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Startseite > Historische und politische Bildung > Beiträge 1970-1979 > Jeismann, Karl-Ernst; Kosthorst, Erich (1979): Geschichte und Gesellschaftslehre. Die Stellung der Geschichte in den Rahmenrichtlinien für die Sekundarstufe I in Hessen und den Rahmenlehrplänen für die Gesamtschulen in Nordrhein Westfalen. Eine Kritik > IV. Der unterrichtspraktische Teil. Schwerpunkt Geschichte

IV. Der unterrichtspraktische Teil. Schwerpunkt Geschichte

Im folgenden sollen zunächst einige Bemerkungen zu der Aufbereitung historischen Materials in den hessischen Richtlinien gemacht werden, die sich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit auf die Lernfelder I, III und IV beziehen. Im Lernfeld II - Wirtschaft - liegt der stärkste historische Anspruch der Richtlinien. Deshalb wird an diesem Lernfeld in einem zweiten Abschnitt noch einmal ein Vergleich der hessischen Richtlinien mit den NW-Rahmenplänen skizziert. [/S. 55:]

 

1. Zu den Lernfeldern Sozialisation (I), Öffentliche Aufgaben (III) und Intergesellschaftliche Konflikte (IV) in den hessischen Rahmenrichtlinien

Es ist den Verfassern wohl bewusst, dass Erziehung und Schule nur aus dem Kontext der gesellschaftlichen Gesamtverhältnisse verstehbar sind. Wenn dennoch unter dem Lernziel der Einsicht in die Veränderbarkeit heutiger Sozialisationsformen die Erziehung für sich thematisiert wird - und zwar in kleinen Querschnitten von der griechischen Antike bis ins 19. Jahrhundert -, so geschieht das, was im grundsätzlichen Teil abgelehnt wird: eine Isolierung von nur noch als kurios erscheinenden vergangenen Erziehungsformen. Zwar soll - das wird sogar durch eine Graphik (H. S. 29) verdeutlicht - irgendwann in den beiden Schuljahren 5/6 durch Aufarbeitung der anderen Lernfelder doch ein Gesamtzusammenhang hergestellt werden: aber das Auseinanderreißen des Themas "antike Gesellschaftsformen" lässt genau das nicht zu, was die Verfasser als vielschichtige historische Analyse fordern (17). Es gilt für dieses Vorgehen das gleiche, was sie dem chronologischen Durchgang vorwerfen: der Stoff, den man später braucht, ist längst vergessen (H. S. 22).

Dieser Einwand gilt nun nicht etwa nur für dieses Beispiel; er trifft die Anlage des Unterrichts überhaupt. Sie verhindert eine Gesamtanalyse und erschwert gerade den wichtigsten Lerneffekt des Geschichtsunterrichts: die Erkenntnis der Interdependenz von politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen Faktoren. Die vorweg entschiedene Vierteilung der Aspekte lässt das eigentliche Lernpotential der Geschichte nicht oder nur sehr gebrochen zur Geltung kommen. Das im allgemeinen Teil proklamierte Strukturprinzip als Kern von Gegenwartsbezug wird damit wieder in Frage gestellt, um so mehr, als es ausdrücklich heißt, dass die Beispiele nicht in den Zusammenhang ihrer Zeit gerückt werden sollen (H. S. 61 f.). Damit wird Geschichte zum großen Raritätenkasten; weder Struktur noch Prozess werden erfahrbar. Das wird im vierten Lernfeld am krassesten deutlich: dort ist z. B. unter dem Aspekt "Krieg" nur noch abrufbares [/S. 56:] Beispielmaterial aufgeführt. Die großen Revolutionen sind nur noch "Beispiele", die sich "anbieten", die Rolle des Militärs zu erkennen (H. S. 297).

Dieser erste grundsätzliche Einwand wird noch verstärkt durch die Diktatur der Lernziele, die hier nicht in Wechselwirkung mit dem historischen Potential und seiner Aussagekraft einerseits, mit den Methoden rationaler Befragung des Materials andererseits entwickelt werden, sondern die vorweg verordnet sind. Auf diese Weise ist "lernzielorientierter Unterricht" denaturiert.

Es ist schlechterdings nicht einzusehen, warum die hier vorgelegten Konstruktionen einem Geschichtsunterricht vorzuziehen sein sollen, der in sozial- und strukturgeschichtlichem Zugriff z. B. "die Ablösung der ersten Demokratie in Deutschland durch den Faschismus" (H. S. 237) (18) als ein Thema aufgreift und es in seinen wichtigsten Aspekten zusammenhängend erarbeitet: Dann erst gewinnen z. B. besondere Erziehungsformen in Bünden und Schule, die wirtschaftlichen Verhältnisse, die politischen Institutionen und die politische Psychologie der verschiedenen Gruppen sowie die institutionellen Regelungen miteinander Aussagekraft für die Erkenntnis eines Prozesses regressiver Veränderung von Gesellschaft. Nur in diesem Kontext sind die Problematisierungen möglich, von denen man sich den Transfer historischer Einsichten in politische Reflexionsfähigkeit erhoffen kann.

Zerschlagung der bedeutenden historischen Themen und der sie konstituierenden Zusammenhänge in Manipelformation öffnet die Tür zur Manipulation. Man könnte einwenden, dass dies durchaus nicht der Fall sein müsste; dass eine Unterrichtsorganisation möglich sei, die doch durch Zusammenschiebung der historischen Themenstichworte zur Strukturanalyse vorstößt. Wenn das so ist, dann liegt es jedenfalls nicht im Ansatz der Richtlinien. Dass es nicht so sein soll, zeigt die sorgfältige Aufsplitterung von Aspekten; die gelegentlichen Hinweise auf Rückgriffe haben Alibifunktion. Dass es nicht so sein kann, zeigen nun die zitierten Materialien, die "als Grundlage für die Arbeit der Gruppen" gedacht sind (H. S. 5). [/S. 57:]

Damit ist ein Punkt berührt, der in doppelter Weise die Diskrepanz zwischen Grundsatzformulierungen und praktischer Ausführung betrifft. Richtlinien müssen ja nicht Literaturhinweise, Verweise auf Arbeitsmaterialien geben. Wenn sie es trotzdem tun, dann zeigen diese Hinweise besser als die Erörterungen über Grundlegung oder Ausführung des Unterrichts, welcher Bewusstseinsstand und welche Tendenz eigentlich hinter solchen Richtlinien stehen. Die Hinweise zu den einzelnen Themenstichworten sind ein Sammelsurium von Titeln, die, ungenau und unterschiedlich zitiert, Konzeptlosigkeit und mangelnden Informationsstand offenbaren; für wissenschaftlich ausgebildete Lehrer sind sie, an so anspruchsvoller Stelle veröffentlicht, ein Skandalon. Nicht nur fehlt die wichtigste wissenschaftliche Literatur zu den Abschnitten; es wird am keiner Stelle der Angaben zu geschichtlichen Themen die Literatur für die unterschiedlichen Zwecke (Lehrervorbereitung, Schülerreferate usw.) gewichtet. Wenn auf dieser Basis - die die Verfasser ausdrücklich als ihren Informationsstand bezeichnen (H. S. 5) - Unterricht gegeben wird, kann von "vielschichtiger historischer Analyse", wie sie gefordert wird, nicht die Rede sein. Wir ersparen uns, die Defizite anzuführen. Nur als Beispiel sei hingewiesen auf die Materialien zum Themenstichwort "Schule als Institution in historischer Sicht". Die Verfasser kommen zu der seltsamen Bemerkung, dass "konkrete Materialhinweise schwer zugänglich" seien. Nur Bungerts Buch, "Die Odyssee der Lehrerschaft" fällt ihnen neben Wilhelm Buschs "Lehrer Lämpel" ein (H. S. 67). Nun ist offenkundig, dass gerade zur Erziehungsgeschichte eine Vielzahl von leicht zugänglichen Quellensammlungen und neuerer Literatur vorliegt (19). Man darf gespannt sein, welches Material in "Auszügen" vorgelegt werden wird.

Dies ist ein weiteres Zeichen der Wissenschaftsfremdheit und der Unterordnung historischen Materials unter politisch fixierte Ziele. Mit gleichem Ergebnis kann man alle Hinweise zu Themen durchgehen - und es ist schon fast zu harmlos anzunehmen, dass sich in den Materialangaben wirklich der Informationsstand der Bearbeiter spiegelt (H. S. 5). Es ist nicht auszudenken, welche Manipulationsmöglichkei- [/S. 58:] ten über festgelegte Lernziele und selektierte Information, durch Lieferung von Unterrichtsmaterial und durch wissenschaftlich nicht mehr reflektierte, trotz verhüllender Sprache sehr massive "Parteilichkeit" in Richtlinienformulierungen sich anbieten, wenn das wissenschaftliche Studium der Lehrer allgemein auf sechs Semester beschränkt werden würde.

Die aufgeführten Materialien zeigen aber noch ein anderes Charakteristikum, das den Widerspruch zwischen allgemeinen Ausführungen und unterrichtspraktischem Teil deutlich macht. Als Materialien werden z. B. Lykurg für die Erziehung in Sparta, Parzival für ritterliche Erziehung angegeben und Heinrich Manns Roman "Der Untertan" (nach der Häufigkeit der Zitierung wohl die Standardlektüre der Verfasser über das 2. Kaiserreich) für bürgerliche Erziehung. Da man nun nicht annehmen kann, dass in den Klassen 5/6 Plutarchs Kunstform, seine "Interessen" und sein Aussagewille über eine Zeit, die für ihn mehr als ein halbes Jahrtausend zurücklag, erarbeitet werden kann und soll, bleibt der Schluss, dass die Verfasser dem "objektivistischen Irrtum" erliegen und die jeweiligen Bedingungen der Aussage, sobald sie nicht mehr allgemein reden können, vergessen. Es soll doch wohl die "Erziehung" Dietrich Heßlings, wie sie im Roman H. Manns "Der Untertan" beschrieben wird, als Material für die Wirklichkeit ausgegeben werden - sonst wäre ja der Hinweis auf das erste Kapitel unsinnig. Diese bewusst und mit bestimmter politischer Absicht kunstvoll stilisierte Biographie naiv als Quelle zu nehmen für die Erziehung am Ende der Bismarckzeit - das zeugt nicht von einem reflektierten Geschichtsverständnis. Nach dem eigenen Anspruch müssten die Schüler in der Jahrgangsstufe 5/6 diesen Roman in seiner politischen Tendenz im Jahre 1918 vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des monarchischen Staates als eine politische Satire und Kampfschrift begreifen; selbst hochfliegender pädagogischer Optimismus wird ihnen das nicht zutrauen. Es ist nun zu ahnen, warum man auf die didaktische Aufbereitung fachwissenschaftlicher Methoden verzichtet: man kennt sie entweder nicht oder will sie nicht verbreiten, weil es dann nicht mehr möglich ist, Dichtung [/S. 59:] für Wahrheit auszugeben, anders ausgedrückt: vorgesetzte Lernziele zu erreichen. So fällt man hinter die vergangenen zweihundert Jahre der Wissenschaftsgeschichte zurück. Aber es war ja eine "politische" Entscheidung, Fachverbände und Hochschulen nicht zu beteiligen (20).

Wie eine solche Entscheidung sich in Unterrichtssteuerung umsetzen kann, die den Rückbezug auf die Fachwissenschaft durchkreuzt, soll durch einen letzten Hinweis noch einmal verdeutlicht werden. Die Materialhinweise zum Themenstichwort "Militär und Innenpolitik" wissen an Literatur außer der von Wehler herausgegebenen Aufsatzsammlung Kehrs nichts anzugeben, soweit es die innenpolitische Rolle des Militärs in Deutschland vor 1914 betrifft. Aber den bekannten Passus aus der Rede Oldenburg-Januschaus, den weiß man wohl und zitiert ihn wörtlich - das einzige Quellenzitat überhaupt -, bringt ihn als Unterrichtsmaterial handlich an den Lehrer heran: ohne Zitatnachweis (man könnte ja weiterlesen!), ohne Hinweis auf die kritische Reflexion dieser extremen Aussage im Verfassungskontext. Sie wird zum repräsentativen Zeugnis der inneren Struktur des zweiten Reiches verfälscht.

So sieht der Beitrag der Geschichte zum politischen Ziel dieses didaktischen Entwurfs aus, wenn man auf die praktischen Anweisungen sieht. Allerdings - das alles wird ja nur zur "Diskussion" gestellt (H. S. 298). Wie die Rahmenlehrpläne in NW ihr Muster in dieser Hinsicht noch übertreffen, soll am Lernfeld II gezeigt werden.

 

2. Das Lernfeld Wirtschaft (II) in den hessischen Rahmenrichtlinien und seine "Modifikation" im Arbeitsbereich Wirtschaft der NW-Rahmenlehrpläne

a. Die Funktion geschichtlicher Themen

Da die moderne Industriegesellschaft die geschichtlichste von allen Gesellschaften ist, kann sie nicht ohne geschichtliche Strukturvergleiche und ohne Hilfe langfristiger Konstellationsanalysen begriffen werden; in soziologischer Beschreibung allein ist sie keineswegs erfassbar. Daraus folgt, [/S. 60:] dass die Befähigung zur Beteiligung an der permanenten Aufgabe der Humanisierung dieser Industriegesellschaft ohne ein historisch fundiertes Problembewusstsein nicht möglich ist.

Beim Versuch der didaktischen Strukturierung des Arbeitsbereichs Wirtschaft haben denn auch die Rahmenrichtlinien (Hessen) und Rahmenlehrpläne (NW) geschichtliche Teilstücke eingebaut - so etwa: "Stände im Mittelalter" (H. S. 150, 5./6. Jahrgangsstufe), "Klassen und Schichten im 19. Jahrhundert" (H. S. 150, 5./6. JgSt.) "Grundherrschaft" (H. S. 157 f., 7./8. JgSt.), "Entwicklung des städtischen Gewerbes" (H. S. 159 f., 7./8. JgSt.), "Industrielle Revolution" (H. S. 162-165, 7./8. JgSt.), "Aufbauphase der Wirtschaft nach 1945" (H. S. 181 f., 9./10. JgSt.). Die NW-Rahmenlehrpläne enthalten in der Übersicht über die Jahrgänge 5-10 (S. 92-94) vergleichbare Themenstichworte; eine Ausfaltung in "Lernzielzusammenhänge" liegt vorerst nur für den 5./6. Jg. vor (NW-Plan, S. 95-103).

Bei näherem Zusehen zeigt sich freilich, dass die Lernziele im vorhinein geschichtsfern festgelegt wurden. Erst nachträglich wird dann das jeweils als passend erscheinende historische Material abgerufen, so daß es nur eine Demonstrations-, aber keine Korrektivfunktion mehr erfüllt. Im Grunde stehen also auch hier wieder alle Ergebnisse des Unterrichts bereits von vornherein fest, die Lernziele sind die Leitschienen eines "statischen" Lernablaufs. Um einen dynamischen Lernprozess in Gang zu bringen, bedürfte es einer historisch-politischen Didaktik, die sich in einer gemeinsamen Anstrengung von Lehrenden und Lernenden um die Aufhellung von Fragen bemüht, so dass Resultate nicht durch Lernzieldiktate, sondern durch Verschränkung soziologischer und historischer Arbeitsmethoden zustande kommen. "Aspekte", die nichts anderes sind als zu politisch-didaktischen Zwecken vorfabrizierte Sehschlitze, eröffnen keinen Blick auf den Horizont der Geschichte - sie bringen nur noch isolierte, unverbindliche und unverbindbare Stücke zu Gesicht. [/S. 61:]

b. Lernziele und "Lernziele"

Über diese allgemeinen Feststellungen hinaus ist nunmehr nach der Realisierung des obersten Lernziels im konkreten Lernfeld/Arbeitsbereich Wirtschaft zu fragen. Der hessische Plan bemüht sich auch in diesem Fall um eine differenziertere Bestandsaufnahme der komplexen Lernzielzusammenhänge. Mit Recht wird bei der Problemausfaltung die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland ausführlich erörtert. Ihre kritische Betrachtung - hier "übrigens einmal in enger Verschränkung mit der historischen Genese" - schließt wesentliche Kategorien auf, Reformen und Alternativen werden anvisiert, ohne dass den Schülern etwa eine "Systemüberwindung" suggeriert würde - das Leitziel der Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung wird hier ernstgenommen.

Ganz anders verhält es sich bei der Planungsgruppe NW. Hier wird massiv indoktriniert. Ein milderes Urteil würde den Sachverhalt beschönigen. An dieser Stelle kann man auch nicht mehr von einem von Hessen nach NW laufenden Erosionsprozess sprechen, hier ist das hessische Modell schlechthin verfälscht worden. Die behauptete "Übereinstimmung mit den Grundzügen der Vorlage", die Behauptung einer lediglich "sektoriell bzw. punktuell modifizierte(n) Fassung" (NW, Vorbemerkungen, S. III) kann danach nicht mehr aufrechterhalten werden.

Während die hessischen Planer die Marktwirtschaft durchaus ernsthaft zur Debatte stellen, haben die Verfasser der NW-Pläne sie bereits - sozial hin, sozial her - in aller Stille hingerichtet und beerdigt. Nicht dass sie keine Freunde dieser Wirtschaftsverfassung sind, ist ihnen vorzuwerfen, sondern dass sie der Axiomatik des Lernbereichs G/P entgegen dem Gegner - um im Bilde zu bleiben - nicht öffentlich (d. h. im Unterricht) einen fairen Prozess machen, wozu außer Anklägern auch Verteidiger gehören. Mit der Verfahrensweise der NW-Rahmenpläne ist eine Grenze überschritten, jenseits derer eine wissenschaftliche Auseinandersetzung kaum noch möglich ist.

In den hessischen Rahmenrichtlinien wird im Lernfeld [/S. 62:] Wirtschaft bei der Beschreibung des "Lernzielzusammenhangs 1: Voraussetzungen und Bedingungen der Produktion" die Frage der Bedürfnisbefriedigung und im Zusammenhang damit die der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel erörtert und folgende Aufgabe gestellt: "Bezogen auf die Wirtschaftsverfassung der BRD müsste dabei auch geprüft werden, inwieweit die soziale Marktwirtschaft in Theorie und Praxis gewährleistet, dass die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse (z. B. im Infrastrukturbereich; Schulbau, Krankenhäuser, Kindergärten; Arbeitszeitverkürzung) zum Maßstab von Produktions- und Investitionsentscheidungen wird" (H. S. 134).

Dieser Satz wurde in den Rahmenlehrplänen von NW wie folgt geändert: "Bezogen auf die Wirtschaftsverfassung der BRD müsste dabei auch geprüft werden, inwieweit das Prinzip der Gewinnoptimierung in einer erwerbswirtschaftlich bestimmten Wirtschaftsordnung erschwert bzw. verhindert, dass die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse (z. B. Schulbau, Krankenhäuser, Kindergärten) zum [als?] Maßstab bei Produktions- und Investitionsentscheidungen im notwendigen Umfange berücksichtigt wird (LZ. 1-14)" (NW. S. 81).

Die hier vorgenommene Umpolung bedarf keines weiteren Kommentars. Ihr Sinn ist eindeutig. Folgerichtig ist dann auch die völlige Eliminierung des im Hessen-Plan ausführlich erörterten Spannungsfeldes "Soziale Marktwirtschaft". Denn auf die Konkretisierung der oben geforderten "Prüfung" käme es nun an - gemäß der Selbstbestimmungsnorm, gemäß dem Gebot der Wissenschaftlichkeit, gemäß der Fundamentalforderung jeder rationalen Didaktik. Anstelle der in den hessischen Richtlinien auf zwei Druckseiten skizzierten historischen und ökonomischen Probleme der Marktwirtschaft (S. 136 und 137) enthält der NW-Rahmenplan nur noch acht Zeilen darüber, in denen der konkrete Gegenstand in leeren Redensarten verflüchtigt ist. Warum diese merkwürdige Zurückhaltung? Es gibt nur zwei mögliche Antworten: entweder weil die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik nicht einmal mehr einer Debatte für wertgehalten wird oder aus Tarnungsgründen. [/S. 63:]

Die Prämissen und die Konsequenzen der Umpolung werden in Einschüben versteckt, die sich erst bei einem sorgfältigen Vergleich der Lehrpläne erkennen lassen. Dafür einige hervorstechende Beispiele:

Die hessischen Rahmenrichtlinien formulieren unter der Überschrift "Konflikte und Krisen" (Lernzielzusammenhang 3): "Die Beschreibung wirtschaftlicher Abläufe wird erst lernrelevant, wenn die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen miteinbezogen werden, durch welche die jetzige und spätere Stellung des Schülers im Wirtschaftsprozess bestimmt wird (Arbeit - Konsum - Freizeit). Da dieser Zusammenhang auf ein zentrales Moment gesellschaftlicher Interessenauseinandersetzung verweist, müssen Erklärungsmodelle für wirtschaftliche Vorgänge daraufhin untersucht werden, welche Vorstellungen sie über deren Voraussetzungen, Abläufe und Auswirkungen vermitteln" (H. S. 130).

Dieser Absatz ist in den NW-Plänen durch mehrere Einschübe (hier zwecks Kenntlichmachung kursiv gesetzt) in einen anderen Aggregatzustand gebracht worden. Der NW-Text lautet: "Die Beschreibung wirtschaftlicher Abläufe und ihrer widersprüchlichen Entwicklung wird erst lernrelevant, wenn... Da dieser Zusammenhang auf ein zentrales Moment gesellschaftlicher Interessenauseinandersetzung (Kapital - Arbeit) verweist, müssen die Erklärungsmodelle, die in diesem Bereich auftreten, auf ihren Rechtfertigungscharakter hin untersucht werden" (NW. S. 82).

Im Anschluss an den oben zitierten Hessen-Text werden dort Untersuchungsaufgaben formuliert, u. a. sollen untersucht werden: "monokausale Erklärungen sozioökonomischer Zusammenhänge (z. B. Schuld an inflationären Tendenzen ist allein die Währungspolitik der Regierung, Lohn-Preisspirale...)." Die NW-Planer formulieren die Untersuchungsaufgabe in folgender Weise um: "Erklärungsversuche; die sozioökonomische Zusammenhänge in voneinander isolierte Teilbereiche auflösen", um dann in einer in den hessischen Richtlinien nicht enthaltenen längeren Darstellung die Wettbewerbsthese ad absurdum zu führen und den Manipulationscharakter von Erklärungen aufzuweisen, durch [/S. 64:] welche "der Gegensatz zwischen Unternehmerinteressen und den Interessen der Arbeitnehmer ... verdeckt" wird (NW. S. 82 und S. 83).

Eingeschoben in die hessische Vorlage haben die NW-Planer weiterhin die folgenden Lernziele 5 und 6: "5. lernen, dass Geld und Sachvermögen nur durch Arbeit im Produktionsprozess entsteht und sich vermehrt; 6. lernen, dass ein untrennbarer Zusammenhang besteht zwischen den Formen der Produktion und der Verteilung bzw. Aneignung der wirtschaftlichen Güter."

Neben den Einschüben finden sich im NW-Plan charakteristische Auslassungen wie z. B. folgende: Das erste Lernziel in Hessen lautet: "erkennen, dass die Grundstrukturen gesellschaftlicher Wirklichkeit ökonomisch mitbedingt sind (auch unter Berücksichtigung der Mobilität sozialer Gruppen)" (H. S. 134). Im NW-Plan heißt es stattdessen: "erkennen, dass . . . ökonomisch bedingt sind" (NW. S. 85). Mit einem Federstrich ist die in Hessen vertretene Interdependenz der gesellschaftlichen Bereiche aus der Welt geschafft und an ihrer Stelle die Priorität der ökonomischen Faktoren gesetzt worden.

Die hessischen Richtlinien wollen im Lernzielzusammenhang 3 u. a. ausdrücklich untersucht wissen "die Behauptung, bei einer Sozialisierung der Verfügungsgewalt würde die Wirtschaft krisenfrei funktionieren" (H. S. 139). Diese Aufgabe fehlt im NW-Plan ebenso wie der im Lernfeld 3 des Hessen-Plans (Öffentliche Aufgaben) skizzierte kritische Ansatz, der nicht nur die gesellschaftlichen Binnenverhältnisse (BRD), sondern auch die gesellschaftlichen Gegenbilder unter die Lupe genommen haben und den Schülern bewusst machen will, was es bedeutet, "wenn in einer Gesellschaft die für die Schüler meist selbstverständlichen institutionellen und verfassungsrechtlichen Sicherungen zur Wahrnehmung unterschiedlicher Interessen fehlen (Pressefreiheit; Mehrparteiensystem; Gewerkschaften; unabhängige Rechtsprechung u. a.)" (H. S. 196).

Ausgelassen sind in den NW-Rahmenplänen. schließlich die hessischen Lernziele 17 und 18:

"17. lernen, die wirtschaftliche Entwicklung der BRD im [/S. 65:] Zusammenhang mit den binnen- und außenwirtschaftlichen Bedingungen nach 1945 zu sehen,

18. die besonderen Bedingungen der Aufbauphase unter Berücksichtigung der politischen Verhältnisse entwickeln zu können" (H. S. 138).

Die Aussparung dieser Lernziele in den NW-Plänen ist gemäß der unverkennbaren dogmatischen Intention logisch durchaus folgerichtig: wo das Urteil für Lehrer und Schüler von vornherein festzustehen hat, da bedarf es keiner differenzierten Erörterung des historischen Kontextes der sozialen Marktwirtschaft mehr; Geschichte als potentielle Ideologiekritik ist unerwünscht.

Die "Soziale Marktwirtschaft" ist sicherlich nicht sakrosankt, sie muss am Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes gemessen werden. Man kann als Bürger dieses Staates Verfechter eines demokratischen Sozialismus sein und braucht als Lehrer keinen Hehl aus einer solchen Überzeugung zu machen. Unerträglich ist aber jede Art von Indoktrinierung, erst recht einer unterschwellig pädagogischen, wie sie der NW-Rahmenlehrplan Gesellschaft/Politik vornimmt.

Was wollen die NW-Planer an die Stelle der schlechten Wirklichkeit setzen? Wie sieht die bessere Gesellschaft, wie sieht der bessere Staat aus? Darüber ist nichts Genaues ausgesagt. Manche Indizien sprechen dafür, dass die NW-Lehrplaner eine klassen- und schichtenlose, konfliktfreie Gruppengesellschaft als Ziel im Auge haben, in der partikulare Interessenvertretungen nicht mehr möglich und notwendig sind. Mit dieser vagen Alternative stehen die NW-Rahmenpläne in der Linie einer traditionellen politischen Pädagogik in Deutschland, die in der Sehnsucht nach Harmonie der Idee der "gemeinschaftlichen Vergesellschaftung" verfallen bleibt (21) - mit einem spezifischen Qualitätsunterschied: sie ist anderswo bereits klarer und deutlicher vertreten worden. Wohin diese irrationale Doktrin der "Systemüberwindung" uns führen könnte, haben die Verfasser der Lehrpläne geradezu klassisch vorgeführt: zur Unterdrückung anderer Anschauungen, zur pädagogischen Annullierung des Rechts auf Autonomie. [/S. 66:]

 
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Quell-URL (modified on 14/01/2013 - 15:15): https://sowi-online.de/node/725