[/S. 8:] Das Thema Berufsorientierung hat seit einigen Jahren wieder einmal Konjunktur - Konjunktur deswegen, weil allenthalben Defizite in dem derzeitigen Stand der Berufswahlvorbereitung junger Menschen ausgemacht werden. Insbesondere Betriebe beklagen das häufig unzureichende Informationsniveau der Bewerberinnen und Bewerber über die Berufe und deren Anforderungen. Ausbildungsabbrüche oder -wechsel seien die häufige Folge dessen, dass Jugendliche sich falsche Vorstellungen von dem gewählten Beruf machten. Vielfach werden die angeblich unrealistischen beruflichen Vorstellungen vieler Jugendlicher und deren Fixierung auf wenige, meist überlaufene "Mode- oder Traumberufe" kritisiert und diese als Grund für "mis-match" auf dem Ausbildungsmarkt - Bewerbermangel auf der einen, Lehrstellenmangel auf der anderen Seite - angesehen.

Noch ein weiterer Aspekt veranlasst insbesondere Vertreter der Wirtschaft, sich in dem Handlungsfeld Berufsorientierung verstärkt zu engagieren: Da ist zum einen der angesichts der demografischen Entwicklung zu befürchtende Fachkräftemangel. Jugend wird zur Mangelware - fatal in einer Volkwirtschaft, deren wichtigstes Kapital das Humankapital ist. Aber nicht nur das quantitative Problem drückt die Unternehmen, sondern mehr noch ein qualitatives: Es mangelt Jugendlichen heutzutage ihrer Einschätzung nach an unternehmerischem Denken, an Eigeninitiative, Verantwortungsbereitschaft und Risikofreudigkeit, aber auch an grundlegenden ökonomischen Kenntnissen - Eigenschaften und Fähigkeiten, die in der künftigen Arbeitswelt mehr denn je gefragt sein werden. Und auch deshalb engagieren sie sich neuerdings in Schulprojekten, Schulpatenschaften und dergleichen, um auf diesem Wege die Belange der Wirtschaft und mehr betriebliche Praxis in die Berufswahlvorbereitung der Schulen einzubringen - bis hin zu den jüngsten Forderungen nach der Einrichtung eines eigenen Schulfachs "Ökonomische Bildung". Dahinter steht aber auch die Skepsis gegenüber Lehrern, die Arbeitslehre und Berufswahlvorbereitung unterrichten sollen, obwohl sie die betriebliche Realität nie kennen gelernt haben. Raus aus der Schule und hinein in die Betriebe lautet daher eine der wichtigsten Forderungen nach neuen Wegen in der Berufsorientierung.

Kritik und Probleme gibt es nicht nur an der praxis- und betriebsfernen Berufswahlvorbereitung in der Sekundarstufe I und für Schüler, die für eine duale Berufsausbildung in Frage kommen, sondern auch bezogen auf die Berufs- und Studienvorbereitung der Gymnasiasten und Abiturienten. So wird u. a. die angebliche Technikfeindlichkeit der Schule und der Berufsberatung mit dafür verantwortlich gemacht, dass sich nach wie vor nur vergleichsweise wenige Abiturienten für ein ingenieur- oder naturwissenschaftliches Studium entscheiden.

[/S. 9:] Aber auch die Politik sorgt sich um den Bildungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland und befürchtet Nachwuchsmangel in den naturwissenschaftlich-technischen und High-Tech-Berufen. Das Programm "Schule-Wirtschaft-Arbeitsleben" ist eine Antwort darauf: Durch eine Verbesserung und Intensivierung der Berufsorientierung sollen die Voraussetzungen für fundiertere, rationale und vor allem marktgerechtere Berufsentscheidungen der Jugendlichen geschaffen werden.

Nicht zuletzt fühlen sich auch viele Jugendliche unzureichend auf die Berufswahl vorbereitet; manche - und davon können Berufsberater/ -innen ein Lied singen - haben überhaupt noch keine Vorstellung, wohin die Reise denn gehen soll. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes "orientierungslos" in Bezug auf ihre Berufs- und Lebensplanung und machen die aus ihrer Perspektive ohnehin unsicheren Zukunftsperspektiven dafür verantwortlich. Andere beklagen, dass niemand ihnen sagen könne, welche Berufe "Zukunft haben". Und schließlich sei es sowieso egal, welchen Beruf man erlerne, da in Zukunft ohnehin jeder mindestens 3mal im Leben seinen Beruf wechseln müsse. Manche lassen sich einfach treiben, schieben die Berufsentscheidung noch hinaus, gehen erst einmal weiter zur Schule oder jobben. Andere überlassen es dem Zufall und nehmen die erst beste Lehrstelle, die sie bekommen können; wieder andere können sich überhaupt nicht entscheiden und zögern zu lange, bis Termine verstrichen oder Ausbildungsplätze anderweitig besetzt sind. Ausbildungs- und Berufsentscheidungen werden so nicht selten zum Lotteriespiel - zumal trotz verbesserter Lehrstellensituation noch lange nicht jeder Berufswunsch erfüllbar ist.

Nun liegt dies alles ja nicht daran, dass es zu wenig Angebote zur Berufsorientierung gäbe - im Gegenteil: Noch nie in der Geschichte gab es so vielfältige, zahlreiche, umfassende und - so glaube ich sagen zu können - auch qualitativ gute Angebote wie gegenwärtig - sowohl seitens der Berufsberatung und der Schulen, aber auch aus der Wirtschaft, der Jugendhilfe und vieler, vieler anderer Institutionen bis hin zu dem vermehrten Angebot privater Anbieter (Banken, Versicherungen). Die Fülle scheint eher das Problem zu sein. Die Informationsflut überfordert die Jugendlichen und ihre Eltern in einer an Informations- und Medienreizen nicht gerade armen Welt und erreicht sie deswegen häufig nicht. Es bedarf also dringend einer Strukturierung, Koordinierung und Transparenz der Angebote, einer verbesserten Kooperation der Hauptakteure, die dazu auch gesetzlich berufen sind. Außerdem bedarf es angesichts der sehr unterschiedlichen inhaltlichen Qualität auch einer Bewertung der Angebote, um Jugendlichen bei der Auswahl geeigneter und seriöser Angebote zu helfen, denn nicht jedes jugendlich-modern daherkommende Angebot ist auch seriös, objektiv, neutral und inhaltlich richtig.

[/S. 10:] Berücksichtigen sollte man allerdings auch, dass angesichts der zunehmenden Komplexität und Unübersichtlichkeit der Bildungs- und Ausbildungswege und des raschen Wandels in der Arbeitswelt die persönliche Orientierung und Entscheidung immer schwieriger wird und noch mehr und noch bessere Orientierungsangebote dabei auch nicht immer hilfreich sind, sondern eher eine zusätzliche Belastung darstellen. Wenn man als junger Mensch erst zahlreiche aufwändige Berufsorientierungsmaßnahmen durchlaufen muss, sie vielleicht gar noch zertifizieren lassen muss, um reif für die Ausbildungs- und Berufswahl zu sein, sollte man doch vielleicht darüber nachdenken, das Ausbildungs- und Erwerbssystem transparenter und leichter zugänglich zu gestalten. Schließlich soll Berufswahl und die Vorbereitung darauf auch Spaß machen.

Die gegenwärtige Kritik an der Praxis der Berufsorientierung hat dennoch ihr Gutes: Berufsorientierung wird nämlich plötzlich auch aus ökonomischer Perspektive wichtig und dies fördert die Bereitschaft, darin zu investieren und Ressourcen für Berufsorientierung bereitzustellen. Diese Chance sollten alle Beteiligten nutzen - nutzen, um neue innovative Wege zu gehen und besser als bisher miteinander zu kooperieren, nicht um mit neuem Geld das Rad immer wieder neu zu erfinden. Ich sage dies mit Blick auf die vielfältigen Angebote zur Berufsorientierung, die in den vergangenen 30 Jahren von den Berufsberaterinnen und Berufsberatern, Lehrerinnen und Lehrern schon entwickelt und umgesetzt wurden.