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3. Didaktik

Neben den bisher aufgezeigten, stärker wissenschaftstheoretisch und fachwissenschaftlich orientierten Vorschlägen zum Integrationsproblem lassen sich auch drei didaktische Lösungsstrategien benennen. Diese Ansätze versuchen, durch die Betonung der sozialen Komplexität, durch die Formulierung von "allgemeinen" Lernzielen und durch die Umschreibung von Lernfeldern die unterschiedlichen Fächer zusammenzubinden oder durch den Rückgriff auf ein "vorfachliches" Orientierungssystem einander zuzuordnen. Obwohl diese Lösungsstrategien ihrem Ansatz nach überfachlich und allgemein sein sollen, wurden unter der Hand die Fachwissenschaften - gegen den Willen der diese Ansätze vertretenden Autoren - doch wieder zum bestimmenden Moment.

3.1 Soziale Komplexität und Aspekt

Ein nicht realisierbarer Integrationsansatz ergibt sich aus der Zuordnung von "Komplexität" und "Aspekt". Inhalte der politischen Bildung sind vieldimensional und können deshalb unter den jeweils verschiedenen fachspezifischen Sichtweisen betrachtet werden. Diese Einsicht ist in der Literatur unter die Begriffe "Komplexität" und "Aspekt" gefaßt worden. Die Gleichberechtigung der verschiedenen Sichtweisen bei der Analyse gesellschaftlicher Sachverhalte ist prinzipiell möglich und auch anzuerkennen. Die verschiedenen Sichtweisen sind im didaktischen Sinne keineswegs gleichwertig. So wie der Inhalt "Autoritätsfixierung" unter dem Aspekt "Mythos Hindenburg" oder "Fixierung an den Führer" behandelt werden kann, kann der Inhalt "Gastarbeiter" auch unter dem sozialpsychologischen Aspekt der "Vorurteilsbereitschaft" angegangen werden. Damit werden aber keinesfalls die Problembereiche "Faschismus" und "Lohnarbeit des Subproletariats" miterledigt. Die Isolierung und Betonung von bestimmten Teilaspekten läßt Faktoren in den Vordergrund treten, die für die Erklärung des Gesamtproblems nur sekundären Charakter tragen. Inhalte werden diesem Verfahren in einseitiger Weise akzentuiert [/S. 360:] und in der Folge wie ich meine, auch entpolitisiert. So ergab eine quantitative Inhaltsanalyse von acht Unterrichtsmodellen und Sozialkundebüchern zum Problem "Gastarbeiter", daß 57 % aller Aussagen sozialpsychologischer Art waren und 10,5 % sich auf ökonomische Sachverhalte bezogen (26). Der Schritt zur zwischenmenschlichen Freundlichkeit des "Seid-nett-zueinander" ist nicht weit. Aus diesen Gründen kann das Integrationsproblem innerhalb der Sozialkunde keineswegs als gelöst gelten. Die Möglichkeit unterschiedlicher Analyseansätze ist nicht identisch mit deren Lernwürdigkeit. Aus der Perspektive der Didaktik, die sich als Sozialwissenschaft auf den Horizont der Gegenwart bezieht, gibt es an den Inhalten dominante Strukturen. Eine dominante Struktur im didaktischen Sinne bemißt sich nicht an der fachwissenschaftlichen Möglichkeit, die Fragerichtung auf beliebige Aspekte zu reduzieren, sondern an der Perspektive gelingender oder verhinderter Emanzipationsprozesse. Inhalte haben in der Gegenwart einen ganz bestimmten und von ihr affizierten Wertakzent. Sie können nicht aus methodischen Gründen (Lernerleichterung, Anschaulichkeit etc.) oder fachlicher Kompetenz (Ausbildung, Vorliebe etc.) des Lehrers auf bestimmte Aspekte hin reduziert werden.

3.2 Allgemeine Lernziele

Den bisher erfolgversprechendsten Ansatz zur Integration von Unterrichtsfächern bildeten die Entwürfe von "allgemeinen Lernzielen". Diese Lösungsstrategie lastet die eigentliche Integrationsfunktion den Lernzielen an. Sie sollen die einzelnen Fächer oder Fachaspekte integrieren und weitergehende Ansprüche der Fächer filtern. Allgemeine Lernziele - die Angabe "allgemein" ist meist stillschweigend auf fächergruppenspezifische Lernziele eingeschränkt - sind im Bereich der politischen Bildung ihrem Anspruch nach Ziele, die mit dem Blick auf das "Lernfeld Gesellschaft" formuliert sind, ohne daß auf einzelne fachwissenschaftliche Disziplinen zurückgegriffen werden muß. Ihrem Charakter nach sollen sie die Funktion eines Netzes haben, das (politi[/S. 361:]sche) Wirklichkeit einfängt. Darüber hinaus versuchen sie andere (fachliche) Lernziele zusammenzuhalten, um "begrenztes Fachdenken" zu überwinden. Diesen Lernzielen wird die Fähigkeit zugetraut, die einzelnen Fächer zusammenzuhalten, wenn sie ihnen in Form von fachspezifischen Lernzielen zugeordnet werden. Die großen Erwartungen, die man in die allgemeinen Lernziele als Integrationsinstrumente gesetzt hatte, haben sich nicht erfüllt. Die theoretischen Prämissen, von denen man ausgegangen war, lassen sich aus wissenschaftstheoretischen Gründen nicht halten. Plausible Argumente sprechen vielmehr für folgende These: Allgemeine Lernziele binden die Fächer nicht zusammen, da allgemeine Lernziele immer schon unter Zuhilfenahme der auch in der Umgangssprache implizierten Paradigmen der Fachwissenschaften formuliert werden. Der gegenwärtige Diskussionsstand der Lernzielproblematik ermöglicht es, im einzelnen folgende kritische Fragen nach Voraussetzungen und Möglichkeiten der allgemeinen Lernziele zu stellen: Als erstes stellt sich die Frage nach der Instanz. Wer formuliert die allgemeinen Lernziele? Wenn sie "allgemein" sein sollen, können sie nicht von einer einzelnen Fachwissenschaft oder Fachdidaktik formuliert werden. Auch ein Gremium unterschiedlicher Fachvertreter kann nicht angenommen werden, da allgemeine Lernziele ihrem Anspruch nach nicht durch eine Addition von Fachaspekten gewonnen werden sollen. Die einzelnen Vertreter der Fachwissenschaft und Fachdidaktik können sich zudem nicht gleichsam selbst in ihrer Sichtweise auslöschen und eine Metawissenschaft durch Zusammensitzen begründen. Aber nicht nur die Frage nach der Formulierungsinstanz ist ungeklärt. Die Frage nach der Analyseinstanz ist es ebenfalls. Lernziele im Bereich der politischen Bildung müssen aus einer Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit hervorgehen. Wer unternimmt diese Analyse, mit welchen Methoden und welchen Instrumenten, wenn eine fachneutrale Methode nicht existiert? Der Versuch, diese Aufgabe der Erziehungswissenschaft zuzuweisen, greift ebenfalls zu kurz, da die Pädagogik [/S. 362:] zur gesellschaftlichen Analyse gegenwärtiger Wirklichkeit wegen der Existenz irreduzibler "gesellschaftlicher Sachverhalte" (27) nicht gerüstet ist. Das Korrelat zur Annahme einer allgemeinen Formulierungs- und Analyseinstanz ist das Attribut "allgemein" der Lernziele. "Allgemein" wird in der Lernzieldiskussion auf zwei unterschiedliche Weisen gebraucht. Einmal als "vorwissenschaftlich" und zum anderen im Sinne von "überfachlich". "Allgemein" im Sinne von "überfachlich" meint, daß der Zusammenhang der Ziele unterschiedlicher Ebenen allgemein-fachspezifisch lautet. Es wird dabei übersehen, daß "allgemein" nur im Sinne von "abstrakt" verstanden werden kann. Der Zielzusammenhang verknüpft die Ebenen "abstrakt" und "konkret" und spielt sich innerhalb des Fachaspekts ab. "Vorfachlich" und "vorwissenschaftlich" meint ‚daß man umgangssprachlich, gewissermaßen nur (!) mit dem "gesunden Menschenverstand" bei Ausblendung fachspezifischer Frageweisen und fachspezifischer Begrifflichkeit, die immer spezielle Theorien implizieren, Ziele für die politische Bildung formulieren kann. Die in der Umgangssprache enthaltenen Sichtweisen werden übersehen. Die wissenschaftstheoretische Diskussion weist gegenwärtig ausdrücklich auf die Theorieabhängigkeit der Beobachtungssprache hin. Diese Erkenntnis ist in der Lernzieldebatte noch nicht rezipiert worden. Alle bisher angebotenen Systeme allgemeiner Lernziele sind logisch, grammatikalisch und semantisch eine Addition fachspezifischer Begriffe und Theorien, die in ihrer jeweiligen spezifischen Zusammensetzung sowohl Integration verhindern als auch durch ihre Komplexität die unterrichtspraktische Handhabung erschweren (28). Eine sprachanalytische Untersuchung der allgemeinen Lernziele der hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre zeigt (29), daß sie keineswegs "allgemein", d. h. überfachlich sind. Die einzelnen fachspezifischen Aspekte lassen sich ohne Schwierigkeiten ausmachen. Eine Aufschlüsselung nach Häufigkeit ergibt folgendes Bild: [/S. 363:]



Lernfeld
AspekteIIIIIIIVGes.
1.Soziologie.08.06.04.03.21
2.Historie.02.03.04.04.13
3.Politik.03.08.15.11.37
4.Geographie.01.03.00.02.07
5.Psychologie.01.00.00.00.01
6.Ökonomie.00.16.01.03.21
7.Sonst..00.00.00.00.01
Gesamt.15.36.25.251.00

(Annäherungswerte durch Abrundung)

Die allgemeinen Lernziele benutzen mit bestimmten Fachtermini stets bestimmte fachspezifische Theorien und stellen damit bereits bestimmte Relationen in der Wirklichkeit her (Rolle, Autoritätsfixierung, Triebsublimierung, Schicht, Klasse, öffentliche Armut - privater Reichtum). Die linguistische Analyse legt zudem auch die Zeitreferenz der Lernzielformulierungen dar: In den Tempusmorphemen wird auf öffentliche Zeit Bezug genommen (30). Zeitreferenz ist mit den Formen der Sprache gegeben und erzeugt mit und in der Sprache jene Narrativität, die die Geschichtswissenschaft zu ihrem Metier gemacht hat. Weder in der Wahl der Termini noch in der Sprachstruktur entrinnen die Lernzielformulierungen den fachspezifischen Denkweisen. Die Begriffe, obwohl sie "nichts anderes sein wollen als die Abbreviaturen je vorfindlicher Tatsachen" (31), sowie die ~h den Morphemen der Sprache implizierte Zeitreferenz verkünden auch dann noch ihre Fachlichkeit, wenn deren Benutzer nicht wissen will, was er tut. So bleibt in den allgemeinen Lernzielen unweigerlich, wenn auch ihren Verfassern nicht bewußt, die epistemologische Struktur der Wissenschaften präsent. [/S. 364:]

3.3 Lernfelder

Der Vorschlag der Curriculumtheorie, von Lebenssituationen oder Lernfeldern auszugehen, birgt für die ungelöste Integrationsproblematik noch ungenutzte Möglichkeiten, da sich hier für die einzelnen Fächer gemeinsame Bezugsrahmen anbieten. In der didaktischen Literatur ist dieser Ansatz aber bisher in einer Weise aufgegriffen worden, die die unauflösbaren Zusammenhänge von Lernfeldern und Wissenschaftsdisziplinen vernachlässigte. Der Begriff des "Lernfeldes" beinhaltet, daß die Anordnung der Unterrichtsinhalte nicht nach den in den Fächern dominierenden Darstellungsweisen und -formen erfolgt, sondern nach denjenigen Feldern, "wo und wie Schüler Gesellschaft erfahren" (32). Die Unterrichtsinhalte sollen aus der Systematik und Anordnungsweise der einzelnen Unterrichtsfächer herausgelöst und in "Lebenssituationen" angeordnet werden. Aber auch hier haben die vorliegenden Lernzielentwürfe die Rechnung ohne die Fachdisziplinen gemacht. In den einzelnen Lernfeldern der hessischen Rahmenrichtlinien (Sozialisation, Öffentliche Aufgaben, Wirtschaft, intergesellschaftliche Konflikte) sind die einzelnen Fachdisziplinen unterschiedlich stark vertreten (33). Die Lernziele, die diese Lernfelder konkretisierend umschreiben sollen, spiegeln Terminologie und Fragestellung der Fachdisziplinen in einer bestimmten gewichteten Weise wider. Im Lernfeld "Sozialisation" dominiert die Soziologie. 53 % aller soziologischen Begriffe, Theoreme und Fragestellungen befinden sich in diesem Lernfeld. Entsprechendes ist in den anderen Lernfeldern zu finden. Im Lernfeld "Wirtschaft" dominiert die Ökonomie, im Lernfeld "Öffentliche Aufgaben" die Politologie und im Lernfeld "Intergesellschaftliche Konflikte" ebenfalls die Politologie. Der Assoziationszusammenhang, der sich bei den Verfassern der Richtlinien zwischen Lernfeld und Disziplin einstellt, ist offensichtlich. Das belegt die Auffächerung der Fachaspekte nach Lernfeldern: [/S. 365:]



Lernfeld
AspekteIIIIIIIVGes.
1.Soziologie.53.15.16.14.21
2.Historie.14.07.17.17.13
3.Politik.19.23.60.45.37
4.Geographie.08.08.02.09.07
5.Psychologie.06.00.00.02.01
6.Ökonomie.00.45.05.13.21
7.Sonst..00.01.00.02.01
Gesamt1.001.001.001.001.00

(Annäherungswerte durch Abrundung)

Nicht nur innerhalb der Lernfelder schlägt die Fachlichkeit wieder durch. Die Lernfelder selbst sind weitgehend disziplinär erzeugt. Die Lernfelder, die bisher vorgeschlagen wurden, sind keineswegs disziplinlose Wirklichkeitsbereiche, obwohl sie es dem Anspruch nach sein sollten, sondern sie sind selbst Wissenschaftsdisziplinen. Sozialisation z. B. ist weniger ein Lernfeld, als eine sich gegenwärtig durchsetzende Forschungsrichtung, die alle Chancen hat, sich als Disziplin dauerhaft zu institutionalisieren. Ebenso sind die "Intergesellschaftlichen Konflikte" kein disziplinfreies Lernfeld, sondern eine sich aus der Politologie aussondernde Teildisziplin. Internationale Beziehungen sind "heute zum Erkenntnisgegenstand einer weitgehend anerkannten wissenschaftlichen Disziplin geworden" (34). Diese Befunde legen den Schluß nahe, daß die Konzeption von Lernfeldern nicht so sehr auf dem Versuch einer Integration von Fachdisziplinen beruht, sondern sich von der Zielsetzung leiten läßt, in den Unterricht neue, modernere disziplinäre Frageweisen einzubeziehen. Die vorgestellten Lernzielraster ergeben sich folglich nicht aus einer Integration der traditionellen Fächer durch disziplinfreie Lernfelder. Das Design der neuen Lernfelder resultiert vielmehr [/S. 366:] daraus, daß die Ergebnisbestände der klassischen Fächer, Erdkunde, Geschichte und Sozialkunde mit den Fragestellungen von neueren Disziplinen (z. B. Sozialisationsforschung und Internationale Beziehungen) analysiert werden, um ihnen andere Akzentuierungen abzugewinnen. Dadurch werden den traditionellen Wissensbeständen zweifellos neue Erkenntnisse abgewonnen; den disziplinär gebundenen Sichtweisen kann aber auch so nicht entgangen werden.

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Quell-URL (modified on 22/06/2012 - 17:39): https://sowi-online.de/node/1039