Der Entwurf eines schlüssigen Integrationskonzeptes wird nur gelingen, wenn die Auswahlfrage gleichzeitig mitthematisiert wird. Ein Denken vom Output des Forschungsprozesses her, das fertige disziplinäre Inhaltssysteme zusammenzufassen sucht; erweist immer mehr seine Unzulänglichkeit. Da nun, wie ich aufzuzeigen hoffte, Wissenschaft um Wissenschaft zu sein, sich nicht notwendigerweise auf separate Gegenstände richten muß (separat von den anderen Wissenschaften wie von der Lebenspraxis), spricht kein Argument dagegen, daß sich die einzelnen Wissenschaften und Unterrichtsfächer mit ihren eigenständigen Frageweisen nicht auf die gleichen gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart richten können. Für das Fach Geschichte bedeutet das allerdings die didaktische Abkehr von traditionellen fachwissenschaftlichen Forschungsprioritäten. Ein didaktisches Konzept für Integration wird sich auf die drei Elemente "Problem", "Frage" und "Gegenwart" stützen müssen.
Unter einem "Problem" ist ein Ereignis zu verstehen, das in Widerspruch zur Erwartung tritt. Erst dadurch, daß ein Ereignis einer sozialen Norm widerspricht, eine Erwartung enttäuscht oder eine erwartete Regelmäßigkeit durchbricht, wird aus diesem Ereignis ein Problem. Die Existenz eines Systems von normativen Erwartungen gibt den Hintergrund ab, auf dem ein Ereignis zu einem Problem werden kann - vor dem ein Ereignis fragwürdig wird. Das Auftauchen von Problemen ist deshalb an Voraussetzungen gebunden: [/S. 367:] Erwartungen, Normen, Soll-Werte, Regelmäßigkeiten, Vorstellungen vom "guten Leben" etc. Obwohl einerseits die Probleme von Erwartungen abhängen und andererseits ein für alle gemeinsamer Erwartungsrahmen nicht existiert (er könnte nur gewaltsam hergestellt werden), ist durch die auf das Problem gerichteten Lösungsstrategien eine Konsensfähigkeit in der Problembenennung gegeben. Die Voraussetzung für einen möglichen Konsens im Prozeß der Problembenennung ist die Tatsache, daß Probleme Problemlösungen erfordern. Geht man von zwei unterschiedlichen Erwartungsrahmen aus, so kann ein bestimmtes Ereignis in einem dieser Rahmen als "normal" und im anderen Rahmen als "problematisch" gelten. Innerhalb des Erwartungsrahmens, in dem das Ereignis ein Problem darstellt, werden Lösungsvorschläge gemacht, die den Widerspruch zwischen Erwartung und eingetretenem Ereignis aufheben sollen. Diese Lösungsstrategie wird für den anderen Bezugsrahmen zum Problem, da sie die "Normalität" des Ereignisses in Frage stellt. Der Lösungsvorschlag stellt für den zweiten Erwartungsrahmen ein Ereignis dar, das seinen Erwartungen zuwiderläuft. Für den einen Erwartungsrahmen stellt das Ereignis ein Problem dar, für den anderen wird das Ereignis des Lösungsvorschlages zum Problem. Beide Bezugsrahmen könnten sich darüber verständigen, daß die Konstellation von Ereignis und Lösungsvorschlag für beide ein Problem darstellt: Das Verfahren des freien Zuganges für jeden zu öffentlichen Ämtern wurde in dem Moment für Vertreter der staatlichen Administration zum Problem, als aktuelle Einstellung und bisherige Lebensgeschichte der Bewerber nicht mehr ihren Erwartungen entsprachen. Ihre Lösungsstrategie bestand aus "Einstellungs"gesprächen und faktischen Berufsverboten. Für weite Teile der demokratischen und liberalen Öffentlichkeit ist dieses Vorgehen eine nicht mit den demokratischen Grundsätzen zu vereinbarende Praxis. Dieser Ereigniskomplex, für den sich (auch international) der Begriff "Berufsverbot" eingebürgert hat, stellt sowohl für den Befürworter wie für den Gegner dieser Praxis ein Problem dar. [/S. 368:] Mit der Benennung von Problemen als Ausgangspunkt didaktischen Handelns ist keineswegs eine bestimmte Problemlösung verbunden. Das Problem erlaubt uns aber, Fragen zu stellen - disziplinäre wie auch praktische, nach Handlungsanweisung suchende Fragen. Die unterschiedlichen Antworten geben die Wissenschaften sowie die an dem Problem beteiligt Handelnden. Multidisziplinarität und Multiperspektivität haben hier - nach der Problembenennung - ihre methodische Berechtigung. Das Problem als gesellschaftlich-praktische Angelegenheit motiviert uns, Fragen zu stellen. Wenn ein Ereigniskomplex intersubjektiv als Problem benannt ist, nimmt das Problem einen anderen Status an. Es wird zu einem Denkobjekt. Dieser Statuswechsel ist für die Dialektik von Theorie und Praxis, für den Zusammenhang von praktischem Handeln und fachspezifischen Denkweisen von Bedeutung. Insofern muß es genauer heißen: Gesellschaftlich-praktische Probleme werden durch die intersubjektiv gestellten Fragen der Forschenden zu einem theoretischen Problem. Das gesellschaftlich-praktische Problem kann unmittelbar praktisch gelöst oder zu lösen versucht werden. Es kann aber auch im Praxisvollzug innegehalten und das praktische Problem in den Reflexionshorizont der Handelnden gehoben werden. Das Handeln wird aufgeschoben, und es wird nachgedacht. Das praktische Problem ist damit zu einem Denkobjekt geworden, zu einem theoretischen Problem, das theoretisch-intellektuell bewältigt werden muß, ehe wieder gehandelt wird. Ohne Reflexion wird Praxis hilfloses Probieren, und ohne Praxis bleibt Reflexion abstrakte Neugier. Gesellschaftlich-praktische Probleme fallen nicht in die Kompetenz einer einzigen Disziplin. "[S]ie dürfen nicht zur Domäne einer Wissenschaft ... werden" (35). Indem das praktische in ein theoretisches Problem übergeführt wird, treten die Wissenschaften hinzu, da Probleme durch die Konstitutionsleistungen der fachspezifischen Fragestellungen zu Denkobjekten werden. Praktische Probleme sind ungefächert; theoretische Probleme sind disziplinär gebunden, d. h. disziplinär konstituiert und mit disziplinären Methoden bearbeitbar. Nichtdisziplinäre Realität kann nur fachdifferenzierend analysiert werden. [/S. 369:] Wenn praktische Probleme über den Weg des Denkobjektes disziplinär bearbeitet werden, könnte durch die Selbstorientierung der einzelnen Didaktiken der politischen Bildung auf gegenwärtige Probleme ein fruchtbarer Ansatz zur Integration gemacht und die Perspektive für ein integriertes Curriculum eröffnet werden. Durch die Verständigung der Vertreter der Fachdidaktiken über die gegenwärtigen praktisch-politischen Probleme, ihre Auflistung und ihre Anordnung nach didaktischer Dringlichkeit und zeitlich-methodischer Abfolge wäre der erste Schritt für eine Integration gegeben. Die einzelnen Disziplinen, vertreten durch Hochschuldidaktiker und Fachlehrer - denn diese Art der Kooperation ist auf jeder Ebene möglich -‚ müßten angeben können, ob und was sie zu diesen Problemen zu fragen und zu sagen hätten und welchen Stellenwert das Gesagte in ihrer Wissenschaft hat. Daß dieses Vorgehen Erfolg verspricht, belegen die interessanten Beiträge, die die Geographiedidaktik in letzter Zeit zu den gegenwärtigen praktisch-gesellschaftlichen Problemen erbringt. Umweltbelastung durch Kernkraftwerke, Strukturveränderung von Dorfkernen durch Gastarbeiter, Zechensanierungen im Ruhrgebiet, Veränderung der Kulturlandschaft durch die industrielle Revolution, Planungsfragen, Einfluß von Raumbedingungen auf die Sozialisation sind einige der Themen (36). Dagegen wirken die curricularen Vorschläge der Didaktik der Geschichte noch etwas betulich. Es werden häufig nur die modern arrangierten traditionellen Themen angeboten. Würde das oft zitierte Postulat, die Geschichte nach Maßgabe des Möglichen (!) gegen den Strich zu bürsten, realisiert, kämen andere Schwerpunkte in den Blick: Einführung neuer Technologien und Gutachterprognosen am Beispiel Eisenbahnbau, Polen als "Gastarbeiter" im Ruhrgebiet des 19. Jahrhunderts, Bau von Zechenkolonien und Anwerbepraxis, die Rationalisierungsbewegung in der Weimarer Zeit, ökonomische und politische Macht - das Beispiel Fugger, Jugendarbeitslosigkeit in den 30er Jahren, Terrorismus und politischer Mord, Formen des sozialen Protestes (37), "Frauenunterdrückung und Frauenbefreiung bei den Römern" (38). Die Didaktik der Geschichte würde sich auf diese Weise [/S. 370:] explizit an der Gegenwartsbezogenheit orientieren anstatt an traditionellen - inzwischen aber auch nicht mehr unangefochtenen - fachwissenschaftlichen Forschungsprioritäten.
Die Präpotenz der Fachwissenschaft und deren im doppelten Sinne isolierende Funktion in der Bestimmung von Unterrichtsinhalten hat in besonderem Maß bei didaktisch sensiblen Richtlinienverfassern und Lehrern zu einer in dieser Form nicht haltbaren Abwendung von den Wissenschaften geführt. Die diffizilen Zusammenhänge von Wissenschaft und Alltagswissen wurden nicht beachtet - oder nur unter dem Aspekt einer Manipulation des Alltagswissens durch die Wissenschaften gesehen. Es soll keineswegs bestritten werden,, daß eine Korrumpierung des Alltagswissens durch die Wissenschaften erfolgen kann und auch erfolgt. Darüber dürfen aber nicht die weiteren Aspekte des Zusammenhangs übersehen werden.
Wissenschaft hat sich historisch aus Alltagswissen und Alltagsproblemen entwickelt. Ihre Denk- und Argumentationsweise ist allerdings rationaler und methodischer, da sie sich besserer Beobachtungstechniken und stringenterer Argumentationsweisen bedient. Trotz aller vorhandener esoterischer Forschung ist Wissenschaft auch gegenwärtig die rational-methodische Fortsetzung des Alltagsverständnisses. Fragen nach Genese und Wirkung, Zusammenhängen, nach Ursachen und Prognosen von und über gesellschaftliche Sachverhalte werden nicht nur in den Wissenschaften gestellt. Wir müssen in der Didaktik vielmehr davon ausgehen, daß Schüler immer schon strukturell das tun, was die politische Bildung in der Schule ihnen erst beibringen will. Die Beharrlichkeit und Folgerichtigkeit der Fragen des Alltagsverständnisses zu erhöhen - das ist ein Ansatzpunkt für die Didaktik der politischen Bildung. Auch die meisten erklärungsbedürftigen Phänomene haben Wissenschaft und Alltagsverständnis gemeinsam. Wenn Wissenschaft in problematisierter Erfahrung ihren Ursprung hat, aber dann nur in spezialisiertem Vorgehen mit rationalen und höchst kom[/S. 371:]plexen Techniken Ergebnisse erbringen kann, stellt sich das Problem der Rückübersetzung der Forschungsergebnisse in eben dieses Alltagsverständnis. Es zeigt sich immer deutlicher, daß spezialisierte Kenntnisse nur unter Schwierigkeiten in die unspezialisierte Praxis umgesetzt werden können. Läßt man alles Wissenschafts-Wissen ungeordnet, ungefiltert und unkoordiniert auf das Alltagsverständnis von Nicht-Wissenschaftlern zurückwirken, so ist dieses Wissen keine Hilfe, sondern eher eine Belastung, die das Problem, das eigentlich durch dieses Wissen aufgeklärt werden sollte, noch unerkennbarer macht. Hier liegt ein zweiter Ansatzpunkt für die Didaktik.
Ein weiterer - systematischer - Gesichtspunkt des Zusammenhangs von Alltagswissen und Wissenschaft bildet die Struktur und die Historizität der Alltagssprache. Thomas S. Kuhn hat auf die Theorieabhängigkeit der Beobachtungssprache hingewiesen (39). In der Beobachtungssprache, derer wir uns in der Wissenschaft wie im Alltag bedienen, sind immer schon theoretische Vorannahmen eingeschlossen, die in der Realität bestimmte Relationen herstellen. Ohne diese Theorieelemente werden diese Relationen der Realität nicht entdeckt. Nicht jedes Theorieelement ist schon immer in der Beobachtungssprache enthalten gewesen. Es wurde vielmehr zu einer bestimmten historischen Zeit in sie aufgenommen (z. B. das Naturrecht oder das Theorem von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft). Das Eindringen neuer Theorieelemente in die Beobachtungssprache erzeugt "Wahrnehmungsverschiebungen" (40). Nach solchen "Umwandlungen des Sehbildes" (41)
wirken diese Theoreme ihrerseits wieder als beharrende und resistente Momente gegen neue Sichtweisen. Der Physiker Thomas S. Kuhn hat hierin die Feststellungen der Soziologen Max Horkheimer und Erich Fromm über die historische Geform[t]heit des menschlichen Wahrnehmungsapparates bestätigt.
Die in der Umgangssprache impliziten fachwissenschaftlichen Paradigmen und Theoreme sind unverzichtbar für sozialwissenschaftliche Erkenntnis. Wir besitzen in der Alltagssprache ein Wissen über Aspekte menschlichen Verhal[/S. 372:]tens, das nicht direkter sinnlicher Erfahrung zugänglich ist. Eine Intention ist z. B. kein direkt beobachtbares Element einer Handlungssequenz. Aussagen über gesellschaftliche Sachverhalte sind nur durch kommunikative und nicht (allein) durch sensorische Erfahrung möglich. Die fachwissenschaftlichen Begriffe der einzelnen Sozialwissenschaften lassen sich nicht unmittelbar durch sensorische Wahrnehmung aneignen. Sie sind nur ein Begriffsapparat, der mehr oder minder gut gehandhabt werden kann. Erst die Anwendung des Begriffs "Konflikt" auf ein Bündel menschlicher Handlungen und Äußerungen nach bestimmten Zuordnungsregeln führt zu der Erkenntnis, daß ein Konflikt vorliegt. Die Kombination von theoretischen Annahmen und "ouvertem Verhalten" (Mandelbaum) erlaubt es erst, Aussagen über gesellschaftliche Sachverhalte zu machen. Gesellschaftliche Ereignisse und Probleme sind nicht ausschließlich direkter, sondern nur theoriegeleiteter Beobachtung zugänglich. "Relative Deprivation", "Einstellungen", "Schichtung" und "Klasse" oder "Revolution" und "Feudalismus" sind in das Alltagsverständnis aufgenommene fachwissenschaftliche Begriffsbildungen. die eine bestimmte Theorie implizieren.
Probleme müssen in Fragen umgesetzt werden. Die Frage ist offen für alternative Antworten, sonst wäre sie keine Frage mehr. Sie leitet den Prozeß der Erkenntnisgewinnung ein, ohne das Ergebnis zu präjudizieren. Wenn auch die Frage selbst auf keine spezielle Antwort festgelegt ist, so richtet sie sich doch auf eine bestimmte Klasse von Antworten, in deren Rahmen eine sinnvolle Antwort möglich ist. Wenn die Beziehung zwischen Frage und Antwort in diesem Sinne offen ist, können Fragen weder wahr noch falsch sein. Diese Prädikate kommen nur den Voraussetzungen der Fragen zu; sie selbst können nur sinnvoll oder sinnlos sein.
Der Zusammenhang von Fragerichtung und jener Klasse von Antworten, innerhalb deren eine sinnvolle Antwort gefunden werden kann, gibt das Begründungsprinzip einer Disziplin ab. Eine prinzipiell gleichbleibende Fragerichtung, die [/S. 373:] sich bestimmter Methoden bedient, institutionalisiert sich als Wissenschaft. Die Fragerichtung ist deshalb als die "kognitive Ausdrucksform unseres jeweiligen Interesses an der Welt" (42)
anzusehen.
Die Frage ist ihrer Struktur nach durch Offenheit und Informationsbedürfnis gekennzeichnet. Ihr Wesen ist "das Offenlegen und Offenhalten von Möglichkeiten" (43). Linguistisch gewendet heißt das: "Die Frage ist gegenüber der Antwort, die auf sie folgt, ein Weniger an Information, nicht etwa ein Nichts an Information" (44). Um eine Frage stellen zu können, muß man folglich immer schon etwas wissen. Diese hermeneutische Implikation erfordert als Bedingung der Möglichkeit, Fragen zu stellen, empirisches Vorwissen. Wir wissen weder alles, noch sind wir unseres Wissens gewiß. Wir stellen Fragen, wenn wir uns eines Sachverhalts nicht sicher sind. Insofern ist eine Frage immer auch Zeichen mangelnder Gewißheit.
Die Fähigkeit, Fragen zu stellen, ist nicht vorgegeben, sondern muß gelernt werden. Entsprechend den unterschiedlichen Fragerichtungen und den verschiedenen Fragestellungen sind es jeweils andere Sozialisationskontexte, in denen die Fähigkeit, Fragen zu stellen, erworben wird. Die sozialisationstheoretisch fundierte Fachdidaktik wird hier ansetzen müssen, um den Zusammenhang von Lebenspraxis und Erkenntnisweisen in einem organisierten Lernprozeß herzustellen. In den einzelnen erlernbaren Fragen sind formale und inhaltliche Kategorien enthalten (45). Die fundamentalsten wie "Zeit", "Raum" und "Quantität" (wann? wo? wieviel?) ebenso, wie die spezialisiertesten: "Gewordenheit", "Verstehbarkeit", "Rechtfertigung", "Identität" usw. Fachspezifische Fragen implizieren fachspezifische Kategorien. Eine Wissenschaft lernen heißt, ihre grundlegenden Kategorien in Form von Fragen auf die Realität anzuwenden, um sich der Aussageintention dieser Disziplin zu vergewissern. Beim Erlernen einer Wissenschaft ist es nicht von Interesse, daß der Fragende überhaupt eine Antwort erhält, sondern daß er eine Antwort auf seine spezifische Frage erhält. "Zu fragen verstehen heißt verstehen lernen, was zugehörige von unzugehörigen Antworten unterscheidet" (46). [/S. 374:]
Die hier vorgenommene Betonung des Fragecharakters von Wissenschaft und Alltagswissen ist nicht allein für eine Theorie der Didaktik der politischen Bildung von Interesse, sondern hat eminente praktische Konsequenzen für die Unterrichtspraxis wie für die Konzeption von Schulbüchern: Das Erlernen von kategoriengesättigten Fragen ist die Voraussetzung für prozeßorientierten und schülerzentrierten Unterricht. Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, die unterschiedlichen Frageweisen anzuwenden: Was bedeutet die quantifizierend-statistische Argumentationsweise bei der Untersuchung des Problems "Kernenergie"? Welchen Aussagewert haben mit statistischen Methoden errechnete Sicherheitsrisikos und statistische Prognosen? Welche Erfahrungen machte man in der Vergangenheit mit der Einführung neuer Technologien? Welche Motive und Interessen begleiteten sie? Welche neuen Arbeitsplatze schufen und welche vernichteten sie? Läßt sich dieser Vorgang quantifizieren? Wie legt man eine empirische Befragung an, und wie aussagekräftig ist sie? Ist eine Antwort immer eindeutig richtig oder vielleicht auch ihr Gegenteil? Wie muß man nach standortrelevanten Faktoren fragen? ... Die dieser Unterrichtskonzeption entsprechenden Schulbücher müßten konsequent von explizit ausgewiesenen - auch im grammatikalischen und linguistischen Sinne - Fragestellungen ausgehen, um beim Schüler einen Frage-, Denk- und Untersuchungsprozeß in Gang zu bringen, an dessen Ende ein stets revisionsbedürftiger Entscheidungsakt steht. Einer solchen Konzeption widersprechen diejenigen Schulbücher und Unterrichtsmaterialien, die sich nur formal und rhetorisch der Frage bedienen. Ihr folgt dann stets die "richtige" Antwort in Form eines "Merke". Die subtilere Variante dieser entmündigenden und affirmativen Konzeption versteckt den Merksatz im Lehrerbegleitheft. Alternativ dazu steht der um Erkenntnisweisen zentrierte Ansatz: Im selbstbestimmten und selbstbewußten Umgehen mit fachspezifischen Frageweisen und Methoden können Schüler ungefächerte gesellschaftlich-praktische Probleme in ein je eigenes Problembewußtsein umsetzen. [/S. 375:]