Zeitgeschichte steht an der Nahtstelle zwischen Geschichts- und Politikunterricht. Sie gehört deshalb in je spezifischer Weise zu beiden Fächern. Es genügt nicht, wenn sie nur als letzte Epoche der Geschichte zur Sprache kommt. Sie bildet den Kontext der Gegenstände und Themen des Politikunterrichts, der gegenwärtigen, der ungelösten, der permanent aktuellen politischen Fragen unserer Zeit. Sie ist deshalb, in anderer Weise als die Geschichte im allgemeinen, nämlich unmittelbar Medium und Aufgabenfeld politischer Bildung. Gewiss hat es Politik mit den Konflikten und Ordnungsproblemen der Gegenwart zu tun. Aber ihre Gegenwart ist nicht der heutige Tag, sondern unsere Zeit. Deshalb gewinnt im Bezug auf Zeitgeschichte das oben festgestellte Ineinander von geschichtlichem und politischem Bewusstsein eine besondere Intensität.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Sonderdisziplin Zeitgeschichte neu begründet wurde, definierte sie Hans Rothfels als "die Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung" (3). Forschungspraktisch setzte er sie damals gleich mit der Zeit von 1917 bis 1945. Für die damals zugleich einsetzenden Bemühungen um politische Bildung war das eine Umschreibung von zentraler Bedeutung. Der Wissenschaft wie der politischen Bildung war damit die Aufgabe zugewiesen, die man als Aufarbeitung der Vergangenheit bezeichnete. Die entsprechenden Fragen konzentrierten sich zunächst auf das Scheitern der Weimarer Demokratie, auf Ermöglichungsgründe und Grundzüge des NS-Totalitarismus. Das kann und braucht hier nicht dargestellt zu werden. Fragestellungen und Schwerpunkte haben sich verschoben, aber die Aufgabe ist politischer Bildung geblieben. Heute hat Zeitgeschichte das gesamte 20. Jahrhundert zum Gegenstand, und zwar erweitert um die europäische und die globale Perspektive. Die beiden Weltkriege, der Ost-West-Konflikt und sein Ende, Entkolonialisierung und Entwicklungsproblematik, um nur die wichtigsten Stichworte zu nennen, beschreiben die Genese der heute zentralen politischen Probleme. Historische Einsichten in diese Zusammenhänge sind integraler Teil politischer Bildung.

Das Verständnis von Zeitgeschichte als der "Epoche der Mitlebenden" hat eine objektive und eine subjektive Seite. Die permanent aktuellen Probleme unserer Zeit sind mit dem "Erleben" der jetzt Lebenden aufs engste verflochten. Probleme sind ja nicht schlechthin objektiv gegeben; sie sind vielmehr Ergebnis von Deutungen und Wertungen des Faktischen und seiner Genese, Ausdruck der Diskrepanz zwischen dem was ist, und unseren Wünschen und Wertvorstellungen, ein Feld deshalb zugleich auch voller Deutungs- und Wertkonflikte.

Zeitgeschichte als Wissenschaft muss sich um die methodisch geleitete Analyse der geschichtlich-politischen Zusammenhänge, um die Erklärung der Genese unserer heutigen Situation bemühen. Methodisch verbindet sie historisch-verstehende und sozialwissenschftlich-strukturelle Verfahrensweisen in stärkerem Maße, als das in der Geschichtswissenschaft sonst üblich ist. Davon kann und soll auch politische Bildung profitieren. Sie muss ihre politikdidaktischen Kategorien mit zeitgeschichtlicher Anschauung füllen. In Abwandlung eines bekannten Wortes von Immanuel Kant kann man sagen: Politikunterricht ohne Zeitgeschichte ist leer, Zeitgeschichte ohne Politikunterricht ist blind.

Der Blick auf die subjektive Seite der Sache macht aber diese Verbindung noch dringlicher. Die "Mitlebenden" deuten und werten Zeitgeschichte unterschiedlich, und zwar nicht nur individuell, sondern auch als soziale Gruppen und politische Verbände. Hinzu kommt, dass es immer mehrere Generationen sind, die miteinander leben, mit unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen und Zeitperspektiven; mit unterschiedlichen "Schlüsselerlebnissen", die ihre Deutungsperspektiven bestimmen. Diese gehen unmittelbar in politisches Urteilen ein, weil das Erlebte die Menschen geprägt hat, noch bewegt und umtreibt. Zeitgeschichte ist nach einer bekannten Formulierung von Barbara Tuchman Geschichte, "die noch qualmt".

Politische Bildung kann und soll diese unterschiedlichen Deutungen und Wertungen nicht aufheben. Aber eben deshalb muss sie sich auch als Kommunikationsprozess verstehen zwischen den Gruppen und den Generationen unserer Gesellschaft. Dieser Prozess ist in den letzten Jahrzehnten in bemerkenswerter Weise bereichert worden durch neue Formen und Konzepte der Beareitung von Zeitgeschichte: durch Oral History, Gespräche mit Zeitzeugen, Alltagsgeschichte und Geschichtswerkstätten, nicht zu vergessen die "Gedenkstättenpädagogik". Nur kann man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, als gehe diese Entwicklung an der professionellen politischen Bildung vorbei. Auch die immer noch zunehmende Präsentation von Zeitgeschichte in den Massenmedien fordert politische Bildung heraus. Sie sollte sich gezielt und zusammen mit den Zeithistorikern in das Spannungsfeld begeben zwischen den Primärerfahrungen der Menschen, der öffentlichen Erinnerungskultur von Großgruppen und dem Gemeinwesen, den massenmedialen Präsentationen und wissenschaftlichen Darstellungen(4).

Politische Bildung als Erwachsenenbildung kennt viele Möglichkeiten, der hier gekennzeichneten Aufgabe gerecht zu werden. Für die Schulen heißt die Folgerung aus unseren Überlegungen, neben dem eigenständigen Geschichtsunterricht das Fach "Politik" als zeitgeschichtlich-politischen Unterricht zu konzipieren. Dieser kann nicht darauf warten, bis der Geschichtsunterricht, in welcher Anordnung auch immer, zur Behandlung der Zeitgeschichte gelangt. Er braucht diese als sein Medium ständig und von Anfang an, wenn er Orientierung und Urteilskompetenz in politischen Gegenwartsfragen vermitteln soll.