Berufsorientierung gibt es in Deutschland schon seit geraumer Zeit als schulisches und außerschulisches Angebot. Beide haben ihre je spezifische Entwicklung genommen, die ihre Ziele und ihr Selbstverständnis prägen und ihre Fähigkeit zur Weiterentwicklung und Öffnung für neue Formen, Inhalte und Kooperationen mit bestimmen. In einem kurzen Überblick über die bisherige Entwicklung will ich dies verdeutlichen.

- Schulische Berufswahlvorbereitung -

"Non scholae sed vitae" war schon immer das Motto, unter dem Schule antrat, junge Menschen auf das Leben nach der Schule vorzubereiten. Vor rund 100 [/S. 11:] Jahren bis in die 50er und 60er Jahre hinein beinhaltete dies jedoch für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Schülerschaft, insbesondere die jungen Frauen und die künftige ungelernte Arbeiterschaft eine Vorbereitung auf Lebensbereiche außerhalb bezahlter Erwerbsarbeit. Schule hatte für die niedrigeren Sozialschichten vor allem auch die Funktion, sie als künftige Staatsbürger, als Hausfrauen und Mütter oder als sonstwie nützliche Mitglieder der Gesellschaft heranzubilden. Berufsvorbereitung oder gar Berufswahlvorbereitung war in einer traditionell und noch weitgehend ständisch organisierten Gesellschaft nicht vonnöten. Was später bei der Arbeit gebraucht wurde, wurde entweder unmittelbar "on the job", wie wir heute sagen, erlernt oder für einen kleineren Teil der nachwachsenden Generation in einer formalisierten, zunftmäßig organisierten Berufsausbildung, der sog. "Meisterlehre" gelehrt.

Die dazu erforderlichen Grundvoraussetzungen, die die Schule zu liefern hatte, beschränkten sich auf die bekannten grundlegenden Kulturtechniken - von frühen reformpädagogischen Ansätzen, z. B. Kerschensteiners "Arbeitsschule" einmal abgesehen (Kahsnitz 1997). Doch auch hier ging es in erster Linie um "Arbeitstugenden" und Anpassung an vorgegebene Arbeitsstrukturen, nicht um kritisches Reflektieren oder gar Berufswahlkompetenz. Auch im Bereich der sog. "höheren" Bildung diente Schule im Sinne des Humboldt'schen Bildungsideals vor allem der Persönlichkeitsbildung, der sittlichen Bildung und der Hinführung zur Humanität. Daneben bereitete sie vorrangig auf ein Universitätsstudium und wissenschaftliches Arbeiten vor, nicht aber auf Beruf und Arbeitsleben.

Dieses Aufgabenverständnis von Schule hinsichtlich der Vorbereitung auf Beruf und Arbeit änderte sich mit fortschreitender ökonomisch-technologischer Entwicklung, der weiteren Ausdifferenzierung von Tätigkeitsfeldern und mit den steigenden Anforderungen sowohl in der industriellen Produktion als auch in den Dienstleistungen. Nun wurde auch von der Schule gefordert, dass sie Jugendliche konkreter als bisher auf die Berufs- und Arbeitswelt und den Eintritt ins Berufsleben vorbereitet. In Westdeutschland waren die Empfehlungen des Deutschen Ausschusses für das Erziehungswesen von 1964 der entscheidende Anstoß für die sukzessive Einrichtung und curriculare Verankerung des Faches Arbeitslehre in den einzelnen Bundesländern. Der Akzent lag damals noch nicht so sehr auf der konkreten Berufswahlvorbereitung als vielmehr auf grundlegenden Kenntnissen über die Arbeitswelt verbunden mit einer emanzipatorisch-kritischen Ausrichtung gegenüber den Anforderungen der Arbeitswelt an das Individuum. In der DDR begann die Entwicklung bereits früher mit der Einführung des polytechnischen Unterrichts für alle Schüler - unabhängig von der [/S. 12:] Schulart -, um junge Menschen sehr konkret auf die Anforderungen und Bedarfslagen der sozialistischen Produktion vorzubereiten (Kahsnitz 1997).

Seither hat ein kontinuierlicher Ausbau der schulischen Berufswahlvorbereitung in Deutschland stattgefunden, u. a. durch stundenmäßige Ausweitung in den dafür speziell vorgesehenen Fächern (Arbeitslehre u. a.), durch die verpflichtende Einführung von Schülerbetriebspraktika, deren schulischer Vor- und Nachbereitung, durch die curriculare Einbindung der Berufswahlvorbereitung auch in andere Schulfächer oder durch fächerübergreifenden Unterricht (KMK 1997). Zu einer Intensivierung und Verstetigung berufswahlvorbereitender Angebote an Schulen haben auch die Vereinbarungen zwischen der Kultusministerkonfrenz (KMK) und der Bundesanstalt für Arbeit (BA) von 1971 über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung (1) und zwischen der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), der KMK und der BA von 1992 über die Zusammenarbeit in der Sekundarstufe II (2) bzw. die entsprechenden aktuellen Vereinbarungen auf Landesebene (3) beigetragen. Darin wurden (und werden) die Aufgaben der jeweiligen Partner in der Berufswahlvorbereitung (Schule, Berufsberatung, Studienberatung, Wirtschaft) beschrieben und die Beteiligung der Berufsberatung der Arbeitsämter (bzw. der Studienberatungen der Hochschulen) im Rahmen der schulischen Angebote sowie gemeinsame Aktivitäten geregelt. Ein Blick auf die wesentlichen Inhalte der Rahmenvereinbarung von 1971 (Abbildung 1) zeigt, dass diese bereits damals sehr modern und offen konzipiert waren, insbesondere für kooperative Strukturen und mögliche Weiterentwicklungen. Dem ist auch aus heutiger Sicht eigentlich nichts hinzuzufügen. Die in der Rahmenvereinbarung eröffneten Optionen wurden freilich von der Praxis nicht immer genutzt.

In der jüngsten Vergangenheit kamen neue Impulse in die schulische Berufswahlvorbereitung durch die Öffnung der Schulen in Richtung Wirtschaft und umgekehrt und die dadurch entstandenen kooperativen Berufswahlprojekte sowie andere Formen der Zusammenarbeit mit Betrieben, über die wir auf dieser Fachtagung ja noch mehr hören werden.

Berufsorientierung in der Schule hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten von einem Unterricht über die Arbeitswelt weiterentwickelt hin zu einem Unterrichtsangebot, das darüber hinaus auch den einzelnen Jugendlichen bei seiner individuellen Berufswahl unterstützen soll. Schule übernimmt damit - zumindest [/S. 13:] in dem Bereich der Sekundarstufe I - zunehmend Verantwortung für die Berufswahlvorbereitung und für die berufliche Integration ihrer Schülerinnen und Schüler.

- Außerschulische Berufswahlvorbereitung -

Früher als die schulischen Angebote entwickelten sich außerschulische Maßnahmen zur Berufswahlvorbereitung, und zwar im Zuge der ersten Schritte hin zur Etablierung einer öffentlichen Berufsberatung. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wurde Berufsberatung interessanterweise durch die damalige Frauenbewegung befördert und in den Auskunftsstellen für Frauenberufe erstmals angeboten und institutionell verankert (Meyer-Haupt 1995). Parallel dazu begannen Handwerkskammern und Innungen mit der Einrichtung von Lehrstellennachweisen für das Handwerk, um die Gewinnung ihres Berufsnachwuchses zu sichern. Etwa um die gleiche Zeit boten vereinzelt auch Gewerkschaftsvereine, caritative Verbände und Träger der Jugendfürsorge für ihre jeweilige Klientel Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung an.

Mit dem Ende des 1. Weltkrieges und der damals herrschenden wirtschaftlichen Not und Arbeitslosigkeit begann die Einrichtung öffentlicher Ämter für Arbeitsnachweise in Verantwortung der Kommunen, die im Arbeitsnachweisgesetz (ANG) von 1922 ihre rechtliche Grundlage fanden. Mit der in diesem Gesetz geregelten Einrichtung einer öffentlichen Berufsberatung und deren Zuordnung zu den Arbeitsnachweisämtern begann der Ausbau der öffentlichen Berufsberatung in Deutschland, deren Aufgabenstellung damit erstmals in den Allgemeinen Bestimmungen über die Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung bei den öffentlichen Arbeitsnachweisämtern vom Reichsamt für Arbeitsvermittlung gesetzlich geregelt wurde. Im Jahre 1927, mit Inkrafttreten des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) und der Errichtung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung wurden öffentliche Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung Pflichtaufgabe der Arbeitsämter. Gleichzeitig wurde gewerbsmäßige Berufsberatung verboten (Meyer-Haupt 1995).

Bereits seit den 20er Jahren gehörten Maßnahmen zur Berufsorientierung - damals nannte man dies "Berufsaufklärung" - zum Berufsberatungsangebot der Arbeitsämter; gesetzlich verankert wurde "Berufsaufklärung" jedoch erst 1957 im AVAVG (§45) als wichtige Voraussetzung für die berufliche Beratung. Als gleichrangige Pflichtaufgabe der Arbeitsämter wurde sie schließlich im [/S. 14:] Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969 festgeschrieben, das das AVAVG ablöste (§§ 31-32 AFG) (Wanders, Schneider 2001). Dort wurde auch die Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Bildung, den für die Berufsausbildung zuständigen Stellen, den Einrichtungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie mit den Trägern der Sozial-, Jugend- und Gesundheitshilfe begründet. Seit Anfang der siebziger Jahre wurden mit all diesen Einrichtungen entsprechende Vereinbarungen abgeschlossen, die i. d. R. auch heute noch Gültigkeit haben. Diese Vereinbarungen bilden die Basis und den Rahmen für die Beteiligung der Berufsberatung der Arbeitsämter an der kooperativen Berufswahlvorbereitung in der Schule im Zusammenwirken der verschiedenen Träger und Anbieter (siehe oben).

Seither hat sich die Berufsorientierung als Aufgabe der Berufsberatung der Arbeitsämter inhaltlich und organisatorisch kontinuierlich weiterentwickelt und wurde zu einem flächendeckenden Angebot innerhalb und außerhalb der Schule ausgebaut. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die berufsorientierenden Angebote der Arbeitsämter in Kooperation mit und in Ergänzung zu dem schulischen Angebot. Das Dritte Sozialgesetzbuch (SGB III), das seit 1998 die Aufgaben der Arbeitsförderung einschließlich der Berufsberatung regelt, hat den gesetzlichen Auftrag der Arbeitsämter zur Berufsorientierung noch einmal verstärkt und um weitere Zielgruppen, z. B. Arbeitgeber, erweitert.

Ausschlaggebend für die Übertragung der Aufgabe zur Berufsorientierung und Berufsberatung auf die Bundesanstalt für Arbeit war die Nähe der Arbeitsämter zu Wirtschaft und Betrieben und deren know how über den Arbeitskräfte- und Qualifikationsbedarf der Wirtschaft. Dies wurde auch als ein entscheidender Vorteil für eine an den Bedürfnissen und Möglichkeiten des Arbeitsmarktes orientierte Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung für jugendliche Berufswähler angesehen (vgl. dazu die sog. Troisdorfer Beschlüsse, 1968). Die konzeptionelle Entwicklung der Berufsorientierung in der BA geht einher mit der Entwicklung der Berufsberatung von einer früher primär auf die Lehrstellenvermittlung hin ausgerichteten Aktivität hin zu einem umfassenden Angebotskonzept zur optimalen Unterstützung des individuellen Berufswahlprozesses, in dessen Verlauf unterschiedliche Maßnahmen und Angebote zum Tragen kommen bzw. abgerufen werden können: Vorträge, Seminare, Medien zur Selbstinformation und Selbsterkundung, individuelle Beratung, Ausbildungs- und Arbeitsmarktinformation, Bewerbungstrainings, Lehrstellenvermittlung, Förderungs- und Qualifizierungsangebote. Anstelle eines starren Angebots- und Ablaufschemas sollen die berufsorientierenden Maßnahmen des Arbeitsamtes flexibel auf die Bedarfslagen der Jugendlichen und unserer Kooperationspartner (Schulen, Betriebe, Einrichtungen der Jugendhilfe usw.) reagieren und eingesetzt werden (BA 1999). [/S. 15:] Dabei misst die BA kooperativen Strukturen in der Berufsorientierung, insbesondere der Zusammenarbeit mit Schulen, Lehrkräften, Betrieben und Ausbildern einen hohen Stellenwert bei (Strijewski 2001).

Neben der Schule und den Arbeitsämtern gehören Maßnahmen zur Verbesserung der Chancen auf berufliche Eingliederung und Teilhabe an der Erwerbsarbeit auch zu den Aufgaben der Jugendhilfe. Nicht erst seit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfe-Gesetzes (KJHG) haben die Träger der öffentlichen und der freien Jugendhilfe die von ihnen betreute Klientel auf die Berufswahl und Ausbildungsplatzsuche vorbereitet - also Berufsorientierung betrieben. Die Berufsorientierungsangebote der Jugendhilfe konzentrieren sich auf jene Jugendlichen, die aus unterschiedlichen Gründen besondere Probleme beim Berufsstart haben. Die Maßnahmen sind in der Regel sozialpädagogisch orientiert und arbeiten ganzheitlicher als dies in den eher punktuellen Angeboten der Schule und der Berufsberatung möglich ist. Mit dem Programm des Bundesjugendministeriums "Arbeitsweltorientierte Jugendsozialarbeit" wurden und werden zahlreiche berufsvorbereitende Projekte gefördert, die auch in der Berufsorientierung benachteiligter junger Menschen innovative Wege gehen (Braun u. a. 1997). Sie haben damit vielfach auch Vorbildcharakter für andere Maßnahmen und Projekte zur Berufsorientierung.

Ich habe die verschiedenen Entwicklungslinien der Entstehung und institutionellen Einbettung der Berufsorientierung im Rahmen von Schule, Berufsberatung, Jugendhilfe und Wirtschaft hier etwas ausführlicher dargestellt, um deutlich zu machen, dass es auf diesem Gebiet kein Primat irgendeiner Institution gibt, sondern dass wir heute an einem Punkt angekommen sind, wo die getrennten Entwicklungslinien zusammenlaufen (müssen) und sich die Hauptakteure ihrer gemeinsamen Verantwortung in diesem Handlungsfeld bewusst werden (müssen). Kooperation nicht Konkurrenz ist das Gebot der Stunde!