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Verband Bildung und Erziehung/ Ludwig Eckinger: Bildungschancen - Berufschancen. Die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen und der Reformbedarf in der Berufsbildung.

 

1. Schlüsselqualifikationen in der Bildungsdebatte

"Schlüsselqualifikation" gehört zu den zentralen Schlagworten der bildungspolitischen Diskussion der letzten Jahre. Das "Was", "Wie" und "Wo" der Vermittlung von "Schlüsselqualifikationen" bestimmt die Auseinandersetzung um ein modernes, zukunftssicherndes Bildungsverständnis am Beginn des neuen Jahrtausends. Ausgehend von "Schlüsselproblemen" als zentrale Herausforderungen für den Fortbestand unserer Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur geht es um die Bestimmung essenzieller Fähigkeiten, über die Heranwachsende künftig verfügen müssen, um Problemlösungen in ihrer natürlichen und sozialen Umwelt und für sich selbst zu finden.

Besonders unter pädagogisch-didaktischen Gesichtspunkten lassen die Auseinandersetzung um den Wert und die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen bisher die notwendige Konkretisierung vermissen. Es ist noch kaum gelungen, zu einer Präzisierung und Umsetzung entsprechender Vorstellungen im Curriculum der Schulen zu kommen bzw. das Curriculum inhaltlich und strukturell so umzugestalten, dass die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen Inhalt und Ziel des Unterrichts sein kann.

Im Prinzip gilt diese Feststellung für alle Schularten und Schulstufen. Dies ist auch der Hintergrund für die seit längerem geführte breite Diskussion unter den zuständigen Fachministern der Länder über den künftigen Bildungskanon. Obwohl sich diese Debatte im Wesentlichen auf das Curriculum der Sekundarstufe II konzentriert - ausgehend von der Diskussion um die Dauer der Schulzeit -, wird sie sich unmittelbar auf Ziele und Inhalte der anderen Schulstufen auswirken (soweit das nicht bereits erfolgt ist).

Auch die von breiten Kreisen geforderte Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung findet in der Vermittlung von "Schlüsselqualifikationen" einen zentralen Anhaltspunkt, da es aus bildungstheoretischen und schulpolitischen Gründen immer weniger vertretbar erscheint, mit Blick auf die Lösung zentraler sozioökonomischer Fragen an einer künstlichen Trennung allgemeiner (und dann akademischer) und beruflicher Bildung festzuhalten. Die curricularen Grenzen dieser Bildungsbereiche sind ohnehin fließend geworden.

Zur Frage der Gleichwertigkeit hat sich der VBE bereits wiederholt geäußert und in seiner Position durch die Beratungsergebnisse der Kultusminister Bestätigung erfahren.

 

2. Schlüsselqualifikationen und Berufsbildung

Wenn auch das Thema "Schlüsselqualifikationen" unter generellen bildungspolitischen Gesichtspunkten diskutiert wird, so ist der Zuschnitt der Debatte in den einzelnen Schulbereichen sehr verschieden. Das gilt auch für den Sektor der Berufsbildung.

Mit "Schlüsselqualifikationen" sind vor allem "Qualifikationsbündel" gemeint, die neben der notwendigen Fachkompetenz einer Lösung beruflicher bzw. privater/ allgemeiner Problemlagen dienen sollen (wie Methodenkompetenz, Teamkompetenz, Kommunikationskompetenz etc.).

Die Forderung nach einer Ausrichtung der Curricula an der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen wird gerade auch von der Wirtschaft erhoben und gezielt auf die Berufsausbildung bezogen. Hintergrund dafür ist der beschleunigte Wandel in der Arbeitswelt und die unmittelbare Nähe beruflicher Bildung zu Betrieben der Wirtschaft bzw. die Ausrichtung beruflicher Ausbildung am wirtschaftlichen Bedarf. Die Orientierung dieses Bedarfs ist einem Wandel unterworfen, die Vermittlung von sozialen, kommunikativen und fachübergreifenden Kompetenzen nimmt heute einen gleichrangigen Wert neben der fachlichen Dimension der Berufsbildung ein.

Doch die Forderung nach geeigneter Berufsausbildung durch die Betriebe ist immer schwieriger zu erfüllen, weil die Diskrepanz zwischen den Anforderungen an Facharbeiter (niedergelegt in den Ausbildungsordnungen) und der Bereitschaft junger Menschen, diesen Anforderungen gerecht werden zu wollen, wächst. Es ist deshalb notwendig, mit Reformen im Bereich der Berufsbildung sowohl den Interessen und Neigungen der Heranwachsenden als auch den Erwartungen der Wirtschaft entgegenzukommen. Die Konzentration auf "Schlüsselqualifikationen" bietet dafür einen geeigneten Zugang, weil darin individuelle und kollektive Dimensionen der Daseinsvorsorge bzw. Zukunftsbewältigung enthalten sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein konkreter Lebensweltbezug für die Auszubildenden gegeben ist.

Allerdings müssen Reformen im Bereich der Berufsbildung durch geeignete Schritte im Sekundarbereich I des Schulwesens unterstützt werden.

 

3. Bedarf und Bedürfnisse - Elemente einer Berufsbildungsreform

Umfang und Inhalte der Berufsbildung

Die anstehende Reform im Bereich beruflicher Bildung muss auf Umfang und Inhalte des Curriculums zielen. Ein Wettlauf mit der technischen bzw. wirtschaftlichen Entwicklung in den Betrieben ist für die Berufsschule aussichtslos. Sie sollte sich deshalb auf die Vermittlung von Fachgrundlagen beschränken und in den Mittelpunkt ihrer Arbeit die Schaffung von Teamfähigkeit, fachübergreifendem Denken und Handeln sowie die Förderung kommunikativer Fähigkeiten legen. Die Heranwachsenden müssen befähigt werden, Lernprozesse selbst im Sinne selbsttätiger Wissensaneignung zu organisieren (und damit das Lernen zu lernen). So wird die Grundlage für künftige Fortbildungsphasen gelegt, ohne die kein Beruf mehr auskommen wird. Spezifische Ausbildungsinhalte (im Sinne eines spezifischen Berufswissens) müssen durch die Wirtschaft selbst anwendungsorientiert vermittelt werden. Berufliche Erstausbildung ist mit beruflicher Weiterbildung besser abzustimmen.

Differenzierung

Eine stärkere Differenzierung nach Neigung und Leistung wird auch im Bereich der Berufsbildung unausweichlich. Dazu ist es notwendig, die Lernformen in den Fachstufen zu überdenken und das spezifische Bildungsangebot auszubauen. So muss die Förderung besonderer Neigungen und Interessen auch in den Berufsschulen intensiviert werden, und der fremdsprachliche Unterricht sollte ausgebaut werden. Dadurch erfolgt eine Erweiterung der Durchlässigkeit, die zum Aufbau eines attraktiven und gleichwertigen Bildungsangebots mit der Möglichkeit des Hochschulzugangs dringend erforderlich ist. Eine Orientierung am gymnasialen Bildungsgang ist dabei allerdings zu vermeiden.

Für die Auszubildenden ist eine Stufenausbildung mit Teilabschlüssen und möglicher Weiterführung des Ausbildungsganges bis zum Facharbeiterniveau sinnvoll.

Für Ausbildungsabbrecher sind Zertifikate vorstellbar, um die Arbeitsmarktchancen der großen Zahl junger Menschen ohne Berufsabschluss zu verbessern.

Aufwertung schulischer Leistungen

Im Rahmen beruflicher Bildung im Dualen System müssen die an den Berufsschulen erbrachten Leistungen eine Aufwertung dadurch erfahren, dass das Zeugnis der Berufsschule als Teil der Abschlussprüfung gewertet wird. Die gegenwärtige Form der Kammerprüfung steht in krassem Gegensatz zu den Forderungen (u. a. der Wirtschaft) an die Berufsbildung, Kompetenzen im allgemein bildenden bzw. sozialen Bereich zu vermitteln. Es muss deshalb über neue Prüfungsformen nachgedacht werden, die auch in den Abschlüssen zu mehr Gleichwertigkeit der Ausbildungsinhalte und Qualifikationsanteile führen.

Lehr- und Lernstile

Das höhere "Einstiegsalter" der Auszubildenden, z. B. nach dem Abschluss der gymnasialen Oberstufe, muss sich künftig in den Lehr- und Lernformen der Berufsschule stärker niederschlagen. Der immer noch übliche autoritäre Lehrstil wird immer weniger partnerschaftlichen Formen des Lernens gerecht. Insbesondere die heterogene Zusammensetzung von Berufsschulklassen mit Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlicher Lernbiografie stellen Lehrerinnen und Lehrer ohne eine Veränderung des Lehr- und Lernbegriffs vor kaum lösbare Probleme. Die Herabsetzung der Klassengrößen unterstützt eine solche unterrichtsinterne Reform ebenso wie ein Ausbau von differenzierenden, vor allem leistungsdifferenzierenden Maßnahmen.

Innovationstransfer durch kontinuierliche Neueinstellungen

Der dynamische Wandel in Wirtschaft und Beruf durch neue Techniken und Technologien machen einen entsprechenden Innovationstransfer in die Berufsschulen auch dann notwendig, wenn sie selbst am Innovationswettlauf nicht teilnehmen. Verstärkte Neueinstellungen sind deshalb - aber auch wegen der aktuellen Altersstruktur und der zu erwartenden höheren Zahl von schulischen Vollzeitmaßnahmen - unabdingbar. Neue Impulse können durch junge Kolleginnen und Kollegen, die über ein aktuelles Wissen im methodisch-didaktischen Bereich verfügen, mit hoher Effektivität in den Unterrichtsalltag eingebracht werden. Auch die Berufsbildung benötigt deshalb einen Einstellungskorridor, der weitgehend unabhängig von dem Auf und Ab der Schülerzahlen offengehalten wird und dem Innovationstransfer Kontinuität gibt.

Kooperation

Schulen und Betriebe müssen regional/ lokal stärker zusammenarbeiten. Diese Forderung bezieht sich sowohl auf die Gewichtung der jeweiligen Ausbildungsinhalte als auch auf eine Abstimmung von Sach- und Fachthemen in der theoretischen und berufspraktischen Ausbildung.

Erweiterte Selbstverwaltung

Für berufsbildende Schulen ist eine Erweiterung ihrer Selbstverwaltung eine Voraussetzung für ein den regionalen Bedingungen angepasstes Bildungsangebot, erhöhte Effizienz und verbesserte Flexibilität. In engen Vorgaben des Lehrplans und einem starren Stundenraster sind fachübergreifende Formen des Unterrichts und eine Erweiterung des Projektangebots nur schwer oder gar nicht umsetzbar. Über einen Grundkanon der Stundentafel hinaus müssen Freiräume geschaffen werden, die Lehrern wie Schülern die Möglichkeit bieten, neue Lern- und Unterrichtsformen zu erproben.

Deputat

Die Veränderungen der schulischen Rahmenbedingungen führen auch in der Berufsbildung zu einer Erschwerung bzw. Verschärfung der Unterrichtssituation. Das Stundendeputat der Lehrerinnen und Lehrer muss diesen Veränderungen durch eine Minderung Rechnung tragen, wenn nicht - wie in anderen Schulen auch - erhebliche Leistungsverluste in Bildungsangebot und Unterrichtsversorgung in Kauf genommen werden sollen. Andernfalls müssen die fachlichen Einrichtungen der Berufsschulen durch zusätzliches Personal betreut und gewartet werden und Problemfälle unter den Schülern, die einer besonderen sozialpädagogischen Betreuung bedürfen, müssen durch entsprechende Experten übernommen werden.

Aus-, Fort- und Weiterbildung

Eine Verbesserung der Berufsausbildungsqualität lässt sich letztlich nur durch eine Neugestaltung der Berufsschullehrerausbildung an der Universität erreichen. Aktuelle Forderungen nach Intensivierung sozialen Lernens oder nach fächerübergreifenden Lehr- und Lernformen bedingen allein schon inhaltliche und strukturelle Reformen der Ausbildung. Erforderlich ist ein erziehungswissenschaftliches Grundstudium für alle Studiengänge, auf dem die Fachstudien aufbauen. Damit werden Veränderungen im beruflichen Selbstverständnis der Lehrkräfte eingeleitet, die den gewandelten Anforderungen an die Berufsschulen und der Förderung problemlösenden und kreativen Denkens und Handelns weit eher entsprechen als traditionelle Ausbildungspläne. Auch Berufsschullehrerinnen und -lehrer sind zuallererst Pädagogen, auch für sie bieten praktische Psychologie und neue kommunikative Techniken Wege der Erweiterung pädagogisch-didaktischer Kompetenzen und beruflichen Selbstvertrauens.

Im Rahmen der Fort- und Weiterbildung müssen mehr Möglichkeiten für Betriebspraktika geschaffen werden, um die aktuelle Entwicklung in Wirtschaft und Betrieben vor Ort erfahren zu können. Nur wer die Berufswirklichkeit außerhalb der Schule kennt, wird pädagogisch sinnvoll auf sie vorbereiten und sie für die eigene berufliche Entwicklung gewinnbringend nutzen können. Dies bedeutet auch eine Auseinandersetzung mit modernen Formen des Managements, um neue Ideen bei der Lehrplanumsetzung, der Unterrichtsorganisation und in Führungsfragen zu erhalten. Die geforderte Vermittlung von Schlüsselqualifikationen lässt sich nur durch eine intensive, didaktische Fortbildung erreichen. Neue Technologien müssen durch Institutionen zielgruppengerecht aufbereitet werden und in regionaler Lehrerfortbildung möglichst schnell und effizient vermittelbar sein. Auch durch die Einführung neuer Berufsbilder und differenzierter Ausbildungsrichtungen entsteht erhöhter Fortbildungsbedarf.

Essentials

  • Verstärkte Vermittlung von Schlüsselqualifikationen
  • Bessere Abstimmung zwischen beruflicher Erstausbildung und beruflicher Weiterbildung
  • Ausbau des fremdsprachlichen Unterrichtes
  • Konstruktion einer Stufenausbildung mit Teilabschlüssen und Weiterführungsmöglichkeiten
  • Zertifikate für Ausbildungsabbrecher
  • Anerkennung der schulischen Leistungen als Teilbereich der Kammerprüfungen
  • Herabsetzung der Klassengröße und Neueinstellungen von Lehrkräften für leistungsdifferenzierenden Unterricht
  • Aufwertung der Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, um dem raschen Strukturwandel in der Wirtschaft gerecht zu werden.
 
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Quell-URL (modified on 14/01/2013 - 15:15): https://sowi-online.de/node/679