank König, Stefan Oelschig und Martin Pohimann, die sich der Mühe unterzogen haben, die hier vorgeschlagenen Doppelkategorien in einer ersten empirischen Untersuchung bei Osnabrücker Studenten zu testen.

6 Anschauungsmaterial hierfür findet sich in der Debatte der letzten Jahre über die "Deutsche Frage" und "Wiedervereinigung". Die zeitliche Verortung der eigenen Wünsche gilt als real; Illusionen und falsche Vorstellungen sind immer bei den anderen zu finden.

7 Ob der von mir gebrauchte Begriff der Geschichtlichkeit mit der "Geschichtlichkeit" der Geschichtsphilosophie Gemeinsamkeiten hat, kann hier nicht ausdiskutiert werden. Zur Orientierung vgl. Bauer, G. (1963) Geschichtlichkeit. Wege und Irrwege eines Begriffs. Tübingen.

8 Vgl. Meier (1985) "Nichts zeigt die Schwierigkeit, die wir mit der Geschichte haben, so deutlich wie unsere Unfähigkeit, in der zeitlichen Dimension Wir zu sagen; unsere Vorfahren also einzuschließen, in ein Ganzes, dem auch wir selbst angehören. Mit elf Männern auf dem Rasen können wir uns identifizieren, wenn wir etwa 2 zu 0 gegen Wales spielen. Aber dass wir 1870/71 gegen Frankreich gekämpft hätten - um vom Zweiten Weltkrieg zu schweigen -, sagen wir nicht. So etwas sprechen wir distanzierend ,den Deutschen' zu. Unsere Großväter dagegen konnten meinen, im Jahre 9 nach Christus die Römer im Teutoburger Wald besiegt zu haben. Sie lasen Tacitus' Germania, um über sich selbst etwas zu erfahren. Sie fühlten sich mit Vatermörder und Zylinder den alten Germanen verwandter als den Franzosen ihrer Zeit".

9 Vgl. dazu das Kapitel 2.7.

10 Ein kritischer Punkt bei bundesrepublikanischen Schülern ist ihr Verhältnis zu Kommunisten (bzw. was sie dafür halten) und zur DDR. Ein "richtiger" Deutscher kann kein Kommunist sein, aber gleichwohl sind Kommunisten wieder Deutsche. Das Verhältnis zur DDR ist ebenso problematisch. Bundesrepublik und DDR werden nicht als zwei Teile einer ursprünglich staatlichen und kulturellen nationalen Einheit angesehen, sondern die DDR erscheint den Schülern als ein abgetrennter Teil der Einheit Bundesrepublik. Vgl. dazu das Anschauungsmaterial, das Boßmann geliefert hat: Boßmann, D. (Hrsg.) (1978) Schüler über die Einheit der Nation, Ergebnisse einer Umfrage. Frankfurt/M.

11 Vgl. dazu Kapitel 2.7.

12 Vgl. Pandel, H.-J. (1985) Moralische Entwicklung. In: Bergmann, K. (1985) u. a. (Hrsg.) Handbuch der Geschichtsdidaktik. Düsseldorf, 279-286. und Miller, M. (1980) Zur Ontogenese moralischer Argumentationen. In: LiLi 10, Nr. 38/39, 58-109.

13 Vgl. die Zusammenfassung bei Pandel (1985).

14 Erste empirische Voruntersuchungen scheinen diesen Tatbestand des kindlichen Historismus zu bestätigen.

15 Den Gedanken des Matrixmodells verdanke ich meinem Osnabrücker Kollegen Walter Aschmoneit, der mich an den verschiedenen Stufen seiner Ausformulierung teilnehmen ließ. Dieses Matrixmodell ist von Walter Aschmoneit zum Zwecke der transkulturellen Analyse entwickelt worden. Vgl. Aschmoneit, W. (1985) Kulturvergleich, Entwicklung und Matrixmetapher (mit Beispielen aus der Kultur Kambodschas). In: Internationales Asienforum 16 (3/4), 215-244.

16 Dass hier auch komparatistische Arbeiten als Strukturvergleiche möglich sind, soll nur angemerkt, aber nicht mehr ausgeführt werden.

 

Literatur

Aschmoneit, Walter (1985): Kulturvergleich, Entwicklung und Matrixmetapher (mit Beispielen aus der Kultur Kambodschas). In: Internationales Asienforum. Jg. 16 (3/4), Seite 215-244.

Autorenkollektiv am psychologischen Institut der Freien Universität Berlin 1971.

Bauer, Gerhard (1963): Geschichtlichkeit. Wege und Irrwege eines Begriffs. Tübingen.

Borries, Bodo von (1987): Geschichtslernen und Persönlichkeitsentwicklung. Aufgewiesen an autobiographischen Zeugnissen über die Zeit um den Ersten Weltkrieg. In: Geschichtsdidaktik. Jg. 12 (2), Seite l ff.

Boßmann, Dieter (Hg.) (1978): Schüler über die Einheit der Nation, Ergebnisse einer Umfrage. Frankfurt/M. : Fischer-Taschenbuch [11].

Devereux, George (1984a): Ethnopsychoanalyse. 2. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp [12].

Devereux, George (1984b): Die ethnische Identität. Ihre logischen Grundlagen und ihre Dysfunktionen. In: ders.: Ethnopsychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp [12], Seite 131-169.

Geschichte für die Hauptschule. (1981): 8. Jahrgangsstufe. Donauwörth: Auer.

Geschichtliche Weltkunde. (1975): Bd. 2. Frankfurt/M.: Diesterweg.

Habermas, Jürgen [13] (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt/M.: Suhrkamp [12] Taschenbuch.

Holzkamp, Klaus (1973): Sinnliche Erkenntnis. Frankfurt/M.: Athenäum.

Horn, Klaus (1968): Über den Zusammenhang zwischen Angst und politischer Apathie. In: Marcuse, Herbert u.a.: Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp [12], Seite 68ff.

Leahy, Robert L. (1981): The Development of the Conception of Economic Inequality. I. Descriptions and Comparisons of Rich and Poor People. In: Child Development. Vol. 52 (2), Seite 523-532.

Mayer, Ulrich; Pandel, Hans-Jürgen (1976): Kategorien der Geschichtsdidaktik und Praxis der Unterrichtsanalyse. Stuttgart: Klett [9].

Meier, Christian (1985): Die Deutschen im Niemandsland. In: FAZ [14] 24. 8. 1985.

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Pandel, Hans-Jürgen [1] (1985): Moralische Entwicklung. In: Bergmann, Klaus u. a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Düsseldorf: Schwann, Seite 279-286.

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Wacker, Ali (1976): Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation sozialer Ungleichheit. In: ders. (Hg.): Die Entwicklung des Gesellschaftsverständnisses bei Kindern. Frankfurt/M.: Campus, Seite 60-87.

Wunderlich, Dieter (1970): Tempus und Zeitreferenz im Deutschen. München: Hueber.

 

Süssmuth, Hans (1988): Kooperation von Geschichte und Politik

 

1. Systematische und historische Einordnung des Themas

Die Frage nach Chancen und Grenzen der Kooperation von Geschichte und Politik stellt sich gleichermaßen für Curricula der Primarstufe, der Sekundarstufen und der wissenschaftlichen Hochschulen. Zu leisten ist wissenschaftstheoretische Legitimierung und methodische Absicherung. Das Thema ist durch zwei gescheiterte Versuche belastet:

Nach der Saarbrückener Rahmenvereinbarung von 1960 sollten die Schulfächer Geschichte, Geographie und Sozialkunde für die Oberstufe des Gymnasiums als Fach [/S. 543:] Gemeinschaftskunde zusammengefügt werden. Die Mehrzahl der Geschichtslehrer und der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands traten für die Beibehaltung eines eigenständigen Geschichtsunterrichts ein. Trotz des Auftrages, das Fach Gemeinschaftskunde einzuführen, blieb es in den meisten Bundesländern bei einer Addition der dominierenden Fächer Geschichte und Geographie. Da an dem Anspruch festgehalten wurde, pB werde durch historische Bildung mit abgedeckt, verzichteten die Historiker darauf, neue fächerübergreifende geschichtsdidaktische Ansätze zu entwickeln.

Erneut in die Defensive gedrängt sahen sich Historiker und Geschichtslehrer, als 1973 mit den Hess. Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre (HRRG) ein Fach konzipiert wurde, das die volle Integration eines reduzierten Geschichtsunterrichts in ein sozialwissenschaftliches Curriculum vorsah. Mit der Einführung der HRRG wurde die bisherige Praxis schulischer Lehrplanrevision insofern durchbrochen, als die Priorität der fachwissenschaftlichen → Bezugsdisziplinen für curriculare Entscheidungen des Schulfaches in Frage gestellt wurde und eine stärkere Gesellschaftsorientierung zum Tragen kam. Der Ansatz war konsequent lernzielorientiert, erwies sich mit dem Leitziel → Emanzipation jedoch als politisch nicht konsensfähig. Hinzu kam, dass die den fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen spezifischen Fragestellungen, Begriffe und Methoden, d. h. die jeweilige Struktur der Disziplinen nicht berücksichtigt war. Ungelöst blieb auch das Problem der Lehrerausbildung für das neue Unterrichtsfach. Die Diskussion wurde auf zwei Ebenen geführt. Wissenschaftliche und politische Argumente standen nebeneinander und vermischten sich bisweilen. Als Ergebnis lässt sich zusammenfassen, dass weder die wissenschaftstheoretischen Grundlagen erarbeitet noch die personellen Voraussetzungen zur Realisierung der HRRG vorhanden waren oder der notwendige politische Konsens bestand.

 

2. Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen

Die von den Historikern in der Bundesrepublik geführte neuere Theoriediskussion hat eine Reihe von Ursachen. Sie lagen zu einem Teil in fachinternen Richtungskämpfen, zum anderen in externen Herausforderungen. Nach 1945 hatte sich, insbesondere im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Geschichte des »Dritten Reiches«, verschärft die Frage gestellt, ob die in der Tradition des Historismus stehende Geschichtswissenschaft in der Lage sei, historische Phänomene wie den Totalitarismus zu erforschen. Für die Erschließung von Motiven, Entscheidungen, Handlungen historischer Persönlichkeiten reichten die Instrumente der traditionellen Geschichtswissenschaft aus. Es wurde aber problematisiert, ob Konzentration auf die historische Individualität, hermeneutisch verstehende Auslegung, Verstehen historischer Phänomene aus den eigenen Bedingungen und nach den Maßstäben der eigenen Zeit ausreichten, um die Strukturen einer historischen Zeit wie der des Nationalsozialismus zu erklären. Das vorherrschende theorieskeptische historistische Paradigma wurde kritisiert. In diesem Zusammenhang ist die Diskussion der 50er Jahre zu sehen, sozioökonomische, soziopolitische und soziokulturelle Phänomene, Strukturen und Prozesse in die Forschung einzubeziehen. Strukturgeschichte war einer der Schlüsselbegriffe.

Die Auseinandersetzung der Historiker war auch eine Reaktion auf die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die systematischen Sozialwissenschaften, [/S. 544:] insbesondere → Politikwissenschaft und → Soziologie, die sich an den Universitäten etabliert hatten und mit ihrem Instrumentarium, ihren Methoden, Fragestellungen, Theorien für die anstehenden Probleme der Gesellschaft Lösungsmöglichkeiten anboten. Das führte zu einem Statusverlust der Geschichtswissenschaft. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass das Unterrichtsfach Geschichte in den Schulen zurückgedrängt wurde, was wiederum zu einer Gegenbewegung der Historiker und der Geschichtslehrerverbände führte. Von einem Teil der Historiker wurde der Ruf nach Öffnung gegenüber den systematischen Sozialwissenschaften aufgegriffen, da deren Instrumente die Erforschung von Strukturen und Prozessen, also von überindividuellen Phänomenen, ermöglichte. Es ging auch darum, verlorene Positionen in der öffentlichen Diskussion, in den Universitäten, im Schulcurriculum zurückzugewinnen.

In den frühen 70er Jahren vertrat eine jüngere Gruppe von Historikern, beeinflusst von der Frankfurter Schule, eine praktisch engagierte Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht. Sie verstanden Geschichtswissenschaft als Historische Sozialwissenschaft oder Gesellschaftsgeschichte. In einer Reihe von Publikationen und in der neu gegründeten Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft« forderten sie Kritik am überkommenen Historismus und mehr Theorieorientierung der Geschichtswissenschaft. Sie hoben die gesellschaftlichen Funktionen der Geschichtswissenschaft hervor und betonten den Praxisbezug.

An dieser engagiert geführten Diskussion um Theorieorientierung und Paradigmawechsel in der Geschichtswissenschaft hat sich nur ein Teil der Historiker beteiligt. Viele Historiker sind gegenüber einer Theorieorientierung in der Geschichtswissenschaft skeptisch geblieben. Sie fürchten, dass die Komplexität historischer Wirklichkeit aus dem Blick geraten könne, weil Geschichtsschreibung aus der Perspektive des »Sehschlitzes« von Theorien zur Verkürzung führe. Hinzu kommt, dass sich nicht jeder Historiker dem hohen Anspruch einer theorieorientierten Geschichtswissenschaft gewachsen fühlt. Aber durch diese Auseinandersetzung wurde die Krise, in der sich Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht Ende der 60er Jahre befanden, überwunden. Die Konkurrenz mit den systematischen Sozialwissenschaften wurde erfolgreich aufgenommen, und die Geschichte hat in der öffentlichen Diskussion an Gewicht gewonnen. Im Rückblick erweist sich diese Auseinandersetzung als eine frühe Phase des Richtungsstreites in der Historikerschaft der Bundesrepublik, der seit 1986 öffentlich ausgetragen wird.

Im Gegenzug zur Theorieorientierung, die eher von Experten als von der breiten Gruppe historisch Interessierter angenommen wurde, ist es über die → Alltagsgeschichte zu einer Gegenbewegung gekommen. Auf der Mikroebene wird im überschaubaren Feld gearbeitet. So versteht sich Erforschung der Alltagsgeschichte oft als antitheoretische Bewegung, die durch einfühlende Rekonstruktion der Lebenszusammenhänge des »kleinen Mannes« erzählend und berichtend vergangene Wirklichkeit treffender erschließt, als es nach Ansicht vieler ihrer Vertreter durch den Einsatz von Theorien möglich sei. Hier liegt die Gefahr naiver Vergangenheitserschließung. Andererseits ist festzuhalten, dass theoretisch abgesicherte Alltagsgeschichtsforschung ein Defizit der Sozialgeschichte aufhebt. Konsens besteht in der Auffassung, dass die theorieorientierten, engagierten Historiker die traditionellen Methoden der [/S. 545:] Geschichtswissenschaft nicht aufgeben, sondern hermeneutische und analytische Methode miteinander verbinden.

Der innerhalb der Geschichtswissenschaft geführte Disput hat die Grundlagendiskussion der Disziplin intensiviert. Die Auseinandersetzung wurde auf zwei Ebenen geführt. Einmal ging es um die Fragen, die das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft betreffen: Wodurch unterscheidet sich Geschichtswissenschaft von den systematischen Sozialwissenschaften? Wie ist das Verhältnis von Hermeneutik und analytischer Wissenschaftstheorie? Wie steht es um Wertbezogenheit und Wertfreiheit von Wissenschaft, um Objektivität und Parteilichkeit? Wie ist das Verhältnis von Verstehen und Erklären? Diese erkenntnistheoretisch und geschichtsphilosophisch orientierte Diskussion über das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft hat Karl-Georg Faber 1971 bilanziert. In den folgenden Jahren wurde der »Arbeitskreis Theorie der Geschichte« eingerichtet, in dem Historiker, Philosophen, Sozialwissenschaftler die begonnene geschichtstheoretische Diskussion fortführten.

Von dieser Theorie der Geschichtswissenschaft, die als Metatheorie zu bezeichnen ist, unterscheiden wir die gegenstandsbezogene Theorie des Historikers. Theorien in diesem Verständnis sind für den Historiker Instrumente, mit denen er die Quellenvielfalt ordnet. Es handelt sich bei der Metatheorie der Geschichtswissenschaft also um Begriffssysteme, die zur Identifikation und Erklärung historischer Prozesse eingesetzt werden, die aber nicht aus den Quellen selbst abgeleitet sind. Kollektive historische Phänomene können nur angemessen erforscht werden, wenn Theorien, Fragestellungen und Methoden der systematischen Sozialwissenschaften einbezogen werden. Der explizite Theoriegebrauch schafft erst die Voraussetzung, historische Realität wie Klassen, Schichten, Rollen, Status, Stratifikationen, Sozialisation zu erfassen.

Eine neue Qualität erhielt die Auseinandersetzung durch die sogenannte Historikerdebatte (oder Historikerstreit), die durch den von Ernst Nolte in der FAZ (6. 6. 1986) veröffentlichten Artikel »Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte« und die Antwort von Jürgen Habermas, »Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung«, in der ZEIT (10. 7. 1986) ausgelöst wurde.

Der bisher fachintern ausgetragene Richtungsstreit wurde nun nicht nur von Historikern, sondern auch von Publizisten und Vertretern der sozialwissenschaftlichen Disziplinen in eine breite öffentliche Diskussion eingebracht. Der Kern dieser Auseinandersetzung lässt sich auf die Kurzformel bringen: Geschichte als Aufklärung oder Geschichte als Identifikationsstifterin. Zu kurz greift die Hypothese, aufklärend-emanzipatorische Geschichtswissenschaft führe zu Destabilisierung, identitätsstiftende Geschichtswissenschaft zu Orientierung. Aufklärung und Identitätsstiftung sind zwei dominante Funktionen der Geschichtswissenschaft, die sich ergänzen. Durch Aufklärung wird tragfähige Identität gewonnen. Das so erworbene Geschichtsbild erweist sich als tragfähig, weil es offen und nicht geschlossen, rational und nicht irrational, dynamisch und nicht statisch ist. Historische Identitätsgewinnung muss Ergebnis kritischer Auseinandersetzung mit Vergangenheit sein, also traditionskritisch gewonnen werden. Für die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik gilt, dass die Ausfüllung von Erinnerung nicht uniform gedacht werden kann, sondern nur [/S. 546] plural. Es gibt in der Demokratie nicht das eine Geschichtsbild, sondern die Vielheit der Geschichtsbilder. Deshalb sind in der Bundesrepublik auch »verordnete Geschichtsbilder« nicht denkbar, wie irrig in einem Beitrag zum Historikerstreit geargwöhnt wird (Hans Mommsen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 1/1986). Solche Intentionen würden auch angesichts der konkurrierenden Richtungen, die an den Historischen Instituten vertreten werden, nicht realisierbar sein.

 

3. Curriculare Voraussetzungen

Der 1973 unternommene Versuch, bisher voneinander getrennte Schulfächer durch Lernbereiche abzulösen und diese vorrangig an fächerübergreifenden gesellschaftsrelevanten Zielen auszurichten, musste scheitern, weil die wissenschaftstheoretische Fundierung fehlte. Hinzu kam, dass der politische Konsens nicht erreicht wurde und es noch keine Lehrerausbildung für dieses Fach gab.

In Hessen wurde seit 1973 an einer Neufassung der HRRG gearbeitet und 1980 das Ergebnis vorgelegt. Eine entscheidende Korrektur bestand darin, dass zu den Grundsätzen für den Lernbereich Gesellschaftslehre auch Wissenschaftsorientierung gehörte: Es wurde bei der Neufassung der Rahmenrichtlinien davon ausgegangen, dass die Wissenschaftsdisziplinen die wesentlichen gesellschaftlichen und historisch-politischen Probleme und Lerninhalte benennen und → Methoden sowie → Kategorien für ihre Bearbeitung im Unterricht zur Verfügung stellen können. Das früher bestehende Defizit in der theoretischen Grundlegung wurde also aufgehoben.

Im Jahre 1978 veröffentlichte eine Arbeitsgruppe von Historikern, Politikwissenschaftlern und Soziologen (Behrmann u. a.) das Konzept für einen kooperativen Unterricht in den Fächern Geschichte und Politik für die Sekundarstufe I. Vorgeschlagen wurde eine gestufte Verbindung zwischen geschichtlichen und politischen Unterrichtseinheiten. Die wissenschaftstheoretische Fundierung wurde hier ebenso abgesichert wie der methodische Zugriff.

Für den historischen und politischen Unterricht wurden jeweils vier Thementypen entwickelt und als Leitthemen bzw. Zusatzthemen einander zugeordnet. Thementypen des Politikunterrichts sind: die →> Erkundung, die systematische Analyse oder der → Vergleich, die → Fallstudie, die Bearbeitung eines aktuellen Problems. Die vier Thementypen des Geschichtsunterrichts werden nach Kooperationsmöglichkeiten mit dem politischen Unterricht befragt. Der erste Thementyp ist die genetisch vorgehende Erarbeitung eines historischen Prozesses, die tendenziell alle seine Faktoren fasst (z. B. Industrielle Revolution, Imperialismus) - hier gibt es über den Gegenwartsbezug kombinatorische Möglichkeiten mit dem Politikunterricht. Der zweite Thementyp ist der thematische Längsschnitt. Auch hier besteht zwischen historischem und politischem Unterricht ein ergänzender Zusammenhang. Dabei kommt es für den historischen Unterricht darauf an, dass eine der aktuellen vergleichbare Problematik in der Vergangenheit in ihren unterschiedlichen und in ihren ähnlichen Strukturen herausgearbeitet wird. Der dritte Thementyp ist die querschnittartige Repräsentation einer besonders wichtigen Epoche. Hier ist die Möglichkeit der Kooperation nur über die Methode der Analogie möglich. Im Unterschied dazu besteht eine enge Verbindung des vierten Thementyps zum politischen Unterricht. Er greift ein gegenwärtig wichtiges Phänomen der politischen Welt regressiv in [S. 547:] seiner historischen Bedingtheit auf (z. B. Revolution in Ländern der Dritten Welt, israelisch-arabischer Konflikt). Bei diesem Thementyp verbinden sich politischer und historischer Unterricht jeweils eng. Die Kombination dieser vier Thementypen des Geschichtsunterrichts und die Kooperation mit den entsprechenden Thementypen des Politikunterrichts sind als → offenes Curriculum konzipiert. Es ist also eine Vielzahl flexibler Verbindungsmöglichkeiten zwischen Geschichte und Politik zu komponieren.

Geschichtsdidaktik beschäftigt sich mit dem Prozess der Rezeption von Geschichte in der Gesellschaft. In der geschichtsdidaktischen Diskussion ist seit den 70er Jahren der Begriff Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie herausgearbeitet worden. Geschichtsbewusstsein meint über geschichtliches Wissen hinaus auch Vorstellungen und Deutungen von der Vergangenheit und daraus entstehende Einstellungen. Erforscht wird das Geschichtsbewusstsein von Individuen und Kollektiven. Dabei geht es um Inhalte und Formen, um Bedingungen des Aufbaus und der Veränderung, um Bedeutung und Funktion des Geschichtsbewusstseins. Durch die Einführung des Begriffs Geschichtsbewusstsein wurde die Geschichtsdidaktik neu fundiert und ihre über den schulischen Bereich hinausreichende Dimension verdeutlicht. Ohne Geschichtsbewusstsein ist die Gewinnung sozialer und politischer Identität nicht möglich. Deshalb ist Geschichtsbewusstsein ein Schlüsselbegriff aller historischen, aber auch aller pB. Historische und politische Urteilskompetenz werden durch ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein gefördert. Wenn es dem Politikunterricht um die Vermittlung von Sachwissen und jener Kompetenzen geht, die zu politischer Reflexion, → Urteilsbildung und verantwortlichem politischen Handeln befähigen, so kann er nahtlos mit einem Geschichtsunterricht kooperieren, dessen Bezugsdisziplin zunehmend einen Praxisbezug vertritt und folgende Funktionsziele betont: Geschichtswissenschaft

  • schafft aufklärungsgeprägte Rationalität;
  • bewahrt gesellschaftliches Wissen, ist Kollektivgedächtnis;
  • interpretiert Gegenwart aus deren Vergangenheit und trägt so zur Ortsbestimmung der Gegenwart bei;
  • legt Ursachen und Entwicklungen bestimmter Gegenwartsprobleme offen;
  • schafft Distanz zu emotional besetzten Gegenstandsbereichen;
  • zeigt die Entwicklung und Veränderung sozialer Wandlungsprozesse und weist den Rahmen der Veränderbarkeit auf;
  • leistet → Ideologiekritik;
  • vermittelt einen kritisch aufgeklärten Praxisbezug;
  • legt Grundlagen für politische und soziale Identifikationen;
  • bewahrt vor Manipulation, indem sie Erinnerung aufklärt;
  • wirkt als Korrektiv gegenüber generalisierenden »Totalentwürfen«;
  • motiviert durch den Aufweis welthistorischer Perspektiven zu globaler Verantwortung.
 

4. Perspektiven

Seit 1980 sind die wissenschaftstheoretischen Grundlagen und methodischen Absicherungen für die Konstruktion eines integrierten oder kooperativen Curriculums Geschichte/Politik geschaffen. Es liegen auch Unterrichtsmateria- [S. 548:] lien und ausgearbeitete Unterrichtseinheiten für ein Curriculum Geschichte/Politik der Sekundarstufe I vor (Behrmann u. a. 1976 ff.). Für den Bereich der Lehrerbildung wurde 1980 das Konzept eines Studienganges Sozialwissenschaften entwickelt, das von Vertretern der Geschichtswissenschaft, der → Politikwissenschaft, der → Soziologie und der → Wirtschaftswissenschaft (Forndran u. a. 1978) vorgelegt wurde. Hier wurden die wissenschaftstheoretischen Grundlagen für einen kooperativen oder integrierten Studiengang geschaffen.

Trotz dieser günstigen Ausgangsposition ist die Strategie der Historiker nicht durchgängig offensiv. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass sie erst wieder auf Herausforderungen reagieren. Weder in der Lehrerausbildung noch im Schulcurriculum werden Experimente gewagt. Statt dessen vollzieht sich auf der Ebene des Geschichtsunterrichts eine Entwicklung, wie wir sie aus den USA kennen. Nach einer Phase intensiver theoretischer Auseinandersetzung und konzeptioneller Entwürfe werden in den Fachzeitschriften unsystematisch neue Themen diskutiert. Dabei geht es um Inhalte wie Ökologie und Geschichte, Geschichte der Frauen, Geschichte von Minderheiten, Geschichte der Arbeit. Eine Bereicherung ist auch die intensive Beschäftigung mit der Alltagsgeschichte und die Einbeziehung der Oral-History-Methode. Es ist an der Zeit, die additiv nebeneinander stehenden neuen Themen in einem neu zu konzipierenden offenen Curriculum zusammenzufügen und die sich daraus ergebenden weiterführenden Möglichkeiten für eine Kooperation mit dem Unterrichtsfach Politik auszuloten.

 

Literatur

Behrmann, Günter C. [10]; Jeismann, Karl-Ernst; Süssmuth, Hans (1978): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn: F. Schöningh.

Behrmann, Günter C. [10] u. a. (Hg.) (1976 ff.): Geschichte. Politik. Unterrichtseinheiten für ein Curriculum. Paderborn: F. Schöningh.

Bergmann, Klaus; Schneider, Gerhard (Hg.) (1980): Gesellschaft, Staat, Geschichtsunterricht 1500-1980. Düsseldorf: Schwann.

Bergmann, Klaus; Kuhn, Annette; Rüsen, Jörn [17]; Schneider, Gerhard (Hg.) (1985): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Düsseldorf : Schwann.

Cobet, Justus [18]; Maek-Gérard, Eva; Muhlack, Ulrich; Zitzlaff, Dietrich (1974): Zur Rolle der Geschichte in der Gesellschaftslehre: Das Beispiel der hessischen Rahmenrichtlinien. Stuttgart: Klett [9].

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Kühnl, Reinhard (Hg.) (1987): Vergangenheit, die nicht vergeht. Die "Historiker-Debatte". Dokumentation, Darstellung und Kritik. Köln: Pahl-Rugenstein.

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Sutor, Bernhard [25] (1979): Zum Verhältnis von Geschichte und Politikunterricht. Politische Bildung im Fächerverbund. In: Aus Politik und Zeitgeschichte [3]. B 34-35/79.

Uffelmann, Uwe (1986): Didaktik der Geschichte. Aus der Arbeit der Pädagogischen Hochschulen BadenWürttembergs. Villingen-Schwenningen: Neckar.

 

Sutor, Bernhard (1984): Exkurs V: Geschichtsunterricht und politische Bildung; S. 221-23, in: Neue Grundlegung politischer Bildung, Bd. II, 1984, Paderborn: Ferdinand Schöningh

S. 221-23, in: Neue Grundlegung politischer Bildung, Bd. II, 1984, Paderborn: Ferdinand Schöningh

Die didaktische Analyse der Aufgabenfelder politischer Bildung, wie wir sie in Kapitel D vorgenommen haben, hat an vielen Stellen nachdrücklich demonstriert, wie sehr politisches Urteilen auf geschichtliches Verstehen angewiesen ist. Das kann nicht überraschen. Wenn Geschichtlichkeit eine anthropologische Konstante ist, muss sie auch als soziologische, als politikwissenschaftliche und als didaktische Grundkategorie erscheinen. Es gibt nicht die reine Gegenwart; der Versuch, sie vorzustellen, trifft nur auf den jeweiligen Punkt im Strom der Zeit. Es ist daher im Ansatz verständlich und richtig, dass seit Jahrzehnten um eine plausible didaktische Zuordnung von Geschichte und Politikunterricht gerungen und der Beitrag der Geschichte zur politischen Bildung diskutiert wird. Die Schwierigkeit der Aufgabe erhellt aus der Tatsache, dass diese Diskussion bisher zu keinem allgemein anerkannten Konzept geführt hat. Bildungspolitisch hat sich der Streit der siebziger Jahre zwar gelegt, aber die Grundfrage blieb unentschieden. Dem Konzept einer integrierten Gesellschaftslehre steht das Beharren auf eigenständigem Geschichtsunterricht gegenüber. Die geschichtsdidaktischen Positionen stehen gewiss differenzierter dazwischen, aber keineswegs in einem in Lehrpläne umsetzbaren Konsens (Süssmuth 1980). Ich selbst habe in den siebziger Jahren in Rheinland-Pfalz an koordinierten Lehrplänen für das gesellschaftswissenschaftliche Aufgabenfeld der reformierten gymnasialen Oberstufe mitgearbeitet und habe das dabei entwickelte Konzept in Auseinandersetzung mit didaktischer Literatur in Aufsätze einfließen lassen (Sutor 1979 sowie Sutor bei Mickel 1979). Die nachstehende Skizze ist im wesentlichen eine Zusammenfassung des dort Entwickelten.

 

1. Didaktische Folgerungen aus der Grundkonstante Geschichtlichkeit

Wenn menschliches Dasein in der Gesellschaft prinzipiell geschichtlich verfasst ist (B I 3), dann ergeben sich daraus didaktisch relevante Folgerungen, die kurz genannt seien:

Erstens: Die Handlungsprobleme menschlichen Zusammenlebens müssen bewältigt werden in der Spannung zwischen Dauer und Wandel, zwischen einer Überlieferung, die Geltung beansprucht, und Fortschritt, der aus Veränderungswillen entspringt. Überlieferung und Fortschritt bilden keinen reinen Gegensatz, sondern stehen in einem dialektischen Verhältnis. Fortschritt hat die menschliche Gesellschaft nur, weil sie Tradition bildet. Es wäre daher falsch, Geschichtsunterricht und politische Bildung prinzipiell aus konservativer oder aus progressiver Grundhaltung zu konzipieren. Nur erkannte Geschichte macht frei zu Aneignung oder Kritik des Überlieferten. Historisch-politische Bildung soll deshalb Traditionen weder tabuisieren und naiv pflegen, noch sie progressistisch verwerfen, sondern zum Gegenstand des Nachdenkens machen.

Zweitens: Geschichtlichkeit bedeutet Offenheit und Unvollendbarkeit der Geschichte. Wir kennen nicht die Geschichte als ganze und können sie nicht von einem idealen Endzustand her begreifen. Geschichte ist keine Einbahnstrasse des Fortschritts, auf der von einem idealen Ende her Antworten auf unsere heutigen Probleme zu finden und die Opfer der Vergangenheit und Gegenwart zu rechtfertigen wären. Gegenwartsprobleme können nur durch partielle Verbesserungen gelöst werden, die ihren Preis haben. Geschichtsphilosophische Totalbilder, so unentbehrlich sie als Denkhorizonte sein mögen, dürfen nicht verabsolutiert und nicht als Ergebnisse der Geschichtswissenschaft dargestellt werden. Der Geschichtsunterricht kann sie bewusst machen und zugleich relativieren, indem er mehrere vergleichend nebeneinander betrachtet. Wenn dagegen Geschichte über den Leisten angeblich erkannter Gesetzmäßigkeiten geschlagen wird, dann wird das konkrete Einzelne missdeutet und missachtet, dann werden Menschen und Gruppen in prinzipielle Freund-Feind-Schablonen gepresst. "Wer die Menschheit der Zukunft als Partei in der Gegenwart reprä[/S.:222]sentiert, hat damit eo ipso alle anderen Parteien in die Partikularität verwiesen, so dass sie als Instanzen der Kritik rechtlos werden" (Lübbe bei Oelmüller 1977, 312). Offenes Geschichtsbild und offene Gesellschaft, historischer und politischer "Relativismus" bedingen einander. Allerdings bedeutet dieser Relativismus nicht normative Beliebigkeit (B I 1/2).

Drittens: Relativismus heißt nicht Flucht in die angeblich reinen Fakten, heißt nicht Absage an Norm- und Wertvorstellungen, heißt nicht Ausweichen vor den Sinnfragen. Im Gegenteil verweist die hier vorgenommene Auslegung von Geschichtlichkeit auf die Verantwortung der jeweils Lebenden und Handelnden für den Gang der menschlichen Dinge. In der Offenheit der jeweiligen geschichtlich-politischen Situation müssen die Menschen Antworten finden auf konkrete Herausforderungen nach Maßgabe sittlicher Prinzipien, deren Geltung sie in ihrem Gewissen vernehmen und in Kommunikation miteinander ergründen.

Viertens: Geschichtlichkeit des Menschen in der Gesellschaft bedeutet auch, Macht und Verantwortlichkeit des Individuums und der heute Lebenden insgesamt nicht idealistisch zu überzeichnen. Das Gewordene, die sozialen Strukturen, die überlieferten Normen und Institutionen, die "Verhältnisse" erfährt der einzelne Mensch zutreffend zunächst einmal als übermächtig. Die in didaktischer Literatur in den siebziger Jahren ständig zitierte Formel "historisch geworden, also veränderbar" ist irreführend. Geschehenes und Gewordenes können wir nicht rückgängig machen. Dem Geschehenen gegenüber können wir uns nur bemühen, in Freiheit unser Verhältnis zu ihm zu bestimmen. Dies ist der reale Kern der sogenannten Bewältigung der Vergangenheit. Das Gewordene, das institutionelle Gefüge und die Strukturen einer Gesellschaft sind von "langer Dauer", sie entziehen sich daher kurzfristigem Veränderungswillen. Übrigens zeigen die im Gefolge raschen sozialen Wandels der letzten Jahrzehnte zu beobachtenden Phänomene wie Daseinsunsicherheit und Mangel an Sinnorientierung, daß Mensch und Gesellschaft auf eine gewisse relative Stabilität ihrer Normen, Institutionen und Strukturen angewiesen sind. Das meiste an sozialem Wandel geschieht wahrscheinlich unmerklich und ungewollt, und gerade deshalb gilt, dass man gezielt verändern soll nur, was man verbessern kann.

 

2. Geschichtlich-politisches Bewusstsein

Geschichtliches und politisches Bewusstsein bilden unabhängig vom Grad ihrer Reflexion einen unauflösbaren dialektischen Zusammenhang. Das Bewusstsein von politischen Problemen und der Wille zu politischer Gestaltung sind geschichtlich bedingt, und ihre ungewisse Zukunftsperspektive begründet ein Bedürfnis, sich der Gegenwart aus der Vergangenheit zu vergewissern. Daher wird Geschichte häufig zu einem Arsenal für Legitimation und Identifikation im politischen Handeln sozialer Gruppen. Das Selbstverständnis von Individuen und Gruppen hat eine geschichtliche Dimension, schließt mindestens rudimentär ein Bewusstsein von Vergangenheit und Einstellungen zur Vergangenheit ein. Die Menschen leben mit Geschichtsbildern, sie suchen ihre Identität in Auseinandersetzung mit Vergangenem, das sie als wirksam erfahren. Daher ist im Mit- und Gegeneinander der sozialen und politischen Gruppierungen immer auch Geschichte wirksam anwesend, wird zur Sprache gebracht und gedeutet. "Ein historisch-politisches Standortwissen ist gleichsam ,sprungbereit' von seiner Deutung der Geschichte und der gegenwärtigen Situation auf die Zukunft gerichtet" (Bergsträßer 1963, 14).

Geschichte ist daher, wie schon Augustinus in seiner berühmten Analyse der menschlichen Erinnerung darlegte, nicht die in sich stehende Vergangenheit, sondern die Gegenwart der Vergangenheit in der Erinnerung. Geschichte ist also einerseits niemals ohne Gegenwartsbezug, ein Geschichtsbild wird von den Erfahrungen der Gegenwart her strukturiert; andererseits beeinflusst die erinnerte Vergangenheit die Wahrnehmung der Gegen[/S.:223]wart und den Zukunftswillen (Keßler bei Schörken 1981, 26 ff.). Jörn Rüsen fasst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsperspektive überzeugend in folgender Definition von Geschichte zusammen: "Geschichte ist derjenige Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart, den handelnde Individuen und Gruppen reflektieren müssen, wenn sie ihr Handeln sinnhaft in einer Zukunftsperspektive orientieren wollen" (Rüsen bei Kosthorst 1977, 48). Für Geschichtswissenschaft wie für Geschichtsunterricht bedeutet dies, dass sie, wie immer man im einzelnen ihre Funktionen bestimmt, unabdingbar in einem Gegenwartsbezug stehen.

Geschichtswissenschaft ist in ihrem Zugriff auf ihren Gegenstand, in ihrem Erkenntnisinteresse, in ihren Fragestellungen und in ihrer Problemwahl vom herrschenden Geschichtsbewusstsein und damit auch von der Gegenwart bestimmt. Ihre Objektivität besteht nicht darin, dass sie Vergangenheit gleichsam photographisch abbildet. Vielmehr macht sie Geschichte im definierten Sinn unter bestimmten theoretischen Prämissen zum Gegenstand von Fragen, untersucht sie nach intersubjektiv anerkannten Regeln und stellt ihre Antworten fachlich und öffentlich zur Diskussion. Der öffentliche Bezug war großer Geschichtsschreibung immer wesentlich. Kein wirklicher Historiker schreibt nur für den kleinen Kreis von Zunftgenossen. Geschichtsschreibung bezieht sich auf öffentliches Geschichtsbewusstsein, hat insofern also auch eine didaktische Komponente. Dies ist in der heutigen "Historik" allgemein anerkannt, freilich wird der Gegenwartsbezug der Geschichtswissenschaft von den Forschern und einzelnen Forschungsrichtungen unterschiedlich gewichtet und ausgelegt.

Leider sind die Neuansätze geschichtswissenschaftlicher Selbstbesinnung, die in der Nachkriegszeit zu beobachten waren, in der didaktischen Diskussion zunächst relativ unbeachtet geblieben. Eine gesellschaftskritische Geschichtsdidaktik der siebziger Jahre konnte daher so tun, als pflege die deutsche Geschichtswissenschaft fern von den Fragen unserer Zeit einen "objektivistischen Irrtum" in ihrem Elfenbeinturm. Dagegen ist die gesellschaftlich-politische Relevanz der Geschichtswissenschaft, ihr lebensweltlicher Ursprung lange vor dem Streit um Richtlinien für Gesellschaftslehre und Politikunterricht gründlich erörtert worden. Die Beiträge hierzu von Heimpel und Wittram stammen aus den fünfziger Jahren, Walther Hofers Studien zum modernen Geschichtsdenken ebenfalls. 1961 erschien das "Fischer-Lexikon Geschichte", welches die von Hans Rothfels und seinen Schülern geleistete Rückbesinnung auf die politischen Implikationen der Geschichtswissenschaft darstellte. Diese Neuansätze erbrachten damals zweierlei: Erstens klärten sie im Zuge einer Revision deutscher Geschichtsbilder den in Deutschland bis zum Nationalsozialismus greifbaren Zusammenhang von Historismus und nationalkonservativer Weltanschauung. Zweitens gewannen sie dem unvermeidlichen Ineinander von Geschichtsdenken und Gegenwartsbewusstsein positive Züge ab durch die Entwicklung einer modernen Kritik der historischen Vernunft, jenseits von Objektivismus und Irrationalismus.

Während in diesen Ansätzen eine Balance versucht wurde zwischen dem Gegenwartsbezug historischen Forschens und seiner Verpflichtung, der untersuchten Vergangenheit gerecht zu werden, dominiert bei manchen heutigen, insbesondere jüngeren und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Historikern das gegenwärtige Erkenntnisinteresse so sehr, dass sie ihre Wissenschaft unter das Ziel stellen, einen unmittelbaren und handlungsorientierten Sinnzusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu konstruieren (Rohlfes bei Schörken 1981, 63 ff.). Was sich daraus an Gefahren für die Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft ergibt, mag in der fachwissenschaftlichen Diskussion erörtert werden. Für unseren Zusammenhang ist der auch von Rohlfes ins Feld geführte nachdrückliche Hinweis nötig, dass die Gegenwart selbst keine einheitliche Größe ist und also schon deshalb keine altgemeingültigen Sinnlinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart konstruiert werden können. Es gibt die unterschiedlichen weltanschaulichen und politischen Lager, die sozialen Gruppierungen und Interessen, die zwischen Indivi[/S.:224]duen und Generationen divergierenden Lebenserfahrungen und Wertüberzeugungen. Wenn Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht etwas zur Klärung der Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart beitragen wollen, dürfen sie an dieser Pluralität nicht vorbeigehen.

 

3. Traditionsreflexion und Hilfe zur Identitätsfindung als Aufgaben des Geschichtsunterrichts

Joachim Rohlfes zitiert in unserem Zusammenhang das bekannte Wort von Jacob Burckhardt, Geschichte solle nicht klug machen für ein andermal, sondern weise für immer. Dieser der klassisch-humanistischen Bildungsvorstellung verpflichtete Gedanke repräsentiert den Versuch, die Beschäftigung mit Geschichte aus einer allzu engen pädagogisch-politischen Zwecksetzung zu befreien. Bei aller Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit dieser Bildungsvorstellung muss man bedauern, dass die Geschichte des Geschichtsunterrichts anders aussieht. Die Indienstnahme dieses Schulfaches durch die Herrschenden ist nicht erst ein Phänomen des Nationalsozialismus, sondern lässt sich bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Übrigens kann angesichts dieser Fachgeschichte die geschichtsdidaktische Ratlosigkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht überraschen. Das Fach hatte seinen bis dahin herrschenden politischen Orientierungsrahmen verloren (Bergmann/Schneider 1982).

Geschichtsunterricht in den öffentlichen Schulen einer demokratisch verfassten pluralistischen Gesellschaft ist an die Bedingungen der Pluralität geknüpft, ist auf wissenschaftliche Rationalität und auf die allgemein anerkannten Wertgrundlagen der gemeinsamen Verfassung verpflichtet. Gerade deshalb darf er nicht unter partikularen politischen Zwecksetzungen stehen, vielmehr muss seine politische Aufgabe konsensfähig formuliert werden. Im Hinblick auf den dargestellten Zusammenhang geschichtlich-politischen Bewusstseins kann man die Aufgabe des Geschichtsunterrichts definieren als historische Aufklärung. Aber Aufklärung und Rationalität machen nicht halt beim Infragestellen und Reflektieren. Wie immer der einzelne Historiker sein Fach versteht und betreibt, in der Schule müssen Aufklärung und Rationalität den anthropologisch grundlegenden Tatbestand umschließen, dass der Mensch ein sinnsuchendes und wertorientiertes Wesen ist und folglich mit bloßer Kritik nicht leben kann. Halbe Aufklärung heißt Auflösung von Traditionen und Identifikationen, ganze Aufklärung erweist Urteilsbildung, wertende Stellungnahme und Identifikation mit Sinnhaftem als human und sozial notwendig. Auch wenn wir die Möglichkeiten der Schule in unserer Gesellschaft nicht überschätzen wollen, kann sie dazu doch einiges beitragen.

Der Geschichtsunterricht kann den Schülern ihre eigene geschichtlich bedingte und vielleicht bisher unreflektiert gelebte Identität bewusst machen durch das Aufzeigen unterschiedlicher Orientierungen von Individuen und Gruppen an ihrer spezifischen Geschichte. Dies ist in einer pluralen Gesellschaft unumgänglich, es erleichtert das Zusammenleben und das gegenseitige Verständnis der Gruppen und ist gerade in Deutschland angesichts der pluralistischen Züge unserer Geschichte besonders notwendig. Die Pluralität unserer Identitäten darf nicht durch eine Einheitsideologie einer Großgruppe, auch nicht durch die einer Nation verdeckt werden (B II Exkurs I). Ferner kann der Geschichtsunterricht das Phänomen der Legitimation gegenwärtiger Verhältnisse aus geschichtlicher Erinnerung aufzeigen und dadurch kritisch machen, vielleicht sogar schützen gegen die Gefahr der Kurzschlüssigkeit und Ideologisierung. Zwar ist die öffentliche Pflege geschichtlicher Erinnerung nicht nur legitim, sondern auch in einer demokratisch verfassten Gesellschaft notwendig, die sich an der Vergewisserung ihrer Ursprünge nicht hindern lassen sollte angesichts der Perversion von Tradition durch Diktaturen. In der Bundesrepublik Deutschland haben wir einen eklatanten Mangel an öffentlicher Traditionspflege. Aber nach den Maßstäben von Humanität, Rationalität und Demokratie ist sie nur legitim als [/S.:225] Ausdruck der Bereitschaft, das Bestehende auch messen zu lassen an dem im Ursprung positiv gemeinten Sinn einer freien Ordnung. Deshalb löst kritisch-rationaler Unterricht auf der Basis dieser Maßstäbe positive geschichtliche Legitimation und Identität nicht auf, sondern reinigt sie, gibt ihr eine rational tragfähige Grundlage.

Hermann Giesecke bezeichnet die historische Selbstvergewisserung der demokratischen Gesellschaft als eine Aufgabe des Unterrichts und grenzt die dabei zu zeichnende "politische Biographie" dieser Gesellschaft gegen ein geschlossenes und verbindliches Geschichtsbild ab (Giesecke 1974, 58 ff.). Dem kann ich voll zustimmen, sehe jedoch in den Diskussionen der siebziger Jahre Anlass hinzuzufügen, dass in der Rückfrage heutiger Demokratie nach ihren Ursprüngen die Offenheit des Demokratiekonzepts und der Geschichtsdeutung einander entsprechen müssen. Es darf nicht eine partikulare Richtung die Traditionen des demokratischen Verfassungsstaates für sich allein in Anspruch nehmen, etwa um ihr Programm als die allein legitime Einlösung demokratischer Verheißungen zu verabsolutieren. Kritischer Geschichtsunterricht verträgt sich mit keiner Art von Einbahn- und Endpunkt-Denken, ganz gleich ob es sich "national" oder "sozialistisch" oder "emanzipatorisch" vorführt. Solches Denken wird der Ambivalenz und der Kontingenz des Geschichtlichen und der Offenheit der Zukunft nicht gerecht.

Schließlich kann Geschichtsunterricht die Identitätsfindung von Individuen, von Gruppen und Gesamtgesellschaft zwar nicht selbst und unmittelbar leisten, aber Möglichkeiten dazu anbahnen, indem er das Verhältnis von Zustimmung und Kritik prinzipiell offenhält, sich dabei jedoch nicht in angebliche Wertneutralität flüchtet, sondern die Sinn- und Wertfragen an den konkreten historisch-politischen Gegenständen offen zur Sprache bringt. Identitätsfindung steht dann nicht im Gegensatz zu Kritik, sie ist freilich nicht eine neben anderen stehende und in gleicher Weise erfüllbare Funktion des Unterrichts, sondern nur eine Möglichkeit jenseits der unmittelbaren Ziele. Was Wissenschaft und Schule in einer pluralistischen Gesellschaft leisten können, ist Humanisierung durch Rationalisierung, Ordnung der Vorstellungswelt in dialogischer Auseinandersetzung. Gelebte Identitäten müssen durch diesen Prozess hindurch wie durch eine Feuerprobe und erweisen sich nur so als tragfähig in einem kontrollierten Selbstverständnis der Individuen und Gruppen wie auch für das friedlich-freiheitliche Zusammenleben in den inner- und zwischenstaatlichen Konfliktfeldern.

 

4. Integration oder Koordination der Fächer?

Da alle tiefer reichenden politischen Probleme der Gegenwart eine geschichtliche Dimension haben, deren Aufarbeitung für das Gegenwartsverständnis hilfreich, oft sogar unentbehrlich ist, wurde in manchen Konzepten historisch-politischer Bildung gefolgert, Geschichte ließe sich gleichsam ohne Rest in Gegenwartskunde oder Gesellschaftslehre oder Politikunterricht integrieren. Der Beitrag der Geschichte zur politischen Bildung würde sich dann darin erschöpfen, die geschichtliche Entwicklung gegenwärtiger Probleme zu erschließen. Unterrichtsorganisatorisch sollte das so aussehen, dass anlässlich gegenwärtiger Probleme und Konflikte zurückgefragt wird nach ihrer Entstehung und Entwicklung. Im methodisch unzulänglichen Falle führt dies dazu, Geschichte zum "Steinbruch", zum Arsenal für Versatzstücke innerhalb gegenwärtiger interessenbedingter und ideologischer Positionen zu degradieren. Aber die Analyse der geschichtlichen Herkunft gegenwärtiger Probleme kann durchaus auch den Erfordernissen historischer Methode genügen, und ohne Zweifel liegt in solcher Erklärung ein wesentlicher Beitrag der Geschichte zur politischen Bildung. Dennoch ist es ein Kurzschluss zu meinen, auf diese Weise ließe sich Geschichte befriedigend in Politikunterricht integrieren.

Gegen diese Versuche soll hier zunächst gar nicht wissenschaftstheoretisch und prinzipiell argumentiert werden. Wenn man voraussetzen kann, dass ein Lehrer in Geschichte und Sozialwissenschaften gründlich ausgebildet ist, dann kann es für ihn und für seine [/S.:226] Schüler eine reizvolle Aufgabe sein, bestimmte Gegenstände bzw. Themen, die durchaus nicht nur aus der Gegenwart zu stammen brauchen, sowohl in historischer als auch in sozialwissenschaftlicher Perspektive mit den entsprechenden Kategorien und Methoden zu bearbeiten. Geschichts- und Sozialwissenschaften sind sich zumal seit der Entwicklung historischer Sozialwissenschaft nicht mehr so fern und fremd, dass man sie nicht auch im Unterricht aufeinander beziehen könnte. Das ist prinzipiell in zwei Weisen möglich. Erstens kann man den gleichen Gegenstand im Wechsel zwischen historischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive angehen. Zweitens kann man unterschiedliche Gegenstände beider Fächer vergleichender Fragestellung unterwerfen; etwa, indem man eine historische Strukturanalyse früherer Institutionen und Systeme neben eine gegenwartsbezogene Systemanalyse stellt, eine historische Konstellationsanalyse neben eine politikwissenschaftliche Fallanalyse. Die beiden Disziplinen überschneiden sich in ihren Methoden und Kategorien, wenn sie sich auch nicht völlig decken; sie unterscheiden sich wie jede wissenschaftliche Disziplin von der anderen durch ihre spezifische Perspektive, durch ihr Formatobjekt (Schieder 1977; Sutor bei Mickel 1979).

Aber mit solchen Versuchen, die den kundigen Fachmann voraussetzen, wären die beiden Fächer nicht integriert. Bei näherem Zusehen, nämlich bei dem Versuch festzulegen, was denn inhaltlich aus Geschichte und Gegenwart miteinander in Beziehung gesetzt oder in Parallele zueinander bearbeitet werden soll, erweist sich Integration unterrichtsorganisatorisch und gegenständlich als unmöglich. Dies lässt sich schon an den Versuchen, geschichtliche Entwicklungen und gegenwärtige Problemlagen aufeinander zu beziehen, erkennen. Wie weit kann und soll man im Politikunterricht Gegenwartsprobleme und -phänomene in ihre Vergangenheit zurückverfolgen? Die Deutschlandfrage beginnt aktuell mit dem Jahr 1945, hat aber freilich sehr viel weiter zurückreichende Wurzeln. Die Geschichte unserer politischen Parteien reicht ins 19. Jahrhundert, ebenso das sozialstrukturelle Problem des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, die Institutionen sozialer Sicherheit und vieles andere. Die Geschichte des Parlamentarismus beginnt im Mittelalter, die des Rechtsstaates in der frühen Neuzeit, die der modernen Demokratie spätestens in der Aufklärung. Kurzum, es ist historisch gesehen immer willkürlich, mit den Rückfragen in die Geschichte an einer bestimmten Stelle kaltzumachen. Vor allem aber gewinnt die Genese unserer heutigen tieferreichenden Probleme in allen Fällen schon vom Umfang her den Charakter eines eigenen Themas, das unterrichtsorganisatorisch nicht mehr in die Bearbeitung eines aktuell-gegenwärtigen Problems einzuordnen ist. Für eine erste vorläufige Orientierung im Politikunterricht mag es oder muss es oft genügen, einige Stichworte zur geschichtlichen Entwicklung einzuführen. Aber gerade deshalb ist es auch um politischer Bildung und um eines fundierten Gegenwartsverständnisses willen nötig, unabhängig davon Geschichte breiter und gründlicher zu betrachten. Man kann Geschichte nicht gleichsam nebenher bei Gelegenheit aktueller Probleme und Konflikte abhandeln.

Es handelt sich bei der geschilderten Schwierigkeit allerdings nur scheinbar um eine rein unterrichtsorganisatorische. Just an dem Konzept politischer Bildung, wie wir es hier entwickelt haben, lässt sich die Erkenntnis ablesen, dass ein unter Handlungs- und Zukunftsperspektiven auf politisches Urteilen zielender Politikunterricht nur die eine Seite politischer Bildung ausmacht und dringend der Ergänzung durch einen Geschichtsunterricht bedarf, dessen Ziel historische Ortsbestimmung der Gegenwart lautet. Die geschichtliche Dimension der Gegenstände, mit denen der Politikunterricht sich befasst, ist unter der Kategorie der Geschichtlichkeit allein, die uns oben als eine unter vielen Kategorien begegnet ist (vgl. C III 1), gar nicht hinlänglich erfasst. Denn Geschichtlichkeit durchdringt auch alle anderen Kategorien des Politischen, auch diese haben geschichtlichen Charakter. Heutige Interessen und ihre Interpretationen, die Ideologien, die sozialen Strukturen, das geltende Recht und die Institutionen, die Machtverhältnisse und schließlich unsere normativen Vorstellungen von Legitimität und Zumutbarkeit, von individueller und politischer Freiheit, von sozialer Gerechtigkeit und von Frieden sind allesamt geschichtlich geworden [/S.:227] und bedürfen deshalb um politischer Bildung willen historischen Verstehens. Bildhaft ausgedrückt heißt dies: Geschichte trifft nicht wie in einem einzigen Punkt auf unsere Gegenwart, sondern bestimmt diese als breiter Strom, der aus der Vergangenheit auf uns zukommt. Geschichte ist deshalb nicht punktuell von einzelnen Problemen und Konflikten der Gegenwart her angemessen erfassbar. Deshalb darf Geschichte gerade auch um politischer Bildung willen nicht reduziert werden auf die Bearbeitung der Genese heutiger Probleme. Er muss vielmehr didaktisch kategorial eigenständig gefasst werden, wenn historische Ortsbestimmung der Gegenwart nicht an einem zu engen Ansatz scheitern soll.

Unter diesem Aspekt erweist sich als das Hauptproblem der Geschichtsdidaktik nicht die Frage nach kategorialen und methodischen Lernpotentialen der Geschichte; darin ist vielmehr relativ leicht ein gewisser Konsens zu erzielen (Rohlfes 1974, Sutor bei Mickel 1979) und die dort verarbeitete Literatur). Das schwierigere Problem ist die Bestimmung der Inhalte geschichtlicher Bildung, die für eine historische Ortsbestimmung der Gegenwart unabdingbar sind. Diese Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn wir nicht nur aus unserer Gegenwart in die Geschichte zurückfragen, sondern zugleich umgekehrt den Versuch machen, die Gegenwart im geschichtlichen Zusammenhang zu begreifen. Nur so lassen sich fatale Verengungen vermeiden, die in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen sind. Zwar hat die Geschichtsdidaktik nach dem Zweiten Weltkrieg nacheinander einige Verengungen überwunden, so die nationalstaatliche durch die Hereinnahme europäischer und weltgeschichtlicher Perspektiven; so die personalisierende und idealisierende Geschichtsbetrachtung durch stärkere Berücksichtigung der Sozialgeschichte als Bereich und der Strukturgeschichte als Aspekt seit Ende der sechziger Jahre. Umso erstaunlicher ist es, dass immer wieder neue Verengungen von einem einseitig verstandenen Gegenwartsbezug her didaktisch legitimiert werden. Neben dem weiter oben schon zurückgewiesenen emanzipatorischen Ansatz einseitiger Geschichtsbetrachtung hat sich in den sechziger und siebziger Jahren im Zuge der Diskussion um Fächerintegration besonders eine inhaltliche Verengung ausgewirkt, nämlich eine Verkürzung unserer Geschichte auf die Zeit etwa seit der Aufklärung und der Französischen Revolution.

Es ist im Prinzip nichts einzuwenden gegen ein inhaltliches Überwiegen neuzeitlicher und zeitgeschichtlicher Themen; denn je mehr wir an unsere Gegenwart herankommen, umso stärker haben wir es mit unserer eigenen unmittelbaren Vorgeschichte zu tun, umso vielfältiger werden die Bezüge zu heutigen Fragen, die historisch aufweisbar und erfahrbar sind. Historisch fundiertes Gegenwartsverständnis ist daher viel stärker auf Detailkenntnis etwa aus dem 19. und 20. Jahrhundert angewiesen als auch solches aus Antike und Mittelalter. Dennoch muss die Vorstellung, die Genese unserer Zeit reiche nur bis zur Aufklärung zurück, als ein unhistorischer Kurzschluss bezeichnet werden. Vielmehr ist gerade unsere Gegenwartssituation sowohl innergesellschaftlich wie zwischenstaatlich derart, dass ihre historische Ortsbestimmung einer universalgeschichtlichen Sicht bedarf. So treten etwa die Eigenarten und Probleme einer industriell-technisch bestimmten Gesellschaft umso deutlicher hervor, je mehr man sie im Kontrast zu vorindustriellen Gesellschaftsformen betrachtet. Das Zusammenwachsen der Völker der Erde zu einer Verkehrs-, Wirtschafts- und Kommunikationseinheit stellt heute die Kunst der Politik vor Aufgaben, die in ihrer Besonderheit erst in universalgeschichtlicher Anschauung hervortreten. "Wird Politik zur Weltpolitik, so ist die weltgeschichtliche Besinnung ihr notwendiges Korrelat" (Bergsträßer 1963, 36). Die Auswahlfrage für eine historische Ortsbestimmung der Gegenwart kann daher didaktisch nur sinnvoll diskutiert werden, wenn man zunächst davon ausgeht, dass die ganze Geschichte der Menschheit mögliches Arbeitsfeld für einen Geschichtsunterricht ist, der zum Gegenwartsverständnis beitragen soll. Aus diesem Feld unübersehbarer möglicher Gegenstände darf dann freilich nicht beliebig und willkürlich ausgewählt werden; denn es geht um unsere Geschichte, um den Zusammenhang unserer Gegenwart mit unserer eigenen Vergangenheit. [/S.:228]

Folgende Auswahlaspekte, die in didaktischer Literatur, freilich in unterschiedlicher Gewichtung, alle diskutiert werden, scheinen mir unentbehrlich für den didaktischen Entwurf eines Geschichtsunterrichts, der ohne Verengung der Aufgabe historischer Ortsbestimmung der Gegenwart dienen soll:

  • Fragen aus der Gegenwart an die Geschichte: Welche fundamentalen und permanent aktuellen Probleme unserer Zeit bedürfen der historischen Aufklärung?
  • Fragen nach unserem Selbstverständnis aus der Geschichte: Welche geschichtlichen Kräfte und Entwicklungen haben uns, unsere Zeit, unsere Gesellschaft, ihre Ordnungs- und Lebensformen grundlegend geprägt?
  • Fragen nach Geschichte als Alternative: Welche Phänomene unserer Tradition sind so abgeschlossen, dass sie im Vergleich und Kontrast das Spezifische unserer Zeit klarer erkennen lassen?
  • Fragen nach der Geschichte als anthropologisch-soziales Erfahrungsfeld: Welche geschichtlichen Phänomene und Ereignisse sind besonders geeignet (und wissenschaftlich erschlossen), zu menschlicher Selbsterkenntnis und zur sozialen Erfahrung von Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns beizutragen?
  • Fragen nach Geschichte als Erkenntnisproblem: Welche Gegenstände sind besonders geeignet und wissenschaftlich aufbereitet zur Vermittlung kategorialer Einsichten und methodischer Fähigkeiten im Umgang mit Geschichte sowie zur Klärung geschichtlichpolitischer Grundbegriffe?

Gewiss lässt sich mit Hilfe dieser Aspekte kein Kanon notwendiger Gegenstände begründen. Aber es lassen sich die Umrisse eines Feldes von Themen zeichnen, das im ganzen als unsere deutsche und europäische Geschichte im weltgeschichtlichen Zusammenhang zu bezeichnen wäre. Daher sollte der Geschichtsunterricht unserer öffentlichen Schulen auf jeden Fall Teilthemen aus folgenden Themenkreisen enthalten:

  • Sozialstrukturen und politische Ordnungsformen vorindustrieller Gesellschaften in einer auf die europäische Entwicklung bezogenen Auswahl (etwa: Neolithische Revolution und Hochkulturen; Griechische Polis; Römische Republik und ihre Entwicklung vom Stadtstaat zum Imperium; Reich, Kirche und Feudalordnung im Mittelalter).
  • Der Umbruch des europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems und die Ausformung des Staates zu Beginn der Neuzeit (etwa: Frühkapitalismus und Frühkolonialismus; Reformation und Religionskriege; Absolutismus und europäisches Staatensystem).
  • Die geistig-politische und wirtschaftlich-soziale Grundlegung der modernen Zeit im 18. und 19. Jahrhundert (Aufklärung und westlich-liberale Demokratie; Industrielle Revolution, Soziale Frage und unterschiedliche Konzepte ihrer Bewältigung; Liberalismus und Nationalstaat in Deutschland).
  • Weltkriege und Weltkrisen im 20. Jahrhundert (Imperialismus und Erster Weltkrieg; Demokratie, Faschismus/Nationalsozialismus und Kommunismus; Zweiter Weltkrieg und Ost-West-Dualismus einschließlich Deutsche Frage; Entkolonialisierung und Entwicklungsproblematik).

Damit haben wir weder einen fertigen Themenkatalog, noch soll hier plädiert werden für den chronologischen Durchgang durch die Geschichte. Was die Struktur und die Reihenfolge einzelner Themen betrifft, so legt gerade die Vielfalt der kategorialen, der methodischen und inhaltlichen Aspekte, die in der Geschichtsdidaktik heute diskutiert werden, eine gewisse Abkehr vom nur chronologischen Durchgang nahe. Dies käme auch der Koordination des Geschichtsunterrichts mit dem Politikunterricht zugute. Der Widerstand gegen diese Konsequenz stammt aus dem Missverständnis, damit würde auf Chronologie als Ordnungsprinzip überhaupt verzichtet. Sie muss gesichert werden, aber sie darf uns nicht dazu zwingen, etwa in der siebten Klasse dem Schüler schwierige kulturhistorische Vergleiche mit fernen Zeiten zuzumuten und ihn mit seinen Fragen zu unserer un[/S.:229]mittelbaren Vergangenheit, die ihm durch Eltern und Großeltern noch begegnet, auf die Abschlussklasse zu vertrösten. Zudem bleibt der chronologisch geordnete Durchgang durch die Geschichte, auch wenn er thematisch und perspektivisch mehr oder weniger stark strukturiert ist, doch allzu leicht an der Oberfläche der Ereignisse und verstößt damit sowohl gegen die Erfordernisse struktureller Geschichtsbetrachtung als auch gegen die der Lernpsychologie (strukturiertes Lernen). Sinnvoll und fruchtbar scheinen hingegen Ansätze, in denen versucht wird, die kategorialen und methodischen Lernpotentiale der Geschichte unterschiedlich strukturierten Thementypen zuzuordnen und sie damit zu sichern (Rohlfes/Jeismann 1974 und Behrmann/Jeismann/Süssmuth 1978). Dementsprechend seien hier in Orientierung an unseren obigen Auswahlaspekten einige beispielhafte Hinweise gegeben:

  • Die historische Problemanalyse erhellt eine gegenwärtige Problemlage durch Aufarbeitung ihrer Geschichte (Deutschlandfrage; Nahost-Konflikt).
  • Der thematische Längsschnitt untersucht die Gegenwartswirkung und/oder die "lange Dauer" geschichtlicher Phänomene (geistliche und weltliche Gewalt; deutsch-polnisches Verhältnis).
  • Der epochenspezifische Querschnitt erarbeitet die Eigenart und Andersartigkeit früherer Lebensformen und sozialer Strukturen (Griechische Polis; Feudalordnung im Mittelalter).
  • Die historische Situationsanalyse macht synoptisch die Komplexität einer Konstellation deutlich und/oder rekonstruiert sie als Entscheidungssituation (Ausbruch des Ersten Weltkrieges; 20. Juli 1944).
  • Der historiographische Vergleich macht die Perspektivität und Relativität historischer Erkenntnis sichtbar (das Bild Cäsars oder Luthers oder Bismarcks im Urteil von Zeitgenossen und Nachwelt; Ergebnisse deutsch-polnischer Schulbuchkonferenzen).

Ein in dieser Weise anspruchsvoller, thematisch strukturierter Geschichtsunterricht ist auf Sekundarstufe II umso eher möglich, je gründlicher auf Sekundarstufe I gearbeitet wurde. Aber auch hier muss vor dem Irrtum gewarnt werden, der nur chronologische Durchgang durch die Geschichte sichere ausreichende Geschichtskenntnisse. Jeder Geschichtslehrer weiß, dass sehr rasch in das Vergessen zurücksinkt, was in früheren Jahren behandelt wurde, wenn es nicht entweder ständig direkt wiederholt oder durch neue Fragestellungen in immanenter Wiederholung aufgegriffen wird. Zu letzterem bietet ein thematisch stärker strukturierter Geschichtsunterricht aber auf jeden Fall die bessere Gelegenheit als der einfach chronologische Durchgang. An ihm streng festzuhalten, heißt auf jeden Fall ferner Absage an die Koordination von Geschichts- und Politikunterricht. Denn letzterer bewegt sich auch auf den Jahrgangsstufen jedenfalls in der Gegenwart, auf denen sich der Geschichtsunterricht heute leider noch allzu oft ohne jeden Gegenwartsbezug mit fernen und früheren Zeiten beschäftigt.

 

5. Integration von Zeitgeschichte und Politikunterricht

So nachdrücklich wir gerade um politischer Bildung willen für einen eigenständigen, aber mit dem Politikunterricht koordinierten Geschichtsunterricht plädiert haben; für das, was man Zeitgeschichte zu nennen pflegt, stellt sich das Problem anders. Hier scheint mir Integration nicht nur möglich, sondern geboten. In den fünfziger und sechziger Jahren hat man zwischen zeitgeschichtlichem und politischem Unterricht kaum unterschieden. Erst durch die stärkere sozial- und politikwissenschaftliche Ausrichtung des letzteren sind die Fachperspektiven auseinandergetreten und unterscheidbar geworden. Dies hat aber stellenweise auch dazu geführt, dass Politikunterricht zeitgeschichtlich leer, zeitgeschichtlicher Unterricht sozialwissenschaftlich blind geworden ist.

Was Zeitgeschichte ist, lässt sich nicht für längere Zeit in Jahreszahlen fixieren. Ihr Beginn verschiebt sich ständig, wenn auch unmerklich, und sie mündet in die offenen poli[/S.:230]tischen Probleme der Gegenwart, aus denen sie viel unmittelbarer als die Geschichtswissenschaft sonst ihre Frageimpulse und ihr Erkenntnisinteresse bezieht. Zeitgeschichte umgreift einen unmittelbar politisch wirksamen Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart (Kampmann 1968). Aber dieser Zusammenhang ist kein objektiver Bestand, der uns Zeitgenossen gegenüberstünde und mit den distanzierenden Mitteln Wissenschaftlicher Forschung allein bearbeitet werden könnte. Vielmehr ergibt sich seine Eigenart gerade daraus, dass wir in ihn hineinverwoben sind, und eben dies macht die Integration von Zeitgeschichte und Politikunterricht notwendig.

Zeitgeschichte ist die Geschichte der jeweils lebenden Menschen, für uns also die erlebte Geschichte der heute Lebenden. Für das geschichtlich-politische Bewusstsein der Lebenden wird Zeitgeschichte nicht durch Geschichtsschreibung erschlossen, mag auch die Wissenschaft mit mehr oder weniger Erfolg dies versuchen. Sie wird vielmehr von denen, die sie erlebt haben, unmittelbar mental interpretiert, erzählt oder verschwiegen, gedeutet und in politische Zusammenhänge eingebracht. Sie treibt die Menschen noch um und ist so auf viel elementarere Weise politisch wirksam als die Geschichte, die jenseits unserer Lebensspanne liegt. Wir haben es also bei Zeitgeschichte immer mit einem sehr engen Ineinander von subjektiver und objektiver Betroffenheit zu tun.

Zeitgeschichte so verstanden ist aber immer die Geschichte mindestens zweier, in der Regel dreier und mehr Generationen, die objektiv Verschiedenes erlebt haben und auch das gemeinsam Erlebte subjektiv unterschiedlich verarbeiten und deuten. In den fünfziger und sechziger Jahren war die Auseinandersetzung mit dem Scheitern der Weimarer Republik, mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg unsere notwendige zeitgeschichtliche Thematik. Spätestens seit dem Mentalitätsschub der "Studentenrevolte" gegen Ende der sechziger Jahre wurde dann die Nachkriegsentwicklung selbst zum zeitgeschichtlichen Gegenstand. Die Bundesrepublik Deutschland ist mehr als 30 Jahre alt, sie umfasst eine längere Zeitspanne als Weimarer Republik und Nationalsozialismus zusammen. Ihre Anfänge liegen für die heutige Schuljugend weiter zurück als für die Nachkriegsjugend der Erste Weltkrieg. Zeitgeschichte als die unterschiedlich erlebte Geschichte der heute Lebenden erfordert daher einen Kommunikationsprozess zwischen den Generationen, und eben dieser Prozess ist zentraler Bestandteil politischer Bildung. Es geht um die kommunikative und dialogische Vermittlung von Frageperspektiven und Erfahrungen zwischen den Generationen. Darin gibt es heute erhebliche Defizite.

So werden die Erfahrungen der älteren Generation, die in den Zusammenhang der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gehören, seit langem nur mangelhaft ins Gespräch gebracht. Dies ist einer der gefährlichsten Mängel unserer politischen Bildung, weil es bedeutet, dass das Sinnkonzept unserer politischen Ordnung der nachwachsenden Generation nicht aus seinem geschichtlich-politischen Kontext begreifbar und nachvollziehbar gemacht wird. Wenn die ältere Generation ihre Position entweder nur autoritär behauptet oder nachgiebig räumt, statt sie gesprächsbereit zu vertreten und damit Erfahrungen zu vermitteln, dann gerät das Gleichgewicht zwischen Tradition und Fortschritt in Gefahr, dann gewinnen erfahrungslos zukunftsorientierte, ideologieanfällige und utopische Vorstellungen die Oberhand, und das Bestehende erscheint rasch nur noch im negativen Licht. Das Abschneiden der geschichtlichen Perspektive in der sozialwissenschaftlichen Lehrerausbildung hat bereits dazu geführt, dass heute eine ganze Generation junger Lehrer Politikunterricht erteilt ohne genügenden zeitgeschichtlichen Hintergrund und ohne den Blick für die Notwendigkeit, unsere heutigen Probleme im Zusammenhang der letzten drei Jahrzehnte zu sehen. Damit aber trägt Politikunterricht nicht mehr zum Kommunikationsprozess zwischen den Generationen im beschriebenen Sinne bei.

Ob es sich um die Deutschlandfrage handelt, um den Ost-West-Konflikt und die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, um Friedenssicherung und Rüstungsproblematik, um Dritte Welt und Entwicklung, um die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und die in ihrem Rahmen verlaufenden politischen Prozesse, um Wirtschaftsordnung, [/S.:231] Konjunktur- und Sozialpolitikum unsere Medienlandschaft oder um Fragen der Bildungspolitik, keine dieser Fragen kann unter der Zielsetzung politischer Urteilsbildung hinlänglich begriffen werden ohne den zeitgeschichtlichen Zusammenhang der Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg. Damit soll nicht gesagt sein, der Nationalsozialismus mit seinen fundamentalen sozialstrukturellen, politischen und geistigen Erschütterungen sei aus unserem zeitgeschichtlich-politischen Fragehorizont schon herausgerückt. Er wird vielmehr noch für einige Zeit auch in den hier geforderten zeitgeschichtlichen Kommunikationsprozess hineingehören. Aber auch auf diesem Feld wurde in den vergangenen Jahren eine politisch rationale und moralisch verantwortbare Auseinandersetzung zwischen den Generationen nicht nur durch beiderseitige Fehlhaltungen, sondern auch durch das Auseinanderreißen der geschichtlich-historischen und der gegenwärtig-sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise gestört. Der Versuch politischen Urteilens ohne Kenntnis zeitgeschichtlicher Zusammenhänge führt zu bodenlosem Politisieren und zu unverantwortlichem Gerede; eine nicht auf politische Fragestellungen hin strukturierte Zeitgeschichte ertrinkt in der Fülle beliebiger Einzelheiten. Zeitgeschichte und Politikunterricht gehören zusammen. Politikunterricht ohne Zeitgeschichte bleibt leer, Zeitgeschichte ohne Politikunterricht bleibt blind.

Aus dieser unabweisbaren Einsicht die Konsequenzen für Lehrerbildung, Stundentafeln und Lehrpläne zu ziehen, ist eine dringende Notwendigkeit, wenn politische Bildung an unseren öffentlichen Schulen so etabliert werden soll, dass sie endlich ihren Namen verdient.

 

Literatur

Behrmann, Günter C. [10]; Jeismann, Karl-Ernst; Süssmuth Hans (1978): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn: Schöningh.

Bergmann, Klaus; Schneider, Gerhard (Hg.) (1982): Gesellschaft - Staat - Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500-1980. Düsseldorf: Pädag. Verl. Schwann.

Bergsträßer, Arnold (1963): Geschichtliches Bewußtsein und politische Entscheidung. In: Geschichte und Gegenwartsbewusstsein. Festschrift Hans Rothfels. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Giesecke, Hermann [4] (1974): Thesen zum Geschichtsunterricht. In: Die Neue Sammlung. Jg. 14. Seite 63ff.

Kampmann, Wanda (1968): Zur Didaktik der Zeitgeschichte. Stuttgart: Klett [9].

Kosthorst, Erich (Hg.) (1977): Geschichtswissenschaft. Didaktik - Forschung - Theorie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Oelmüller, Willi (Hg.) (1977): Wozu noch Geschichte? München: Fink.

Rohlfes, Joachim (1974): Umrisse einer Didaktik der Geschichte, 3. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Rohlfes, Joachim; Jeismann, Karl-Ernst (Hg.) (1974): Geschichtsunterricht. Inhalte und Ziele. Arbeitsergebnisse zweier Kommissionen. Stuttgart: Klett (Beiheft zur Zeitschrift "Geschichte in Wissenschaft und Unterricht").

Schieder, Theodor; Gräubig, Kurt (Hg.) (1977): Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft (Reihe "Wege der Forschung" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft). Darmstadt: Wiss. Buchges.

Schörken, Rolf (Hg.) (1981): Der Gegenwartsbezug der Geschichte. Stuttgart: Klett [9].

Süssmuth, Hans (Hg.) (1980): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Paderborn: UTB 954.

Sutor, Bernhard [25] (1979): Geschichte als politische Bildung. In: Mickel, Wolfgang W. (Hg.): Politikunterricht im Zusammenhang mit seinen Nachbarfächern. München: Ehrenwirth [23], Seite 82ff.

Sutor, Bernhard [25] (1979): Zum Verhältnis von Geschichts- und Politikunterricht. Politische Bildung im Fächerbund. In: Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament [26]". Nr. 34/35, Seite 31ff.

 
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