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Otto, Karl A.: Die Bedeutung der Soziologie in der sozialwissenschaftlichen Lehrerausbildung (1997)

1 Fachübergreifende Problemorientierung in der politischen Bildung

Für die sozialwissenschaftliche Lehramtsausbildung ist typisch, daß sie in fachübergreifenden Studiengängen stattfindet. Die Art und Zahl der beteiligten Fächer, ihre zeitlichen und inhaltlichen Anteile variieren jedoch je nach Studiengang und Studienort ganz erheblich [...]. Das ist nicht nur auf eine teilweise sachfremde Konkurrenz der Fächer, sondern auch auf Unsicherheit in der Frage zurückzuführen, welche Bedeutung den einzelnen Disziplinen in den jeweiligen Fächerkombinationen zukommt. So ist schon die auf den ersten Blick durchaus plausible Vorstellung, daß "der Kern" der politischen Bildung "das Politische" und folglich Politikwissenschaft die zentrale Bezugswissenschaft sei (vgl. Sander [1] 1997, S. 17, 21, 32 ff.; Massing 1996, S. 124; Bundeszentrale 1994, S. 13 und "Darmstädter Appell" 1996), in kritischer Sicht durchaus zweifelhaft, weil das "Politische" selbst strittig ist und zudem erst im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext verständlich wird (so in der Auseinandersetzung mit dem "Darmstädter Appell"; vgl. Kahsnitz 1996 und Henkenborg [2] 1996, S. 165; Henkenborg schreibt zur Auseinandersetzung um den Politikbegriff: "Sicher hat ein weiter (soziologischer) Politikbegriff Risiken (Überforderung, Allzuständigkeit. Ressourcenknappheit), und unbestritten bietet ein enger (politologischer) Politikbegriff Vorteile (Begrenzung der knappen Fachressourcen auf ein Proprium). Politische Bildung läßt sich - heute weniger denn je - trotzdem nicht auf einen engen Politikbegriff begrenzen, denn: politikwissenschaftliche Analysen der 'politischen Gesellschaft' (Greven), der 'Entgrenzung der Politik' (Beck) oder der 'life-politics' sehen das Neue in der Politik ja gerade darin, daß in der modernen Gesellschaft 'virtuell alles politisch geworden' (Greven) ist" (S. 165)). Versuche, in dieser Frage mehr Klarheit durch Rekurs auf die Systematik etwa von Soziologie, Politikwissenschaften etc. zu gewinnen, sind m. E. schon deshalb aussichtslos, weil die Kombination von Fächern und die Integration von Fachanteilen nur im Hinblick auf einen außerhalb der Fächer liegenden Zweck Sinn macht. Was der "angemessene" Beitrag eines Faches im Rahmen eines interdisziplinären Studiums ist oder sein könnte, kann deshalb nur im Hinblick auf Funktionen bestimmt werden, die ein Studiengang nach Maßgabe jeweiliger Studienordnungen hat oder haben sollte. Diese "Maßgabe" ist in jedem Fall didaktisch begründet und daraus [/S. 300:] folgt zunächst, daß der inhaltliche Beitrag der Soziologie oder anderer Disziplinen zur sozialwissenschaftlichen Lehramtsausbildung nicht nach Erfordernissen der Systematik des Faches, sondern nach den Zielen und Aufgaben der fachübergreifenden Studiengänge zu bemessen ist.

Wenn wir als Beispiel Nordrhein-Westfalen nehmen, und hier die Universität Bielefeld, so ist die Soziologie an folgenden interdisziplinären Lehramtsstudiengängen beteiligt:

  • "Sachunterricht/Gesellschaftslehre" (SU/GL) der Primarstufe (Klasse l - 4);
  • "Sozialwissenschaften" (Sowi) der Sekundarstufen I und II (Klasse 5-10 und 11 - 13);
  • "Erziehungswissenschaftliches Studium für das Lehramt" (ESL).

[...] Anders als das ESL-Studium sind die Studiengänge "Sozialwissenschaften" und "Sachunterricht/Gesellschaftslehre" auf entsprechende Schulfächer bezogen. Eine Eigenart dieser Unterrichtsfächer ist, daß es sich um "Lernbereiche" handelt (in der Primarstufe ist politische Bildung Bestandteil des Lernbereichs "Sachunterricht", in [/S. 301:] der Sekundarstufe I heißt der Lernbereich "Gesellschaftslehre" (Geschichte/Politik) und in der Sekundarstufe II "Sozialwissenschaften"), die jeweils mehrere Bezugswissenschaften haben, die in einem didaktisch begründeten Zusammenhang stehen. Diese Bezugswissenschaften sind auch an den entsprechenden Studiengängen beteiligt. Für den Lernbereich "Sachunterricht" sind das im Studiengang SU/GL: Geographie, Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft. Für den Lernbereich "Sozialwissenschaften/Politik" sind das im Sowi-Studiengang Soziologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und in Bielefeld zudem - als Ausnahme in NRW - Geschichte im Verständnis einer historischen Sozialwissenschaft.

Aus der Lernbereichskonstruktion ergibt sich eine weitreichende didaktische Konsequenz, die auch für die sozialwissenschaftliche Studiengangskonzeption eingefordert werden muß: die systematische Zusammenfügung der an den Lernbereichen beteiligten Fachgebiete. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand - und mehr noch in der Praxis - handelt es sich noch weitgehend um ein Desiderat und insofern um eine innovative Aufgabe. Diese Aufgabe wirft Fragen auf, die theoretisch und praktisch noch ohne zureichende Antwort sind:

  • Ist das sachliche und methodische Wissen der beteiligten Fächer im Unterricht am zweckmäßigsten additiv, integrativ oder kooperativ zusammenzufügen?
  • In welchem Verständnis ist Integration überhaupt möglich im Hinblick auf die für die Einzelwissenschaften konstitutiven Unterschiede der Fragestellungen, Gegenstände und Methoden und der dadurch bestimmten curricularen Prämissen der Fächer?
  • Läßt sich der integrative Ansprach unterrichtspraktisch überhaupt einlösen bzw. in welcher Form?

Diese Fragen haben auch für die sozialwissenschaftlichen Studiengänge und die Studienorganisation grundlegende Bedeutung, da für die Integrationsveranstaltungen im Studium vergleichbare Probleme zu lösen sind. Zum konzeptionellen Vorverständnis gehören dabei folgende Überlegungen:

Die Schulfächer mit politischen Bildungsaufgaben intendieren einerseits die Förderung politisch-sozialer Urteils- und Handlungskompetenz der Schüler/innen, andererseits Vorbereitung auf den Fachunterricht der nachfolgenden Schultypen bzw. auf das Hochschulstudium. Diese Schulfächer sind also der didaktischen Grundfunktion nach zweierlei: politisch-soziale Bildung und Fach- bzw. Wissenschaftspropädeutik. Dementsprechend erfordert auch die Ausrichtung der schulfach- bezogenen Studiengänge auf diese Doppelfunktion eine Studienorganisation, bei der sowohl in die grundlegenden Inhalte, Erkenntnisweisen und Fragestellungen sozial- wissenschaftlicher Disziplinen eingeführt wird, als auch fächerübergreifende Studien zu komplexen gesellschaftlichen Themen unter didaktischen - vorwiegend problem- und handlungsorientierten - Fragestellungen ermöglicht werden. Diese Zusammenfügung, die in einer rein fachwissenschaftlichen Konstruktion des [/S. 302:] Studiengangs kaum Bestand haben könnte, findet Rückhalt vor allem in der - wiederum didaktisch relevanten - Einsicht, daß es angesichts zunehmender Vernetzung sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Prozesse, Systeme und Problemlagen für politisches Urteilen und Handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen unabdingbar geworden ist, das in je spezifischer Weise erschlossene und systematisierte Wissen der sozialwissenschaftlichen Disziplinen bei der Analyse und Lösung gesellschaftlicher Probleme jeweils aufeinander bezogen zu verarbeiten. So würde es z. B. nicht ausreichen, politisch auf das Phänomen zunehmender Gewaltbereitschaft etwa nur mit dem Wissen zu reagieren, das Individual- und Sozialpsychologie oder Soziologie oder Politikwissenschaft usw. dazu erarbeitet haben.

Damit kommen wir auf die Frage zurück, auf welche Weise der wechselseitige Bezug hergestellt, die jeweiligen Fachanteile des sozialwissenschaftlichen Studiengangs begründet ausgewählt und integriert werden können, und somit auch, welche Bedeutung die Soziologie in diesem Zusammenhang haben kann.

Versuche, die Integrationsaufgabe zu lösen, lassen sich nach dem bisherigen Stand der fachdidaktischen Diskussion am ehesten über den Bezug der Fächer auf gesellschaftliche Probleme realisieren (grundlegend hierzu: Pandel [3] 1978). Denn wie weit wir das Netz sozialwissenschaftlicher Studien spannen müssen und wie dabei die Fächer miteinander verknüpft werden, hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Problems ab, das untersucht wird, und davon, wie es definiert und dimensioniert wird (ausführlich bei Kapp 1983, S. 208-214). [...] Welche der [..] Problemdimensionen zum Gegenstand von Unterricht und Studium gemacht werden, und welche Fächer folglich unterrichts- bzw. studienrelevant sind, ist letztlich nur vom jeweiligen - mit der Problemdefinition verbundenen - Erkenntnisinteresse und den sich daraus ergebenden Fragestellungen her zu entscheiden. Dieser problemorientierte Integrationsansatz deckt sich auch mit einem Politikbegriff, der politisches Handeln als eine prinzipiell "endlose Kette von Versuchen zur Bewältigung gesellschaftlicher Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben" (vgl. Massing/Skuhr 1993, S. 247) beschreibt. Ein vorweg bestimmter Dominanzanspruch eines Faches erscheint in dieser Sicht jedenfalls als unbegründet und sogar kontraproduktiv.

[/S. 304:]

2 Studienelemente und Struktur der sozialwissenschaftlichen Studiengänge

Dem Prinzip eines problemorientierten, fächerübergreifenden und möglichst integrierten Studiums der Sozialwissenschaften entsprechen die derzeitigen Studienordnungen allerdings nur ansatzweise.

[...] Der achtsemestrige Studiengang "Sozialwissenschaften" (vgl. Studienordnung Bielefeld 1997 [4]) für die Sekundarstufe II im Umfang von 60 SWS [...] [ist] ein Drei-Fächer-Ministudium, das zwar im Rahmen vorgegebener Teilgebiete aus Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft (mit entsprechenden Wahl- und Pflichtveranstaltungen) erfolgt, curricular aber [..] nicht geregelt ist. [...]
[/S. 305:]
Fächerübergreifende und integrierte sowie fachdidaktische Studiengangselemente [...] sind im Sowi-Studium [...]:

  • Grundkurs "Einführung in die Sozialwissenschaften" (4 SWS),
  • Methodenveranstaltung "Methoden empirischer Sozialforschung" (4 SWS),
  • Integrationsveranstaltung I (4 SWS),
  • Integrationsveranstaltung II (4 SWS + 2 SWS),
  • Fachdidaktik.

Für die Integrationsveranstaltungen [gibt es] [...] eine curriculare Rahmenorientierung [...], die ausführliche Hinweise zu Art, Funktion und Durchführung dieser studiengangsspezifischen Veranstaltungen enthält. Danach werden im fächerübergreifenden "Grundkurs" die Studienanfänger/innen in Gegenstandsbereiche, Fragestellungen, Methoden und Theorieansätze der beteiligten Disziplinen sowie in interdisziplinäres Denken und Arbeiten bei der Analyse gesellschaftlicher Probleme eingeführt. Der Grundkurs wird von mindestens zwei Lehrenden der am Studiengang beteiligten Fakultäten durchgeführt und von Tutorien begleitet.

[...]

Die Integrationsveranstaltung I wird - wie der "Grundkurs" - in der Regel von mehreren Lehrenden der am Studiengang beteiligten Fakultäten durchgeführt. Diese Form des Team-Teaching soll eine disziplinübergreifende sozialwissenschaftliche Analyse ausgewählter gesellschaftlicher Probleme ermöglichen. Die Veranstaltung "soll dazu einerseits die Kenntnis der spezifischen Beiträge verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen zu problemorientierten Fragestellungen, andererseits [/S. 306:] die Fähigkeit vermitteln, diese Beiträge für die Bearbeitung politischer Entscheidungs- und Handlungsprobleme gegebenenfalls neu zu strukturieren" (§ 9 der StO Sowi).

Die Integrationsveranstaltung II ist ein Verbund von Theorie und Unterrichtspraxis. Sie wird gleichfalls von Lehrenden aus mindestens zwei Fakultäten durch- geführt und verbindet die Aufgaben der Integrationsveranstaltung I mit der Vermittlung fachdidaktischer Qualifikationen und mit schulpraktischen Studien.

3 Die Bedeutung der Soziologie am Beispiel problemorientierter Curricula

Didaktischer Fixpunkt der interdisziplinären sozialwissenschaftlichen Studiengangselemente ist die oben dargelegte didaktische Doppelfunktion der Schulfächer und daraus folgend die Problemorientierung des Studiums. Konzeptionell und in der Studienpraxis wird mit der problembezogenen Fächerintegration noch experimentiert. Es kristallisiert sich aber eine curriculare Grundstruktur heraus, die den Integrationsanspruch offenbar einlösen kann und an der sich auch inhaltlich nachweisen läßt, inwiefern Soziologie für ein fachübergreifendes, problemorientiertes Studium unverzichtbar ist. Zu diesem Nachweis führen folgende Überlegungen:

l. Das Ziel politischer Urteils- und Handlungsfähigkeit schließt immer die Befähigung ein, sich in politisch-gesellschaftlichen Problemfeldern sachkundig machen, Probleme beschreiben und analysieren zu können. Gesellschaftliche Probleme können aber - wie auch dem Schaubild zu entnehmen ist - nicht zureichend beschrieben, analysiert, beurteilt und gelöst werden, wenn der Zugang zum Problem nur aus der Perspektive einer Wissenschaftsdisziplin gesucht wird. Denn praktische Probleme sind - im Unterschied zu theoretischen Problemen - ungefächert (vgl. Pandel 1978, S. 368 [5]).

Das läßt sich an jedem problemhaltigen Beispiel nachweisen: Sei es die Umweltproblematik, Arbeitslosigkeit, Armut, Fremdenhaß, Migration oder der Golfkrieg - immer handelt es sich um vieldimensionale Sachverhalte und Ereigniszusammenhänge, die zahlreiche Gründe/Ursachen und Folgewirkungen haben und unter ganz verschiedenen Erkenntnisinteressen und Fragestellungen "Thema" sein können. [...] [/S. 307:] Psychologie und Sozialpsychologie könnten in diesem Beispiel [Golfkrieg; d. Red.] Verhaltensweisen und Verhaltensmuster der maßgeblichen Akteure erklären, Politikwissenschaft könnte Aufschluß geben über Machtphänomene, Mechanismen der politischen Willensbildung, des inter- und supranationalen Krisenmanagements usw., und Soziologie könnte Beiträge leisten zur Aufklärung der Systemzwänge und gesellschaftlichen Strukturen, die den Handlungsrahmen für die Aktivitäten der individuellen und kollektiven Akteure in dieser Krisensituation bildeten. Ein multiperspektivischer, fächerübergreifender Zugang ist also unverzichtbar.

2. Welche Wissenschaftsdisziplinen für die politische Urteils- und Handlungskompetenz relevant sind, inwieweit also die verschiedenen Fächer an der politischen Bildung und darauf bezogenen Studiengängen zu beteiligen sind, läßt sich ebenfalls nicht aus der Sicht einer Einzelwissenschaft klären, sondern nur im Hinblick auf konkrete gesellschaftliche Probleme oder Problemtypen (z. B. sogenannten "Schlüsselproblemen" wie Krieg, Armut/Hunger, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung und Massenmigration). Ausgangspunkt fächerübergreifender Studien sind deshalb nicht Übersichten über Theoriebestände und Methodenrepertoires von Politikwissenschaft, Soziologie usw. als einer Art "Vorratswissen" für die Befassung mit Problemen, sondern die Probleme selbst. Erst nach der Definition einer Situation, eines Ereigniszusammenhangs etc. als Problem, erst nach dessen Dimensionierung als politisches, ökonomisches, soziales oder rechtliches Problem, und erst wenn vom Problem her Fragen an die Bezugsdisziplinen gerichtet werden, haben Multidisziplinarität und Multiperspektivität ihre methodische Berechtigung (vgl. Pandel 1978, S. 368 [5]); erst danach wird auch der für die Problembearbeitung erforderliche Fächeranteil absehbar.

3. Eine nur additive Zusammenfügung von fachspezifischen Fragestellungen, Methoden, Begriffen, Theorien innerhalb eines Problemhorizonts reicht aber nicht aus. Wir wissen dann noch nicht, welche Bedeutung bestimmte Ursachen in einem Wirkungszusammenhang haben; welche Ursachen/Gründe in der Ursachenhierarchie dominant sind; was zufällig und was wesentlich ist. Ohne die Möglichkeit zur Gewichtung und Bewertung von Bedingungsfaktoren gesellschaftlicher Probleme kann die Folge bloßer Multiperspektivität auch Orientierungslosigkeit und politische Handlungsunfähigkeit sein. Daraus ergibt sich als Konsequenz: Die fächerübergreifende Problemanalyse muß so organisiert sein, daß sie eine begrifflich geordnete Zusammenhangsvorstellung ermöglicht. Das wiederum gelingt nur, wenn die problemrelevanten Elemente und Teilinhalte verschiedener Fächer unter übergeordneten Gesichtspunkten zusammengefaßt und integriert werden. Durch eine solche Zuordnung bekommen die fachspezifischen Erkenntnisbeiträge eine Struktur - sie bilden einen Erklärungs- und Bedeutungszusammenhang. [/S. 308:]

4. Die integrierenden übergeordneten Gesichtspunkte werden aus theoretischen Konstrukten gewonnen, die der Definition und Analyse von Problemen sowohl vorgängig als auch nachträglich als Interpretationsrahmen dienen.

Probleme sind mit bestimmten Ereignissen nicht einfach vorhanden, sondern Ereignisse werden als Problem oder problematisch gedeutet. Z. B. wird Lohnkürzung im Krankheitsfall von Arbeitnehmern in vielerlei Hinsicht als Problem, von Unternehmen als Lösung von Problemen interpretiert. Ein Ereignis oder Verhalten wird - wie Fandet überzeugend dargelegt hat - erst dann als problematisch definiert, wenn es "einer sozialen Norm widerspricht, eine Erwartung enttäuscht oder eine erwartete Regelmäßigkeit durchbricht ... Die Existenz eines Systems von normativen Erwartungen gibt den Hintergrund ab, auf dem ein Ereignis zu einem Problem werden kann - vor dem ein Ereignis fragwürdig wird" (Pandel 1978, S. 366 [6]). Daraus folgt: Jede Problemdefinition setzt bereits ein vorgängiges Verständnis voraus, eine Zusammenhangsvorstellung von Bedingungsfaktoren, Problemursachen, Akteursmotiven usw. sowie eine Deutung der vermuteten Ursachen, Bedingungsfaktoren usw.

Dieses vorgängige Verständnis kann im Alltagsdiskurs aus Deutungsangeboten der Massenmedien stammen, die von den "Problemverursachern" meist gleich mit- geliefert werden, oder aus Vorurteilen und Vorkenntnissen, aus Verallgemeinerung von Lebenserfahrungen. Wissenschaftlich fundiert wird die Problemanalyse allerdings erst durch Rückfragen an die Bezugswissenschaften, durch Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Theorien - und an diesem Punkt wird nun die Bedeutung von Soziologie für die sozialwissenschaftliche Lehramtsausbildung vollends deutlich: ohne Wissen über soziale Systeme und ihre Funktionen, über soziale Strukturen, soziale Ungleichheit, System- und Sozialintegration, ohne theoretische Vorstellung von der Gesellschaft (etwa als "Risikogesellschaft") und ihrem strukturellen Wandel, ohne Theorie über die Interdependenzgeflechte von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bliebe schon konzeptionell der Zugang zu dem Wissen darüber verbaut, "wie die alles umfassende soziale Organisation das Verhalten ihrer Teile formt und lenkt", welche funktionalen Beziehungen zwischen dem Ganzen und seinen Bestandteilen bestehen. An dieser Feststellung kommen wir nicht vorbei: "Wirtschaftliche oder politische Fragen können solange nicht angemessen behandelt werden, als sie ausschließlich als wirtschaftliche oder politische gesehen werden" (Kapp 1983, S. 189, 208).

Zusammenfassend ergibt sich daraus für die Integrationsveranstaltungen der sozialwissenschaftlichen Studiengänge folgende didaktische Struktur:

Erster Schritt: Problembeschreibung und Problemdefinition. Dabei ist zu klären, inwiefern ein Sachverhalt, Ereignis etc. ein Problem ist und um welche Art von Problem (politisches, ökonomisches, rechtliches usw.) es sich handelt. Dazu sollte [/S. 309:] auch die Benennung des normativen Hintergrunds der Problemwahrnehmung und Darlegung des Erkenntnisinteresses gehören.

Zweiter Schritt: Analyse und Dimensionierung des Problems nach dem Muster des Schaubilds. Sie soll alle Faktoren erfassen, die im problematischen Sachverhalt oder Ereigniszusammenhang eine Wirkung/Bedeutung haben. Die dadurch bewirkte Sinnfälligkeit der Komplexität realer gesellschaftlicher Probleme soll bei den Studienanfänger/innen Verständnis für den Zusammenhang der sozialwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen wecken und zugleich die Einsicht vermitteln, daß das Ziel politischer Bildung (einen Beitrag zur Entwicklung politischer Urteils- und Handlungsfähigkeit zu leisten) ein interdisziplinäres wissenschaftliches Vorgehen bedingt.

Dritter Schritt: Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands je nach Erkenntnisinteresse unter didaktischen Relevanzaspekten. Es muß entschieden werden, welche Problemdimensionen berücksichtigt und eingehender untersucht werden sollen und auf welche Fragen die Untersuchung eine Antwort geben soll. Formulierung von Annahmen zu den Untersuchungsfragen.

Vierter Schritt: Aufarbeitung von Forschungs- und Erkenntnisbeiträgen der einzelnen Bezugswissenschaften. Mit welchen Anteilen diese einbezogen werden, hängt von den Fragen ab, die vom Problem her an die Soziologie, Politikwissenschaft etc. gerichtet werden. [...]
Anders als die Integrationsveranstaltungen dient der "Grundkurs" in erster Linie nicht der Aufarbeitung des Problems, sondern der Einführung in die Denkweisen der Disziplinen anhand eines Problems. Die Studierenden sollen dabei

(1) erkennen, daß der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß arbeitsteilig organisiert und dadurch in jeweils spezifischer Weise begrenzt ist;
(2) die Fähigkeit erwerben, in den drei nomothetischen Sozialwissenschaften (Soziologie, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft) denken zu lernen (wozu insbesondere auch Einübung in die Besonderheit der soziologischen Denkweise gehört);
(3) lernen, worin sich die Fächer hinsichtlich ihrer Gegenstandsbereiche, Fragestellungen, Methoden, Schlüsselbegriffe und Theorieansätze unterscheiden, und wie sie sich im Hinblick auf die Problemanalyse systematisch aufeinander beziehen lassen. [/S. 310:]

Literatur

Bundeszentrale für politische Bildung [7] (1994) (Hrsg.): Politikdidaktik kurzgefaßt, Schriftenreihe Bd. 326. Bonn.
Darmstädter Appell (1996). In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47/96, S. 34-38.
Henkenborg, P. [2] (1996): Politische Bildung neu denken: Skizzen zu einer Umbruchsituation. In:
Weidinger, D. [8] (Hrsg.): Politische Bildung in der Bundesrepublik. Zum 30jährigen Bestehen der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung. Opladen, S. 160-167.
Kahsnitz, D. (1996): Politische Bildung: Ohne Krisenbewußtsein in der Krise. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47/96, S. 23-33.
Kapp, K. W. (1983): Erneuerung der Sozialwissenschaften. Ein Versuch zur Integration und Humanisierung, Frankfurt a. M.
Massing, P. (1996): Plädoyer für einen politischen Politikunterricht. In: Weidinger, D.: Politische Bildung in der Bundesrepublik. Opladen, S. 124-127.
Massing, P./Skuhr, W.: Die Sachanalyse - Schlüssel für die Planung von Unterricht. In: Gegenwartskunde, H 2/1993, S. 241-275.
Pandel, H.-J. [9] (1978): Integration durch Eigenständigkeit? [3] Zum didaktischen Zusammenhang von Gegenwartsproblemen und fachspezifischen Erkenntnisweisen. In: Schörken, R. (Hrsg.): Zur Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht. Stuttgart 1978, S. 346-379.
Sander, W. [10] (1997): Theorie der politischen Bildung: Geschichte - didaktische Konzeptionen - aktuelle Tendenzen und Probleme. In: Sander, W. (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts., S. 5-45.
Studienordnung der Universität Bielefeld (1996) [11] für den Studiengang Lernbereich Sachunterricht Gesellschaftslehre als Schwerpunkt mit dem Abschluß Erste Staatsprüfung für das Lehramt der Primarstufe vom Dezember 1996.
Studienordnung der Universität Bielefeld (1997) [4] für den Studiengang Sozialwissenschaften mit dem Abschluß Erste Staatsprüfung für das Lehramt für die Sekundarstufe II vom Januar 1997.


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