Dibbern, Harald (1993): Berufsorientierung als Schlüsselkategorie der Berufsvorbildung.

In: Dibbern, H.: Theorie und Didaktik der Berufsvorbildung. Schriftenreihe Wirtschaftsdidaktik, Berufsbildung und Konsumentenerziehung, Bd. 26, Hohengehren 1993, S. 22 - 29.

[/S. 22:] Als besondere Erziehungswissenschaft wendet sich die Berufs- und Wirtschaftspädagogik pädagogisch relevanten Situationen zu, die in Verbindung mit ökonomischen und beruflichen Phänomenen der Arbeitswelt stehen. Zur Bewältigung dieser Situationen will sie Bildungshilfe anbieten. In der Berufsvorbildung geht es dabei um Situationen jenes Teils der Arbeitswelt, der vor jeder beruflichen Spezialisierung dem Jugendlichen als wenig bekannter Erfahrungsraum beim Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem entgegentritt. Ich wähle folgende begriffliche Grundlage:

"Beruf" ist zum einen objektives Phänomen spezialisierter Erwerbsarbeit, zum anderen eine pädagogische Leitidee, eine pädagogische Norm, die eine positiv zu bewertende Beziehung zwischen dem Einzelnen und seiner Arbeit ausdrückt. Die Frage nach der Gültigkeit einer pädagogischen Leitidee "Beruf" beantwortet sich durch die pädagogische Relevanz der vier wichtigsten Aspekte des Phänomens Beruf:

  • Der empirische Aspekt kennzeichnet Beruf als eine "charakteristische Kenntnisse und Erfahrung erfordernde und in einer typischen Kombination zusammenfließende Arbeitsverrichtung" (Statistisches Bundesamt 1975, S. 11). Er erschließt den tatsächlichen Arbeitsinhalt (die Tätigkeitsmerkmale) und das Anforderungsprofil eines Berufs einschließlich des sozialen Umfeldes am Arbeitsplatz. Ohne Informationen über die objektiven Gegebenheiten und die gesellschaftlichen Bedingungen verschiedener Berufe kann der Einzelne eine sinnvolle Berufsentscheidung nicht treffen.
  • Der ökonomische Aspekt kennzeichnet den Beruf als eine auf Erwerb gerichtete Arbeit, die als Leistung materiell bewertet und entlohnt wird. Berufliche Leistungsfähigkeit und berufliches Einkommen sind von pädagogischer Bedeutung, weil sie die materielle Existenz sichern, von der die individuelle und soziale Entwicklung der Persönlichkeit in unserer Gesellschaft nach wie vor stark abhängen.
  • Der soziale Aspekt kennzeichnet den gesellschaftlichen Status und die sozialen [/S. 23:] Rollen, die der Einzelne mit seinem Beruf einnimmt. Anspruchsniveau, Bedürfnisstruktur, Kommunikation, Konsum, Erziehung der Kinder werden von der beruflichen Existenz und Geltung stark beeinflusst. Man mag das bedauern, der pädagogische Auftrag muss sich indes auch an Gegebenheiten orientieren, die sich in absehbarer Zeit nicht werden ändern lassen.
  • Der personale Aspekt ist für die erziehungswissenschaftliche Fragestellung am wichtigsten. Aus dem Statuszwang der ständischen Gesellschaft befreit, sieht sich der mit Freiheitsrechten ausgestattete Mensch in unserer Gesellschaft dennoch bedroht. Trotz der Grundrechte auf freie Berufswahl, freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Gleichheit und Gleichberechtigung und Menschenwürde auch im Beruf und im Betrieb, engen verschiedene Faktoren den beruflichen Freiheitsspielraum ein. Da der Einzelne aber den größten Teil seines Lebens im Beruf "verbringt", muss es hervorragende pädagogische Aufgabe sein, die Chancen auf individuelle Selbstverwirklichung auch und gerade im Beruf zu optimieren. Wenn wir Zufriedenheit im Beruf als größtmögliche Übereinstimmung zwischen beruflicher Anforderung und individueller Leistungsfähigkeit und -bereitschaft, also als Vermeidung von ständiger Über- und Unterforderung annehmen und bei einer solchen Übereinstimmung eine weitgehende Befriedigung geistiger, seelischer und sozialer Bedürfnisse des Menschen im Beruf erwarten, wird die pädagogische Relevanz deutlich.

Damit wird Beruf berufspädagogisch definiert als Zuwendung des Menschen

  • zu einer spezialisierten Erwerbstätigkeit in der arbeitsteiligen Gesellschaft,
  • die charakteristische Kenntnisse und Fertigkeiten in einer typischen Kombination erfordert,
  • materiell und sozial bewertet wird,
  • demzufolge personale (kognitive, affektive, soziale) und materiale Bedürfnisse des Menschen mehr oder weniger befriedigt
  • und als frei erwählte und ohne ständige Über- und Unterforderung ausgeübte Tätigkeit eine Chance auf individuelle Selbstverwirklichung bietet.

Gegenstand der Berufsorientierung ist die Berufsarbeit in einem doppelten Sinne: Erschließung individueller Chancen im konkreten Beruf und Erkenntnis des gesellschaftlichen Systems beruflicher Arbeitsteilung. "Den Unterschied zwischen dem individuell-dispositionalen und dem gesellschaftlich-politischen Ansatz zum Gegenstand eines Streits zu machen, in dem es um ein 'Entweder - Oder' geht, erscheint angesichts der Schwächen beider Ansätze müßig. Eine 'Didaktik der Berufswahl' kann infolgedessen das subjektive Einzelinteresse und die kollektiv-solidarische Interessenvertretung als die beiden Seiten eines gesellschaftlichen Auftrages nur zusammenhängend begreifen" (Steffens 1978, S. 276). [/S. 24:]