(1) Unter wissenschaftshistorischem Blickwinkel wird deutlich, dass sowohl Unterrichtsfächer als auch Fachdisziplinen eine (zumindest) zweihundertjährige Geschichte haben. Historisch gesehen legen die Vertreter des fachübergreifenden Lernens in der aktuellen Diskussion einen zweifelhaften Begriff von Fach zu Grunde. "Fach" ist hier eine pädagogisch-didaktische Fiktion. Die Pädagogik tut so, als ob es "Fächer" gäbe, die im Unterricht gelehrt werden sollen. Mit Fiktion meine ich zunächst einmal nichts Negatives. Eine solche Unterstellung mag durchaus fruchtbar sein. Kritik verdient allerdings die Meinung, dass es sich in der 200-jährigen Schulgeschichte um das gleiche Fach "Geschichte" handelt. Grenzen von Fächern sind nicht theoretische, sondern historische Grenzen. Sie haben sich historisch herausgebildet und gelten nicht absolut. Sie sind mit einer Muschel vergleichbar, die sich im historischen Prozess mal zu den Nachbardisziplinen öffnet oder schließt.
Meine vierte These ist:
(2) Historisch gesehen lassen sich die einzelnen Fächer nicht isoliert betrachten. Sie sind stets in wandelnde "Großkonzeptionen" eingebunden gewesen und teilten deren Prämissen. Geschichte gehörte einmal zu den Geisteswissenschaften, später zu den Sozialwissenschaften und gegenwärtig ist ein Trend zu den Kulturwissenschaften unübersehbar. Seit 30 Jahren gibt es in der Wissenschaft unterschiedliche Versuche, Fächer bzw. Disziplinen in einen bestimmten Zusammenhang zu stellen und ihre Gemeinsamkeiten zu betonen. In den 70er Jahren war es das Konzept der Sozialwissenschaft, gegenwärtig ist an seine Stelle das Konzept der Kulturwissenschaft getreten.
Sozialwissenschaften sind diejenigen Disziplinen, die ihre durch die eigene Fragestellung erzeugte faktische Wirkung auf die soziale Lebenspraxis reflektiert in ihr Forschungsinteresse aufgenommen haben. Soziologie und Politologie waren in den 70er/80er Jahren führend, dieses Konzept durchzusetzen. Teile der Geschichtswissenschaft schlossen sich an, indem sie sich als "historische Sozialwissenschaft" verstanden (18). Die Hoffnung, der Forderung nach Integration und fachübergreifendes Lernen durch eine sozialwissenschaftliche Umorientierung der Fachdisziplinen nachzukommen, hat sich zwar nicht erfüllt, die sozialwissenschaftlichen Fächer sind sich aber erkennbar näher gekommen. Der Begriff "Sozialwissenschaften" legte eine Addition kompatibler und homogener Disziplinen und zwang die Fachvertreter, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Gewinner dieser Debatte ist ohne Zweifel die Geschichtswissenschaft gewesen. Sie konnte ihr faktografisches und theoriefeindliches Image ablegen.
In der Diskussion um die sozialwissenschaftliche Umorientierung ist aber auf eine gravierende Differenz zu achten: Es ist von eminenter Bedeutung, ob die Disziplin sich als Ganzes als Sozialwissenschaft begreift, oder ob damit nur eine Spezialdisziplin (Sozialgeschichte, Sozialgeografie) neben anderen Spezialdisziplinen (Mittelalterliche Geschichte, Wirtschaftsgeografie) gemeint ist. Bezieht sich das Verständnis als Sozialwissenschaft nur auf eine dieser Spezialdisziplinen, so hat das für die Integrationsproblematik tief greifende Folgen. Die Umorientierung und Definition als Sozialwissenschaft kann nämlich nicht durch Amputation, durch eine radikale Abtrennung einzelner Wissenschaftsgebiete erfolgen. Teilbereiche (Wirtschafts- und Sozialgeografie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte) können nicht als fortschrittlichste Varianten der Gesamtdisziplin angesehen werden, um dann durch Zusammenfassung dieser Teilbereiche das Integrationsproblem zu "lösen". Die Widersprüchlichkeit einer solchen Integrationsstrategie ist offenkundig. Im Bemühen, sich nicht in enge Fächerungen einsperren zu lassen, gründet eine so verfahrende Didaktik sich nicht auf eine (!) "breite" Sozialwissenschaft als Bezugswissenschaft, sondern auf enge Spezialdisziplinen. Anstatt die isolierenden Wände der Zellen zu beseitigen, sind sie nur enger gezogen worden. Diese Gefahr hat sich im Rückblick auf 20 Jahre so nicht eingestellt. Die Beziehungen zwischen den Fächern sind unzweifelhaft enger geworden und haben sich ganz sicher nicht voneinander entfernt.
Kulturwissenschaften (19) sind Disziplinen, die ihre disziplinäre Gemeinsamkeit in einem neuen Kulturparadigma suchen. Sie gehen über den Gesellschaftsbegriff der Sozialwissenschaften hinaus und beziehen auch Symbolbildungsprozesse ein. Das Konzept Kulturwissenschaft wird je nach historischer Entwicklung des Faches anders akzentuiert. So heißen die Bemühungen in der Geschichtswissenschaft "Neue Kulturgeschichte", weil es im 19. Jahrhundert eine Kulturgeschichtsschreibung gegeben hat, die nach heutigem Sprachgebrauch Alltagsgeschichte bedeutet. (20) Die Volkskunde hat sich nach der Belastung ihrer Disziplin in der NS-Zeit in "empirische Kulturwissenschaft" umbenannt.
Die Diskussion um Kulturwissenschaft sieht in einem Kulturbegriff ihren zentralen Bezugspunkt. "Kultur ist nicht das, was übrig bleibt, wenn man Politik und Wirtschaft abzieht, sondern Kultur ist das Ganze, die Gesamtheit der Hervorbringungen des Menschen auf allen Gebieten des Lebens." (21) Statt Gesellschaft tritt jetzt Kultur ins Zentrum und damit auch Erfahrungen und Symbolbildungen. Das Handeln der Menschen wird nicht allein durch ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen gelenkt, sondern ebenso von kulturell bedingten Denk- und Verhaltensmustern. Ging es bei der Sozialgeschichte noch um die Kategorie des Interesses, so geht es jetzt um die der Erfahrung.
Das lässt sich an dem Thema erläutern, an dem ich vor kurzem gearbeitet habe: Tiere in der Geschichte (22). Eine Sozialgeschichte würde sich mit der Überlebensfähigkeit des Menschen durch Tierzucht, Herrschaftsausübung durch Einsatz von Pferden und Territorialsicherung durch Hunde beschäftigen, die den privaten Hof, aber auch die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten sicherten. Diese Themen bearbeitet die neue historische Kulturwissenschaft auch, aber sie geht darüber hinaus, indem sie die Diskurse und das imaginäre Universum der Tiere betrachtet, jene Tiere, die ein Produkt menschlichen Denkens sind. Sie sucht die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wachsenden Emotionalitätstransfers von Mitmenschen auf Tiere und interessiert sich für den qualitativen Umschwung: man dürfe Menschen verletzen, um Tiere zu schützen. Bereits in den 50er Jahren hat Theodor W. Adorno geahnt: Es werde die Zeit kommen, wo man den hündischen Kutscher, der sein Pferd schlägt, vom Bock herunterschießt.
Die Konzepte von Sozialwissenschaft und Kulturwissenschaft schaffen durchaus verschiedene Allianzen. Während Sozialwissenschaft vor allem Politik, Soziologie, Ökonomie und Geschichte zu integrieren suchte, sind es bei der Kulturwissenschaft auch Sprachen und Philosophie, während Ökonomie nicht einbezogen wird. Diese wechselnden Verbindungen sind durchaus vorteilhaft, denn auf diese Weise bleiben die Grenzen offen und Dogmatismus wird verhindert.
Warum haben die Didaktiker die Diskussion um Sozialwissenschaften nicht aufgenommen, warum nehmen sie im Moment nicht den Diskurs um Kulturwissenschaft auf? In beiden Debatten boten und bieten sich genügend Ansätze, um interdisziplinäre und fachübergreifende Themenstellungen zu finden. Ich will auch gleich die Antwort geben. Für diese Nichtwahrnehmung von Angeboten und Chancen sind Fachdidaktiken und Kultusbürokratien gleichermaßen verantwortlich. Die Didaktiker nehmen solche Diskurse überhaupt nicht zur Kenntnis; sie beteiligen sich gar nicht an ihnen und haben sich seit Jahrzehnten aus diesen Debatten herausgehalten und verstehen sie jetzt zum großen Teil auch gar nicht mehr. Die Kultusbeamten setzen für Geschichte, Sozialkunde, Geografie etc. separate Richtlinienkommissionen ein, die jede ihre facheigenen Kataloge der Gegenstände vorlegt. Wenn auf diese Weise Fachrichtlinien ohne Schnittmengen produziert worden sind, verlangen die Kultusgewaltigen im Nachhinein, dass fachübergreifendes Lernen berücksichtigt werden soll.
Meine fünfte These lautet: