Über die Kategorie Beruf stellt die Berufsorientierung die Identität des Einzelnen im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung her und gewinnt hier eine pragmatische Funktion. Unterrichtsinteresse wird das Einzelinteresse. "Beruf" sucht als pädagogische Leitidee nach den (verbliebenen) Möglichkeiten beruflicher Identität, nach individueller Selbsterfahrung und Selbstbestimmung durch Arbeit. Berufsorientierung kann diese gedachten und gesuchten Möglichkeiten in das Bewusstsein der Schüler heben und zugleich deren Abhängigkeit von den vielfältigen Bedingungen des Beschäftigungssystems, ihre Begrenzung durch Mitbestimmung und ihre Gefährdung durch Unmündigkeit und Herrschaft.

Wenn in der Schule pädagogische Hilfe für eine Lebenssituation geleistet werden soll, die den Jugendlichen in Kürze erwartet, muss sich Berufsorientierung als praxis- und handlungsnahe Orientierungs- und Entscheidungshilfe konkretisieren. Sie hat das Ziel, die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Schülers für seine berufliche Entwicklung zu fördern. Das Ziel ist gesellschaftspolitisch durch das Grundrecht auf freie Berufswahl und den Anspruch auf Chancengerechtigkeit begründet, erziehungswissenschaftlich als notwendige Hilfe zur Selbsthilfe für die Realisierung von Chancen. Berufsorientierung hat die Aufgabe, "den sozialen Zwang der beruflichen Allokation durch die Schule für den Schüler erträglicher zu machen, indem ihm die Chance eingeräumt wird, unter didaktischer Hilfestellung Strategien beruflicher Entscheidungsfindung anzuwenden, die ein hohes Maß an Rationalität der Berufswahl gewährleisten. Je überschaubarer die Wirkungszusammenhänge beim individuellen Berufsfindungsprozess für den Einzelnen gemacht werden und je mehr Optionen für die Berufswahl erschlossen werden können, desto eher lässt sich ein Minimum an individueller Berufswahlfreiheit erreichen" (Ammon 1980, S. 107 ff.).

Bei der Berufsorientierung im Unterricht geht es also um die Motivierung und Befähigung [/S. 25:] des Schülers zur individuellen Berufswegplanung: Der einzelne Jugendliche ist betroffen bzw. betroffen zu machen. Durch unterrichtliche Vermittlung von Informationen und Handlungsweisen will die Schule eine Orientierungs- und Entscheidungshilfe für die persönliche Berufswahl anbieten. Um das Grundrecht auf freie Berufswahl material zu sichern, insbesondere für diejenigen Jugendlichen, die bei ihrer Berufswahl benachteiligt sind, verlangt das sozialpolitische und pädagogische Postulat der Chancengerechtigkeit die Institutionalisierung eines Lernprozesses als Hilfe zur Selbsthilfe. "Er hat alle wesentlichen Daten und Kriterien zu vermitteln, die den Einzelnen befähigen, beruflich bedeutsame objektive und subjektive Gegebenheiten und Entwicklungstendenzen sowie die Möglichkeiten ihrer Beeinflussung zu erkennen, damit er die eigene berufliche Entwicklung so weit wie irgend möglich selbst bestimmen kann. Dieser Lernprozess wird Berufsorientierung genannt" (Dibbern u. a. 1974, S. 133). Dabei sind entwicklungspsychologische und entscheidungstheoretische Elemente des Berufswahlprozesses im curricularen Ansatz zu verbinden, der die Handlungskompetenz des Jugendlichen in Fragen seiner beruflichen Entwicklung anstrebt.

Berufsbezogene Informationen und Handlungsweisen stehen allerdings immer in einem größeren Zusammenhang, der durch die gesellschaftlichen Strukturen der Berufswelt gegeben ist. Schon deswegen kann und muss Berufsorientierung immer nur Teilaufgabe einer umfassenden Berufsvorbildung sein. Sie muss außerdem einen fachbezogenen Standort haben; als bloßes Unterrichtsprinzip der Schule schlechthin und durch beliebige Lehrer gehandhabt, kann sie wohl nur sehr begrenzte Wirkung erreichen. Berufsorientierung im Unterricht wird insbesondere als Teilaufgabe einer alle Schulformen umfassenden Arbeitslehre verstanden und gefordert. Sie lässt sich in drei Qualitätsstufen realisieren.

  • Als Unterrichtsprinzip ist Berufsorientierung durchgängiger Aspekt aller Lernbereiche der allgemeinen Schule. Wo immer sinnvoll, wird er in unterschiedlichen methodischen Formen berücksichtigt.
  • Als Berufswahlunterricht verdichtet sich die Berufsorientierung zu einem curricularen System von themenspezifischen Bausteinen, Lehrgängen und/ oder Projekten, die innerhalb der verfügbaren Unterrichtszeit diskontinuierlich oder epochal in einem Fach (Arbeitslehre) eingesetzt werden.
  • Als "kooperativer Berufswahlunterricht" gewinnt die Berufsorientierung eine vermutlich besonders qualifizierte Form (Hypothese), weil durch die Zusammenarbeit zwischen Fachlehrer und Berufsberater vertiefte Sachkompetenz und verstärkter pädagogischer Einfluss erwartet werden. Personen, Aufgaben, Inhalte, Medien Lernorte und -zeiten werden curricular aufeinander bezogen, und diese Form einer Berufsorientierung im Unterricht als didaktischer Verbund von Schule und Berufsberatung bezeichnet. Kooperativer Berufswahlunterricht ist eine Veranstaltung der Schule, wird in ihrer Verantwortung durchgeführt, [/S. 26:] gewinnt

(Abb. 1)

aber seine besondere Wirkung durch die Inanspruchnahme spezifischer Leistungen der Berufsberatung. Andererseits behält berufliche Beratung neben der Integration in Unterricht ihren eigenständigen Aufgabenbereich außerhalb der Schule. Es ist daher eine wichtige Aufgabe, diese beiden Teilaufgaben zu identifizieren und in einer Gesamtkonzeption der beruflichen Beratung soweit wie möglich miteinander zu verbinden. Die Bundesanstalt für Arbeit sollte dabei eine Koordinierungsrolle einnehmen und die Schulen bzw. die Kultusverwaltungen durch konkrete Kooperationsangebote zur Zusammenarbeit inspirieren, z. B. durch Anregung regionaler Kontaktkommissionen, Angebot von Organisationsmodellen und curricularen Bausteinen, Fortbildungsangeboten.

Für die Arbeitsverwaltung war "Berufsaufklärung" nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969 eine Aufgabe der Berufsberatung. "Dieser Begriff erwies sich für den Kontakt mit Jugendlichen und Eltern als weniger geeignet und missverständlich; die Berufsberatung benutzt deshalb, angelehnt an den internationalen Sprachgebrauch, hierfür nun den Begriff Berufsorientierung" (Nieder 1981, S. 22). Berufsorientierung kennzeichnet den Zeitraum von den ersten bewussten, aber noch unsicheren Fragen zur künftigen Berufstätigkeit bis zur planmäßigen Analyse beruflicher Alternativen, aus der schließlich die Berufsentscheidung hervorgeht. Leitziel der Berufsorientierung ist dementsprechend die "Berufswahlreife", verstanden als individuelle Fähigkeit, Informationen zur Berufswahl gezielt nachzufragen und zu verwerten. "Berufswahlreife soll die Chancen zur Selbstbestimmung, zumindest die Freiheit von Fremdbestimmung bei der Berufswahl vergrößern" (Nieder 1981, S. 22). Mit diesem Bezug auf die Selbstbestimmung des Einzelnen gewinnt der Begriff Berufsorientierung [/S. 27:] auch im Bereich der Arbeitsverwaltung pädagogische Qualität. Die Auffassung, dass die Berufsberatung, also auch die Berufsorientierung, keine erzieherische Aufgabe leiste, sollte als formalistisch entfallen (Nieder 1981, S. 16). In einem didaktischen Verbund ist die pädagogische Aufgabe weder theoretisch noch praktisch teilbar, weil zielorientierte Lernprozesse immer zugleich erzieherische Absicht ausdrücken, Unterricht schlechthin Erziehung ist. Es wäre sicherlich eine Unterschätzung, wollte man den im Berufswahlunterricht mitarbeitenden Berufsberater bloß als "Datenbank" verwenden. Über seine unterrichtliche Mitwirkung hinaus wird die spezifische Beratungsaufgabe des Berufsberaters, die immer situativ auf die Belange des Einzelnen abstellt, in der Kontinuität beruflicher Beratung als wichtiges Element auch des Berufswahlunterrichts gefordert.

Durch § 32 AFG gesetzlich zur Zusammenarbeit mit der Schule verpflichtet, hat die Bundesanstalt für Arbeit in einem Übereinkommen vom 12.2.1971 mit der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder deren "Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung" vom 5.2.1971 bestätigt. Darin sind die Aufgaben der Schule und der Berufsberatung bei ihrer Zusammenarbeit festgelegt. Als Kernaussagen dürfen gelten:

  • "Die Berufsberatung bereitet die Schüler im Rahmen der Berufsaufklärung auf die individuellen Erwägungen zur Berufswahl und auf die Berufsentscheidung vor...,
  • die Schule vermittelt grundlegende Kenntnisse über die Wirtschafts- und Arbeitswelt...,
  • bei ihren berufswahlvorbereitenden Maßnahmen stützt sich die Berufsberatung auf die durch die Schule geleistete Hinführung zur Wirtschafts- und Arbeitswelt ..." (Rahmenvereinbarung 1971).

Es wird die Vorstellung eines Stufengangs sichtbar: Der Unterricht beginnt mit einer allgemeinen Einführung in die Arbeitswelt, darauf aufbauend bereitet der Berufsberater die individuelle Berufsentscheidung vor und bietet schließlich als Entscheidungshilfe die berufliche Einzelberatung an. Es ist zu prüfen, ob diese Vorstellung und Aufgabenteilung für einen didaktischen Verbund von Schule und Berufsberatung optimal ist. "Inhalte der Berufsorientierung, die nur der Berufsberatung vorbehalten sind, kann es rechtlich nicht geben" (Nieder 1981, S. 22). Es ist zu fragen, ob individuelle Orientierung auch schon vom Lehrer geleistet werden muss, obwohl die Bundesanstalt immer noch auf dem Standpunkt steht, "Informationen über die eigene Person und über persönliche Konsequenzen sollen und können durch Berufsorientierung nicht gegeben werden; diese Inhalte gehören zur individuellen Beratung" (Nieder 1981, S. 18). In einer Neukonzeption beruflicher Beratung sollte gesehen werden, dass Berufswahlunterricht stets individualisierende Impulse enthält, die aus der Situation der Klasse heraus gleichermaßen vom Lehrer und vom Berufsberater aufgenommen und gegeben werden können. [/S.28:]

Berufsorientierung im Unterricht mit dem Ziel, im Jugendlichen Verhaltensänderungen in Richtung auf selbstbestimmte Berufswahl in Gang zu setzen, ist also begrifflich und inhaltlich eine erzieherische, immer auch auf den Einzelnen ausgerichtete Aufgabe, soweit dies die unterrichtliche Form überhaupt zulässt. In ihr wirkt der Berufsberater mit. Dabei wird natürlich die kulturhoheitliche Zuständigkeit und Verantwortlichkeit von Schule und Lehrer vorausgesetzt.

Die erzieherische Bedeutung der Berufsorientierung zeigt sich auch in ihrer Bedeutung für die Einzelberatung. "Berufsorientierung bereitet die berufliche Beratung vor und ergänzt sie; zwischen beiden Aufgaben besteht daher ein enger Zusammenhang" (Schäfer 1977, S. 14). Berufsorientierung muss den Jugendlichen beratungswillig und beratungsfähig machen, damit er auch andere Angebote beruflicher Beratung annimmt und nutzen kann. Er muss sich z. B. trauen, eine "Dienststelle" der Bundesanstalt für Arbeit aufzusuchen oder anzurufen und in der Lage sein, die Zeit des Beratungsgesprächs durch gezielte Informationsfragen voll auszuschöpfen. Wenn also dem Jugendlichen durch Berufsorientierung nicht nur berufskundliches Wissen, sondern "Verarbeitungs- und Bewertungskriterien zur Vorbereitung eigener Entscheidungen vermittelt" werden sollen und er informiert sein muss, damit "die Beratung auf die Erörterung der individuell wesentlichen Entscheidungsfaktoren ausgerichtet werden" kann, wird eine zeitliche und sachliche Schlüsselfunktion der Berufsorientierung deutlich. Wenngleich verständlich ist, dass die Bundesanstalt für Arbeit aus prinzipiellen Erwägungen alle Aufgabenbereiche der Berufsberatung für grundsätzlich gleichrangig erklärt, sollte m. E. die Berufsorientierung Priorität erhalten. Schon die Verpflichtung des § 31 AFG, "über die Berufe, deren Anforderungen und Aussichten, über Wege und Förderung der beruflichen Bildung sowie über beruflich bedeutsame Entwicklungen in den Betrieben, Verwaltungen und auf dem Arbeitsmarkt umfassend (zu) unterrichten", ist in maximal zwei Schulbesprechungen nicht zu leisten, ganz abgesehen von der Aufgabe, auch individualisierende Impulse zu geben und zu anderen Formen beruflicher Beratung hinzuführen. Wenn also zu vermuten ist, dass Berufsorientierung einen herausragenden Stellenwert im System der Hilfen zur Selbsthilfe einnimmt, andererseits die gestellte Aufgabe inhaltlich in der herkömmlichen Weise nicht zu lösen ist, wird die Notwendigkeit, nach neuen Formen zu suchen, unabweisbar.

Neben ihrer Mitwirkung am kooperativen Berufswahlunterricht führt die Berufsberatung eigene Maßnahmen zur Berufsorientierung durch. Das geschieht entweder in der Schule (Schulbesprechungen, Gruppenberatungen) oder an anderen Lernorten, z. B. auf berufskundlichen Ausstellungen, in stationären oder mobilen Berufsinformationsstellen und -zentren, bei berufskundlichen Veranstaltungen für Jugendliche und Erziehungsberechtigte im Arbeitsamt. Über Einzelheiten dieser Maßnahmen kann an anderer Stelle nachgelesen werden (Nieder 1981, S. 44 ff.).

Die Tatsache, dass Berufsorientierung auch von anderen Institutionen betrieben [/S. 29:] wird, z. B. von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden, Kammern, Betrieben, sei der Vollständigkeit halber erwähnt, bleibt in diesem Zusammenhang unberücksichtigt.