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2. Zeitgeschichte in der politischen Bildung

Es geht in der politischen Bildung primär um gegenwärtige Probleme, denen eine dauerhafte, nicht bloß aktuelle gesellschaftliche Bedeutung zugesprochen werden kann. Es geht auch im Geschichtsunterricht primär immer um gegenwärtige, im weitesten Sinne politische Probleme; es wird gefragt, wie historisches Denken dazu beitragen kann, gegenwärtige Probleme so zu betrachten, dass daraus eine vernünftig begründbare politische Praxis folgt. Der Geschichtsunterricht, der den Unterricht in Zeitgeschichte einschließt, geht dabei von den gleichen [/S. 551:] gegenwärtigen Problemen aus, die auch den Politikunterricht bestimmen. Die Gemeinsamkeit der Probleme begründet die Idee des kooperativen Unterrichts: Bei diesem Unterricht bringen die an politischer Bildung beteiligten Fächer ihre je eigenen Denkweisen ein, um das ihnen gemeinsame Problem mit unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden zu betrachten. Die Rolle der Zeitgeschichte hängt davon ab, ob sie innerhalb des kooperativen Unterrichts dem Politik , Geographie oder einem anderen Fachunterricht Dienstleistungen erbringt oder ob sie innerhalb des Geschichtsunterrichts die eigene Denkweise zur Geltung kommen lässt.

 

2.1 Zeitgeschichte als Dienstleistung

Im Rahmen des Politikunterrichts oder eines anderen Fachunterrichts wird Zeitgeschichte oft benutzt, um den Lernenden Sachinformationen über die historische Gewordenheit des gegenwärtig anstehenden Problems zu vermitteln. Die Kenntnis dieser in den Lernprozess gleichsam von außen eingegebenen Informationen über die historischen Ursachen und Prägungen ist für ein der Problemlage angemessenes politisches Bewusstsein und Handeln unabdingbar. In diesem Sinne stellt die Zeitgeschichte Wissen über Daten, Fakten, Personen, Institutionen oder Zusammenhänge bereit, das im Politikunterricht oder im Unterricht anderer Fächer gebraucht wird und abgerufen werden kann.

Darüber hinaus liefert die Zeitgeschichte historische "Fälle", auf die bei der Besprechung politologischer, ökonomischer oder soziologischer Systembegriffe und struktureller Regelmäßigkeiten unserer Zeit beispielhaft oder ergänzend verwiesen werden kann. Auch dies ist ein Beitrag, zu dem die Zeitgeschichte für Zwecke politischer Bildung innerhalb des Unterrichts anderer Fächer herangezogen werden kann. Er erfordert in diesen Fällen keinen eigenständigen Zeitgeschichte Unterricht, da er in der Vermittlung oder Benutzung eines isolierten und nicht selbständig ermittelten Wissens sich erschöpft.

 

2.2 Zeitgeschichte und Historisches Denken

Im Rahmen des kooperativen Unterrichts lehrt die Zeitgeschichte als Bestandteil des Geschichtsunterrichts ein gegenwärtiges Problem nach Art der Historie zu betrachten und mit den Mitteln des historischen Denkens anzugehen. Wo an der Zeitgeschichte historisches Denken gelernt werden soll, heißt dies zunächst, das Fragen nach Ursachen und das Erkunden von Ursachen zu lernen, die die gegenwärtige Entscheidungssituation maßgeblich herbeigeführt haben. Dies ist der selbstverständlichste Anteil, den zeithistorisches Lernen an politischer Bildung hat: Lernende zu befähigen, historische Informationen eigenständig zu erheben und narrativ zu verknüpfen.

Historisches Lernen an der Zeitgeschichte geht nicht in dieser selbständigen Ermittlung der Ursachen des gegenwärtigen Problems auf. Die Zeitgeschichte erschließt darüber hinaus in konkret genetischer Betrachtung den Lernenden Erfahrungen, die in der jüngsten Vergangenheit Menschen unserer Zeit in Situationen und mit Problemen gemacht haben, die mit den gegenwärtigen Situationen und Problemen vergleichbar sind. Wenn z.B. Arbeitslosigkeit ein wesentliches gesellschaftliches Problem unserer Zeit und der nächsten Zukunft ist, dann ist es sinnvoll, danach zu fragen, wie Menschen in der jüngst zurückliegenden Vergangenheit in vergleichbaren Situationen sich verhalten haben; es bietet sich eine Untersuchung darüber an, wie Menschen in der Weltwirtschaftskrise von 1929 und den folgenden Jahren oder in der Rezession der [/S. 552:] 60er Jahre als bedingt vergleichbaren Situationen in die Arbeitslosigkeit geraten sind, was sie gedacht, gewollt und getan haben, um mit dieser Situation fertig zu werden und welche auch unbeabsichtigten Folgen ihr politisches Handeln und Unterlassen gehabt haben.

Schüler und Erwachsene lernen dabei nicht nur in einer Anschaulichkeit und Dichte, die "betroffen" machen kann Erfahrungen kennen, die Zeitgenossen im Laufe der Zeit gemacht haben und ihnen in Erzählungen noch vermitteln können. Sie lernen auch ihnen fremde oder ihnen in etwa geläufige Wertorientierungen kennen, an denen sie sich reiben und mit denen sie sich auseinandersetzen können, um ihre eigenen Wertvorstellungen, ihre spontanen Identifikationen oder Distanzierungen zu überprüfen, zu verändern, abzuwandeln oder kritisch zu bestätigen. Sie erweitern der Möglichkeit nach ihre von gegenwärtigen Selbstverständlichkeiten geprägten Vorstellungen und Denkmuster durch "historische Phantasie": Wie in der "früheren" Geschichte gibt es auch im Umkreis der Zeitgeschichte gedachte und gelebte, antizipierte und gescheiterte Möglichkeiten menschlich gesellschaftlicher Existenz zu entdecken, vor dem Vergessen zu bewahren und neu zu bedenken. Der Zeitgeschichte Unterricht beugt damit einem "Verlust der Geschichte" vor, wobei hier nicht der bildungsbürgerliche Klageruf über die angebliche Abnahme einer bestimmten Form historischer Bildung gemeint ist, sondern vielmehr dass gerade im Bereich der Zeitgeschichte die Bereitschaft zu Erinnerung und kritisch selbstkritischer Rückschau überlagert werden kann durch die Bereitschaft zu vergessen, zu verdrängen, zu beschönigen oder Schuld buchhalterisch aufzurechnen.

Darüber hinaus erhalten die Lernenden im Zeitgeschichte Unterricht an konkret nachvollziehbaren Abläufen grundlegende Einsichten in politisches Handeln: Sie erkennen, dass politisches Handeln der Versuch einer sinnvollen Reaktion auf vorgefundene und vorgegebene Umstände ist, auf Wertvorstellungen, Sinngebungen oder sehr handfesten materiellen Interessen beruht, erfolgreich sein oder scheitern und unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben kann oder dass es Diskrepanzen zwischen früheren Ansprüchen und gegenwärtiger Wirklichkeit geben kann, die aufgeklärt werden können. Im Zeitgeschichte-Unterricht werden solche Einsichten nicht abstrakt aufgesetzt und vermittelt, sondern an konkreten historischen Handlungsverläufen ermittelt, erkannt und auf den sozialwissenschaftlichen Begriff gebracht. Letztlich lernen die Erwachsenen und Schüler eine bestimmte Form des Denkens das historische Denken, das den durch menschliches Handeln ausgelösten Veränderungen in der Zeit mit bestimmten Fragestellungen, Methoden und Kategorien nachgeht.

 
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Quell-URL (modified on 14/01/2013 - 15:15): https://sowi-online.de/node/760