sowi-online
Veröffentlicht auf sowi-online (https://sowi-online.de)

Startseite > Historische und politische Bildung > Beiträge 1970-1979 > Pandel, Hans-Jürgen (1978): Integration durch Eigenständigkeit? Zum didaktischen Zusammenhang von Gegenwartsproblemen und fachspezifischen Erkenntnisweisen > 1. Wissenschaftstheorie

1. Wissenschaftstheorie

Der Begriff "Fachdidaktik" verweist nicht nur darauf, daß Fachdidaktik selbst ein Fach ist, sondern kennzeichnet auch ihre Bezogenheit auf andere Fächer. Eine Überprüfung der Bedingungen für die Möglichkeiten einer Integration von Fächern muß sich deshalb über Voraussetzung, Struktur und Logik von "Fächern" Klarheit verschaffen. Jenseits ihres organisatorischen Status als Institutionen begründen sie sich in ihrem wissenschaftshistorischen Prozeß auf gegenstandstheoretischer, methodologischer und konstitutionstheoretischer Ebene. Von diesen drei sich durchdringenden Ebenen soll geprüft werden, welche hemmenden oder fördernden Bedingungen für eine Integration vorliegen.

 

1.1 Gegenstandstheoretische Ebene

Integration wird erleichtert durch die gegenstandstheoretische Einsicht, daß die einzelnen Fachdisziplinen sich nicht durch eine besondere Dignität ihres dinglich verstandenen oder phänomenologisch wahrgenommenen Gegenstandes unterscheiden. Gegenstände von Wissenschaft sind nicht irgendwelche von vornherein gegebenen Klassen von separaten Phänomenen. Die Verschiedenheit der Wissenschaften resultiert nicht daraus, daß sie einen bestimmten vorgängig gegebenen Gegenstand, eine bestimmte exklusive Klasse von Phänomenen, zu ihrem ausschließlich von ihnen zu untersuchenden Gegenstand machen. Auf alle Dinge, Personen und Ereignisse in der Welt können sich alle Wissenschaften forschend beziehen. Da die Vergangenheit kein Monopolobjekt der Geschichtswissenschaft und die Gegenwart keines der Politologie oder Soziologie ist, kann jede vergangene, [/S. 349:] gegenwärtige und zukünftige Gesellschaft von allen diesen Disziplinen zum Objekt ihrer Forschung gemacht werden (4). Ein Blick auf die neuere Disziplin der Friedens- und Konfliktforschung macht deutlich, daß ein Fach nicht lediglich durch einen konkretistisch gefaßten "Gegenstand" definiert wird. "Kriege" und "Konflikte" waren und sind "Gegenstände" etablierter Disziplinen. Die Friedens- und Konfliktforschung geht diese Gegenstände unter eigenen, neueren Fragestellungen an, wenn sie nach den gesellschaftlichen Bedingungen des Friedens, der strukturellen Gewalt oder nach der organisierten Friedenslosigkeit fragt. Ähnlich verhält es sich mit den Gegenständen "Geschichte" und "Vergangenheit". Auch sie ergeben allein keine tragfähige Basis zur Definition einer bestimmten Wissenschaft. Mit dem Gegenstand "Zeitgeschichte" befassen sich Politologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft gleichermaßen, ohne daß dabei deren Verfahrensweisen oder deren Antworten, die sie auf ihre unterschiedlichen Frageweisen erhalten, identisch werden (5). Auf dem Gebiet der Zeitgeschichte ist in den letzten Jahren das Nebeneinander unterschiedlicher Disziplinen kaum strittig gewesen. Die Geschichtswissenschaft konnte aber die übrigen Bereiche der Vergangenheit mit gutem Grund um so mehr als ihr Monopolobjekt betrachten, als sich die Soziologie in Methode und in den von ihr gewählten Erkenntnisbereichen immer mehr enthistorisierte. Die Zahl der historisch gerichteten soziologischen Untersuchungen nimmt gegenwärtig aber merklich zu (Norbert Elias, Klaus Eder, Karlheinz Messelken) (6). Damit werden alle klassischen Entgegensetzungen, die vom dinglichen oder phänomenologischen Gegenstand her Geschichtswissenschaft und systematisierende Sozialwissenschaften zu unterscheiden suchten, immer unschärfer: Vergangenheit vs. Gegenwart, Geschichte vs. Gesellschaft, Geschichte vs. Politik, "res gestae" vs. "res gerendae" verlieren immer mehr ihre analytische Trennschärfe (vorausgesetzt, daß sie sie jemals besessen haben). Das gilt auch für die Formalgegenstände Individuelles vs. Allgemeines und Raum vs. Zeit. Ohne den hohen Stellenwert von Individuellem oder [/S. 350:] von Zeit für die Geschichtswissenschaft in Abrede stellen zu wollen, kann der Historiker weder individuelle Ereignisse noch Zeitphänomene für sich reklamieren. Politologische und soziologische Fallstudien befassen sich ebenso mit Individuellem wie Psychologie, Psychiatrie und Soziologie mit der Zeit (7). Historiker und Geographen, die die Praxis ihrer Disziplin reflektieren, machen deutlich, daß ihre Wissenschaften sich nicht durch einen vorab gegebenen Gegenstand definieren (8). So schreibt der Historiker Reinhart Koselleck: "In der Praxis ist das Objekt der Historie alles oder nichts, denn ungefähr alles kann sie durch ihre Fragestellung zum historischen Gegenstand deklarieren. Nichts entgeht der historischen Perspektive" (9). Noch konkreter faßt es Fred K. Schaefer für die Geographie: "Demnach muß die Geographie ihre Aufmerksamkeit auf die räumliche Anordnung der Phänomene in einem Gebiet, und nicht so sehr auf die Phänomene selbst richten ... Nichträumliche Beziehungen, die sich unter den Phänomenen eines Gebietes finden, sind Untersuchungsgegenstand anderer Spezialisten wie der Geologen, Anthropologen oder Ökonomen ..." (10). Die "physischen Manifestationen wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Sachverhalte [bilden] keine selbständige Gegenstandskategorie", sondern sind "Beobachtungsgrundlage, welche die Analyse der eigentlichen Problemkategorie erleichtert" (11). Werner Hofmann hatte bereits vor Jahren die Definition einer Wissenschaft von einem Gegenstand her verworfen: "Wissenschaft ist durch nichts außer ihr Gegebenes, gleichsam dinglich, gesichert" (12). Folgt man dieser Argumentation, so fehlt einem Fach Gesellschaftslehre der wissenschaftstheoretisch gesicherte Zugriff, sofern man es vom "Gegenstand Gesellschaft" her konzipieren will. Trotzdem ist mit diesem Argument kein Einwand gegen die didaktische Forderung vorgebracht, Gesellschaft zum Gegenstand von Unterricht zu machen. Da der Gegenstand Gesellschaft nicht unabhängig vom Erkennenden schlicht objektivistisch gegeben ist, kann er nur über die unterschiedlichen fachspezifischen Frage- und Erkenntnisweisen erschlossen werden (13). [/S. 351:]

 

1.2 Methodologische Ebene

Integration wird erschwert durch die Einsicht in den gegenstandskonstitutiven Charakter der wissenschaftlichen Methoden. Die Einheitswissenschaft mit der Einheitsmethode ist ein wissenschafts-konservativer, positivistischer Traum geblieben. Im Positivismusstreit wurde offenbar, daß sich die Einheit der Wissenschaft durch das Verfahren nicht herstellen läßt. Allerdings sind Methoden nicht einer einzigen Fachwissenschaft zu eigen, sondern einer Fächergruppe. Die an der politischen Bildung im engeren Sinne beteiligten Fächer sind nicht einer einzigen, sondern mehreren Methoden verpflichtet. Keines dieser einzelnen Fächer ist methodologisch autonom; ihre Methoden sind vielmehr integraler Bestandteil einer allgemeinen Methodologie aller Sozialwissenschaften. Eine Reduzierung auf eine oder wenige Methoden - z. B. durch den Ausschluß der Hermeneutik -‚ um durch größere Einheitlichkeit Integrationsvoraussetzungen zu schaffen, ist ohne Erkenntnisverlust nicht möglich. Da diese Methoden emanzipationsermöglichendes Denken befördern sollen, wenn sie gelehrt werden, ist ihre Reduktion auf eine sogenannte Einheitsmethode mit gravierenden didaktischen Gefahren verbunden: Den Schülern werden Erkenntnismöglichkeiten vorenthalten. Mit "Methoden (historischer, politologischer, soziologischer, psychologischer etc.) Erkenntnis" sind jene Operationen der geistigen Auseinandersetzung mit den "Repräsentationsmodi der Gegenständlichkeit" (14) gemeint, die zu fachspezifischen Aussagen führen. Den Methoden, verstanden als folgerichtige Denkoperationen, liegt eine bestimmte Erkenntnisabsicht und damit eine bestimmte Aussageintention zugrunde. Der Schüler sollte daher nicht in erster Linie Wissensbestände lernen, sondern die "Wege des Fragens und Urteilens" (15). Insofern sind die Methoden der Erkenntnis Aneignungsform en oder Verfahrensweisen des Nachdenkens über Gegenstände, die durch das Verfahren des Nachdenkens erst konstituiert werden. Diese Erkenntnisweisen sind in der didaktischen Literatur ein bislang kaum diskutierter Bereich (16). Untersuchungen über diejenigen Erkenntnisweisen, denen sich ein Schüler bedie[/S. 352:]nen muß, wenn er für das "Fach", in dem er diese Erkenntnisweisen anwendet, zu fachspezifischen Aussagen kommen will, fehlen noch. Da diese Erkenntnisweisen für die einzelnen Wissenschaften grundlegend sind, können sie von den Didaktikern nicht (mehr) beliebig entworfen oder verändert werden. Sie sind vielmehr in den Wissenschaften "vorgezeichnet". In dem Bereich der Didaktiken der Sozialkunde, Geographie und Geschichte - einschließlich ihrer Bezugsdisziplinen - haben wir es vorwiegend mit vier unterscheidbaren Erkenntnisweisen zu tun, die unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten bieten:

  • die historisch-hermeneutische Verfahrensweise,
  • die kritisch-dialektische Verfahrensweise,
  • die empirisch-analytische Verfahrensweise,
  • die quantitativ-statistische Verfahrensweise.

Wenn durch die Unmöglichkeit einer Universalmethode die Integration nicht gerade erleichtert wird, so bieten die unterschiedlichen Verfahrensweisen doch die Grundlage für weitere Überlegungen. Auf dem Hintergrund dieser gegenstandskonstitutiven Verfahrens- und Erkenntnisweisen lassen sich m. E. weiterführende Aussagen über Kooperation, Integration und Eigenständigkeit der Unterrichtsfächer treffen. Geht man in der Analyse der Kooperations-Integrations-Problematik auf die fach(bereichs)spezifischen Erkenntnisweisen als Arten wissenschaftlichen Arbeitens zurück, so stellt sich die Frage der Zusammenarbeit der Unterrichtsfächer anders dar, als sie bisher diskutiert wurde. Die isolierenden Fächergrenzen sind nämlich in einer gewissen Weise bereits durchbrochen - und zwar durch die Erkenntnisweisen, "die sich zwar weitgehend, aber nicht vollständig mit Fächerbereichen im institutionellen Sinne decken bzw. zu decken brauchen" (17). Diese Erkenntnisweisen finden wir nur schwerpunktmäßig in den einzelnen Disziplinen. Selbst die einzelnen akademischen Schulen und Forschungsrichtungen innerhalb einer Disziplin bedienen sich unterschiedlicher Erkenntnisweisen, so daß die Verwandtschaft zu einem Nachbarfach der Disziplin oft eher erkennbar ist als zu einer anderen akademischen Schule innerhalb der eigenen Disziplin. [/S. 353:]

 

1.3 Konstitutionstheoretische Ebene

Die in einem Integrationsprozeß nicht einschmelzbaren Elemente sind die wissenschaftlichen Frageweisen, durch die sich die Wissenschaften erst konstituieren. Fächer konstituieren sich durch eine bestimmte Weise des Fragens und der daraus folgenden Art des Nachdenkens. Fächer sind folglich Denkweisen. Die jeweils spezifischen Frageweisen sind es, die die Eigen-Art der Wissenschaftsdisziplinen ausmachen. Wenn die Wissenschaften sich nicht durch die Ausrichtung auf separate Gegenstände konstituieren, sondern durch die Frageweisen, müssen sie sich mittels dieser Frageweisen ihren Gegenstand als Objekt möglicher Erkenntnis begrifflich erzeugen. Der Objektbereich des Fragens und Forschens wird im wesentlichen durch die Frageweise konstruktiv hergestellt (18). Erkenntnisgegenstände der Wissenschaft, die durch die "kategoriale Formung der Gegenstandsbereiche" (19) entstehen, sind somit nicht primär vorgegeben, sondern erst sekundär durch Wissenschaft konstituiert (20). Von den jeweiligen spezifischen konstitutiven Fragestellungen ausgehend, werden im Forschungsprozeß in empirischer und logischer Analyse systematische Aussagen über Zusammenhänge von Bereichen der Wirklichkeit oder systematische Aussagen über das System der Aussagen selbst gefunden (Disziplin und Metadisziplin). "Fächer" sind also "die verschiedenen objektiv möglichen und üblichen Weisen, die Welt zu begreifen und deren Ergebnisse" zu verstehen (21). Wirklichkeit wird auf eine spezifische Art erfaßt und denkend geordnet (22). Diese Definition von Fach macht keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Schul-Fach und Wissenschafts-Fach. Sie geht vielmehr davon aus, daß die Denkweisen in beiden Bereichen prinzipiell richtungsgleich und in ihrer Spezifik identisch sind. Forschungslogik und Unterrichtslogik werden dadurch aber nicht gleichgesetzt. Die Logik der Forschung folgt, wenn sie einmal von gesellschaftlich-praktischen Problemen ausgegangen ist, auch wissenschaftsimmanenter Gesetzlichkeit. Sie erbringt Ergebnisse des Faches, die von der Didaktik daraufhin befragt werden müssen, ob sie als Unterrichtsgegen[/S. 354:]stände geeignet sind, Wirklichkeit - und das heißt in diesem Falle: die Gegenwart und absehbare Zukunft des Schülers innerhalb einer historisch-gesellschaftlichen Konstellation - durch bestimmte Denkweisen zu begreifen und denkend zu ordnen (23). Fachwissenschaft ist damit ein "zumindest prinzipiell richtungsgleiches Verfolgen der auch im vorwissenschaftlichen Streben ... wirksamen Fragen" (24). Wenn aus praktischem Bedürfnis sich spezifische Fragen herausgebildet haben, die mit rational gesicherten und verfeinerten Methoden in den Fachwissenschaften fortgesetzt werden, kann ein Verzicht auf diese Betrachtungsweisen nur durch einen Verzicht auf bestimmte gesellschaftlich-praktische Erfahrung erkauft werden. Aus dem erkenntnistheoretischen Primat der Frageweisen folgt, daß sie sich nicht mit beliebigen Methoden verbinden lassen. Erkenntnismethoden (Verfahrensweisen und Forschungstechniken) müssen vielmehr mit den Frageweisen kompatibel sein, denn der Gegenstand wird nicht nur durch die Frageweise konstituiert, sondern er wird auch durch die Erkenntnismethoden mitkonstituiert. Verfahrensweisen und Untersuchungstechniken, derer sich die Erkenntnisweisen bedienen müssen, schlagen auf die Frageweise zurück und können, falls dieser Zusammenhang vernachlässigt wird, eine ganz andere als durch diese Frage angestrebte Aussageintention erzeugen.

 
© Copyright 2016 by Sowi-Online e.V.. All Rights Reserved.
  • Impressum
  • Datenschutz
  • Kontakt

Quell-URL (modified on 14/01/2013 - 15:15): https://sowi-online.de/node/731