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BundesschülerInnenvertretung/ Andreas Kowarschik: Schule ohne Perspektive: Orientierungslos zum Abschluss.

Die Arbeitswelt stellt einen der zentralen Bestandteile unseres gesellschaftlichen Lebens dar. Mittels meist über die Lohnarbeit verteilter finanzieller Ressourcen findet die Ausgestaltung des persönlichen Lebensrahmens statt. Dies reicht von der Wohnung und dem Wohnort über die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung bis letztlich auch daraus resultierend zu den sozialen Kontakten. Menschen, denen es nicht hinreichend gelingt, am Arbeitsleben teilzuhaben, verlieren meist auch über dieses Gebiet hinaus soziale Bindungen oder es gelingt ihnen nur schwer, solche aufzubauen.
 

1. Dramatischer Um- und Abbau der Sozialsysteme

Durch dramatische Einschnitte in die Sozialsysteme werden arbeitslosen Menschen die Geldmittel stark gekürzt. Obwohl bei einem raschen strukturellen Wandel der Beschäftigungsverhältnisse immer weniger Arbeitsplätze geschaffen werden und in vielen Sektoren ein drastischer Abbau der Beschäftigung stattfindet - und es somit für Arbeitnehmer schwieriger wird Arbeit gemäß ihrer Qualifikation zu finden - werden sie mit dem Entzug öffentlicher Zuwendungen für ihr Scheitern bestraft. Nur wer bereit ist, Tätigkeiten zu übernehmen, für die man sich neu qualifizieren muss oder für die es keiner Spezialisierung bedarf, bezieht auch weiterhin Geld; in der Tendenz ist das Einkommen dann aber geringer als zuvor. Denen es nicht gelingt, sich auf einem Arbeitsmarkt, dessen Anforderungsprofile genauso flexibel wechseln wie die Ausschläge von Börsenindices, erneut einzugliedern, erleben den freien Fall durch die löchrige Hängematte des Sozialsystems.

Sich nicht in das Bild eines wirtschaftlichen Verlierers fügen zu müssen, ist auch für Schüler eine starke Triebfeder. Durch die allen Orts propagierte Notwendigkeit wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen und sich damit gesellschaftlich einen gewissen Status zu sichern, entsteht unter wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, welche hohe Arbeitslosigkeit und ein absinkendes soziales Niveau für den größten Teil der Bevölkerung bedingen, ein Spannungsgefüge aus dem Sehnen nach Erfolg und der lauernden Gefahr des individuellen Scheiterns, das durch die Sozialsysteme zunehmend weniger abgefangen und gesellschaftlich stigmatisiert wird. Das Wort von der "Sozialschmarotzerin" wird schnell im Munde geführt und durch Äußerungen im öffentlichen Raum wird mittels der Medien eine Konkurrenzsituation zwischen den Verdienenden und den vom Arbeitsleben Ausgeschlossenen geschaffen. Anzeichen finden sich tiefschwellig bereits in Äußerungen, die Zeugnis darüber ablegen, dass es der bundesdeutschen Gesellschaft angesichts zu vieler unliebsamer Menschen, die es sich auf Staatskosten gut gehen lassen, ohne für ihren relativen Wohlstand einen Beitrag für die Gemeinschaft vermittelt über den Arbeitsmarkt leisten zu wollen, schlecht gehe.

So tat sich zum Beispiel der christdemokratische Ministerpräsident Hessens Roland Koch für kurze Zeit mit Plänen hervor, durch einen drastischen Abbau der Zuwendungen und den Zwang zur Annahme von Tätigkeiten jeglicher Art - vom Straßenkehren bis zum Spargelstechen - all die Faulen im Lande wieder zum Arbeiten zu bewegen. Durch sein Maßnahmenbündel wollte er die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Hessen halbieren. Forderungen wie diese bedienen den Konkurrenzdruck in der Bevölkerung und machen aus Menschen, die durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes ohnehin schon Ausgrenzung und oftmals Verzweiflung erleben, Volksfeinde, die gierig nach dem Geld der anderen trachten. Unberücksichtigt bleibt bei solch populistischen Äußerungen, dass am Beispiel Hessens eine Halbierung der Sozialhilfeempfänger nicht möglich wäre, da nur etwa ein Drittel dieser Personen dem Arbeitsmarkt auch tatsächlich zur Verfügung stehen könnte. Bei dem größeren Teil handelt es sich um Alte oder Kranke, die wohl kein Ministerpräsident dieses Landes wirklich auf das Spargelfeld schicken möchte. Doch eine rationale Auseinandersetzung findet kaum Raum in der Schnelllebigkeit des Nachrichtendschungels, so dass meist nur die dumpfe Stimmungsmache gegen eine Minderheit zum Durchsetzen wirtschaftspolitischer Ziele und zur Steigerung der Gunst im Wahlvolk im Ohr der Medienkonsumenten und Wähler verbleibt.

 

2. Perspektiven zusammen mit Jugendlichen entwickeln

Antworten zur individuellen Überwindung dieses Spannungsverhältnisses
zwischen dem Wunsch nach wirtschaftlichem Erfolg und der Angst vor dem individuellen
Scheitern zu geben und Perspektiven zu entwickeln, wie eine Teilhabe am wirtschaftlichen
Produktionsprozess und den daraus resultierenden Gewinnen für Einzelne
realisiert werden kann, muss ein Prozess sein, der schon während der
Schulzeit hinreichend begleitet wird und dem Individuum Hilfestellung leistet,
die eigene Rolle im gesamtgesellschaftlichen Gefüge zu definieren und
daraus Handlungsansätze abzuleiten.

Hierdurch allein sind strukturelle Defizite nicht überwindbar. Fragen
des Arbeits- und Ausbildungsmarktes sind Faktoren, die auf anderen Ebenen
gesteuert werden und die als Richtgrößen die Auseinandersetzung
mit der Thematik einer Berufsorientierung beeinflussen und auf die kritisch
Bezug genommen werden muss, sollen Jugendliche ihre Handlungsoptionen erschließen.
Diese Handlungsoptionen sind limitiert. Sie sind nur so weit gestreut, wie
dies die politische und wirtschaftliche Steuerung zulässt. Eine an die
Berufsorientierung anschließende Berufsqualifizierung hängt nicht
nur von deren Ausgestaltung sondern auch von der Verfügbarkeit einer
entsprechenden Ausbildungsstelle, Qualifizierungsmaßnahme oder eines
Studienplatzes ab.

Der Mangel an Studienplätzen wird über das Instrument des Numerus
clausus verwaltet und der Versuch einer gesellschaftlichen Steuerung der angebotenen
Ausbildungsplätze wurde kaum unternommen oder solche Bestrebungen brachen
unter dem Druck einer starken Lobby schnell zusammen.

Unter diesen Bedingungen fällt es vielen Jugendlichen schwer, Zukunftsperspektiven
zu entwickeln, die ihre eigenen, nur rudimentär entwickelten Vorstellungen
einer Teilhabe am wirtschaftlichen Leben ausdrücken. Oftmals erfolgt
die Orientierung an Hand der Verfügbarkeit und die Frage der Möglichkeiten
erstreckt sich lediglich auf den Bereich des innerhalb reduzierter Möglichkeiten
Machbaren. Dass während der Schulausbildung nicht hinreichend eine Positionsfindung
unterstützt wird, solche Angebote kaum vorhanden sind und der gesamte
Komplex wirtschaftlicher Tätigkeit der Gesellschaft, von der jede Schülerin
und jeder Schüler ein Teil sind, wenig Beachtung findet und der Versuch
nicht unternommen wird, die kaum überschaubaren Faktoren, die auf diesem
Bereich wirken, versteh- und begreifbar zu machen, ist ein gewichtiger Grund
dafür, dass so viele für sich keine Rolle in dem abstrakten Bereich
wirtschaftlichen Lebens definiert haben. Nur eines dürfte allen klar
sein: Dass dort die Geldmittel bezogen werden können, die zur Existenzsicherung
und darüber hinaus benötigt werden; dass dort Ressourcen zugewiesen
werden, die nicht in beliebiger Quantität verteilbar und beziehbar sind.
Wenn ein Prinzip des Arbeitsmarktes erkannt wird, dann ist es das Konkurrenzprinzip.

 

3. Interessen entdecken, individuell fördern

Dass Arbeit der Entfaltung des Menschen gemäß seiner Interessen dienen kann, findet kaum Widerhall. Dass es gilt, Interessen und Neigungen zu entdecken und zu fördern, entspricht selten der Motivation des Lehrkörpers und widerspricht klar dem in Deutschland weit verbreiteten in Dreigliedrigkeit angelegten Bildungssystem. Doch gerade Versäumnisse an dieser Stelle fügen den Schülerinnen und Schülern einen nicht kompensierbaren Schaden zu und hemmen insbesondere die Entwicklung ohnehin schon Unterprivilegierter, die aus bildungsfernen Familien mit meist geringem Haushaltseinkommen stammen.

Viele Studien belegen mittlerweile, dass gerade diese Jugendlichen in unserem Bildungssystem kaum zu höheren Abschlüssen geführt werden. Durch Unterrichtsformen, die weiterhin jegliche pädagogische Konzeption vermissen lassen, indem auf altbackenen Frontalunterricht in Klassen mit über 30 Schülern und nicht ausreichend qualifizierten Lehrern gesetzt wird, manifestieren sich soziale Grenzen und gelingt es nicht den Schülerinnen und Schülern die Kompetenzen zu vermitteln, die für eine selbstbestimmte Lebensplanung im Allgemeinen und die Orientierung in denen sich immer schneller wandelnden Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen im Besonderen unerlässlich sind. Durch Lehrpläne, die auf Reproduktion von Fakten zielen und nicht zum Ziel haben, ein Verständnis der komplexen Gefüge, die unser tägliches Leben bedingen, zu durchleuchten, werden systematisch Lebenschancen verbaut und nicht Handlungsmöglichkeiten eröffnet.

 

4. Preußisches Schulsystem in der schönen neuen Welt

Wenn wir feststellen, dass lohnabhängige Beschäftigungsverhältnisse einem stetigen Wandel unterworfen sind und sich zum einen ein struktureller Wandel des gesamten Arbeitsmarktes abzeichnet und zum anderen sehen, dass Arbeitsbiografien wie sie viele Jugendliche von ihren Eltern kennen, die über den Großteil ihres Lebens hinweg bei ein und demselben Arbeitgeber in ein und demselben Arbeitsfeld beschäftigt gewesen sind, kann sture Faktenvermittlung allein nicht dienlich sein, wenn vergessen wird, andere wichtige Fertigkeiten zu entwickeln und zu fördern.

Doch findet eine Förderung dieser im Wirtschaftsneusprech als Softskills bezeichneten Fertigkeiten wie zielgerichtete Zusammenarbeit in der Gruppe oder das eigenständige Definieren von Aufgaben keinen Platz in den faktenüberfrachteten Lehrplänen. Veraltete Vermittlungsstrukturen blockieren hier Möglichkeiten, wo ein Hinwenden zu einer interaktiven und methodisch ausgewogenen Unterrichtsgestaltung förderlich wäre.

Selbst strukturiertes Arbeiten erfordert auch ein hohes Maß an Medienkompetenz. Wollen sie Aufgaben erfolgreich meistern, müssen die Schüler von heute und Arbeitnehmer von morgen im Umgang mit verschiedenen Medien geübt sein. Sie müssen deren Inhalte kritisch zur weiteren Verwendung prüfen können und dazu in der Lage sein, selbst Medien zu erstellen, um diese der Lerngruppe oder dem Projektteam zur Verfügung zu stellen.

Viele Politiker propagieren nach wie vor, dass es genau drei verschiedene Arten von Menschen gäbe, die über drei verschiedene Stoffzuteilungsmechanismen mit Bildung beladen werden können. Gemäß eines veralteten Klassenverständnisses wollen sie die Zukunft eines Menschen bereits in der fünften Klasse festlegen.

Erst einmal eingestuft fällt es leicht über die Stufen des Bildungssystems nach unten zu purzeln, aber ist es mehr als mühsam, den Aufstieg in die Oberklasse zu vollziehen. Durch das frühe Einteilen in angeblich homogene Lerngruppen werden soziale Unterschiede zementiert. Auf diese Art wird dafür gesorgt, dass soziale Milieus unter sich verbleiben und eine auf die Lebensgestaltung ausgerichtete Orientierung nur innerhalb der sich verfestigenden Bezugsgruppe erfolgt. Schule ist die einzige Institution, die alle Menschen erreicht und so die Möglichkeit bietet, unterschiedlichste Charaktere und Gruppen zusammenzuführen und so einen Nutzen für alle Beteiligten zu generieren. Lässt man diese Chance ungenutzt, wird nicht nur die Perspektive Unterprivilegierter eingeengt; auch auf Teilgebieten leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern wird die Möglichkeit genommen, ihr Wissen oder ihre Fertigkeiten in die Gruppe einzubringen und so ihre eigene Vermittlungskompetenz zu stärken. Das Voneinanderlernen und nicht lediglich das mittels Autoritäten gewonnene Wissen erhielte größeres Gewicht.

 

5. Eigenverantwortung und Selbstorganisation

Doch statt dessen bestimmt nicht das gemeinsame Lernen das Bild sondern viel mehr das Lernen gegeneinander. Durch die Reduzierung auf abprüfbares Wissen, das über einen dozierenden Lehrer vermittelt wird, werden junge Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung beschnitten. Die sich ergebenden Defizite vermindern auch ihre Möglichkeiten der Teilhabe im Erwerbsleben.

Um sich auf dem Arbeitsmarkt der Gegenwart wie der Zukunft behaupten zu können, müssen Menschen die Fähigkeit mitbringen, sich schnell in neue und oftmals recht komplexe Arbeitsfelder einzuarbeiten. Die Arbeit im Team erhält zunehmend einen hohen Stellenwert. Aber nicht weil es unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ein Gebot der Stunde ist, eigenverantwortlich Arbeitsprozesse zu strukturieren, sich Zielvorgaben zu setzen und deren Erfolg oder Scheitern zu evaluieren, ist die gezielte Entwicklung auf dieser Ebene so wichtig.

Lernen Kinder und Jugendliche nicht, Fragestellungen zu entwickeln, die ihre eigene Stellung und die ihres persönlichen Umfeldes im gesamtgesellschaftlichen Kontext beleuchten, kann es ihnen auch nicht gelingen, planend Handlungsansätze egal welches Gebiet ihres Lebens betreffend zu entwerfen. Es wird ihnen nicht gelingen zu erkennen, dass sie die Möglichkeit besitzen, auf ihre individuellen Lebensumstände Einfluss zu nehmen und diese in ihrem Sinne verändern zu können.

 

6. Demokratie in der Schule und betriebliche Mitbestimmung

Ein Scheitern an diesem Punkt stellt in Frage, wie wichtig es uns ist, dass Menschen in demokratischen Prozessen ihre eigene Zukunft und die der Gesellschaft, deren Teil sie sind, zu lenken. Und doch findet eine Auseinandersetzung mit den sich einmischenden Akteuren und deren Interessen an Arbeits- und Absatzmärkten, der Rolle der einzelnen beteiligten Menschen als Produzenten und Konsumenten nicht statt. Indem im Unterricht lediglich Fakten der Abprüfbarkeit wegen vorgelegt werden, erkennen die Lernenden die Arbeitswelt als festgeschriebenen, beinahe naturgegebenen und nicht veränderlichen Zustand. Die Frage wirft sich auf, ob unter diesen Voraussetzungen wirklich davon gesprochen werden kann, dass junge Menschen ihren Platz frei wählen oder gegebenen Rollenbildern unreflektiert nacheifern.

Wollen wir erreichen, dass Menschen mündig ihre Entscheidungen treffen, und dies in jeder Phase ihres Lebens und gleichgültig welche Ebene betreffend, müssen wir das Verständnis fördern, dass sie selbst dazu auch in der Lage sind. Erhalten Jugendliche in der Schule keine Gelegenheit, ihren Schulalltag zusammen mit den anderen beteiligten Personengruppen zu gestalten, lernen sie über viele Jahre hinweg nur den Anweisungen der Erwachsenen in Form von Lehrern zu gehorchen und werden darauf vertröstet, irgendwann einmal, wenn sie selbst Erwachsene sind, über ihr eigenes Leben (mit)bestimmen zu dürfen, hat man einen für die Ausbildung eines menschlichen Charakters extrem wichtigen Lebensabschnitt ungenutzt gelassen. Wie sollen Menschen, die beinahe ihr ganzes Leben unmündige Bildungskonsumenten gewesen sind, auf einmal Verantwortung für sich und andere übernehmen?

Wie sollen sie selbst Perspektiven für die eigene Zukunft ermitteln, wenn sie sich in einem Bildungssystem bewegen müssen, das ihnen zunehmend weniger Wahlfreiheiten bietet? Der Ruf nach zentralen Abschlussprüfungen schallt von Bundesland zu Bundesland. Für die Schülerinnen und Schüler bedeutet dies konkret, dass sie sich nicht mehr gemäß ihrer eigenen Interessen für Fächer entscheiden dürfen, die sie vertiefen möchten. Sie werden gezwungen, allgemein verbindliche Vorgaben zu akzeptieren und auf eine Abschlussprüfung hin zugerichtet zu werden, so dass man, wenn schon nicht so ganz klar ist, wer in die Schule hineingesteckt wird, zumindest weiß, wer oder was aus der Schule wieder herauskommt. Das kann man nämlich einfach in Form von Ziffern von einem Blatt Papier ablesen.

Dass diese Art der schulischen Ausbildung nicht das individuelle Fördern im Sinn hat, liegt auf der Hand. Auch eine Vermittlung von Methoden- oder gar Lebenskompetenz ist ihr fern. Was weiter als "Du bist schlecht", oder "Du bist gut", kann die Note einem Schüler vermitteln? Wie kann die Schülerin aus einer Ziffernnote ihre Stärken und Schwächen ersehen? Was mehr lernt man aus der Notengebung, als dass es immer darauf ankommt, wie andere einen beurteilen und dass man abhängig ist vom Urteil anderer, die ähnlich wie Lehrer in der Schule mit ihrer Beurteilung über Zukunftschancen entscheiden? Auch an diesem Punkt lässt sich feststellen, dass die Qualifizierung zum mündigen Bürger der Schule fern ist.

Wird in der Schule nicht erlernt, dass das eigene Leben form- und gestaltbar ist, werden die Menschen auch immer weniger auf allen anderen gesellschaftlichen Feldern aktiv Demokratie üben. Und wie kann eine Zukunftsplanung erfolgreich durchgeführt werden, wenn es nicht selbstverständlich ist, solidarisch und verantwortungsbewusst zu agieren?

Berufsorientierung ist weit mehr als den Ablauf des Arbeitstages eines Schreiners oder eines Staatsanwalts kennen zu lernen. Sollen Jugendliche ihre Lebensplanung selbstständig gestalten, setzt dies ein entsprechendes Vorwissen praktischer Erfahrung voraus, das sie während ihrer Schulzeit sammeln sollen.

 

7. Welcher Beruf ist der richtige für mich?

Diese Frage stellen sich die meisten Schülerinnen und Schüler erst am Ende ihrer schulischen Laufbahn. Obwohl die Schulrichtlinien vielerorts vorsehen, die Jugendlichen auf den Übergang in das Arbeits- und Wirtschaftsleben vorzubereiten, findet dies nur in einem sehr reduzierten Rahmen statt und die Anstrengungen auf diesem Gebiet übersteigen meist nicht ein bis zwei verbindliche Betriebspraktika.

So wichtig Praktika für eine Orientierung auch sein mögen, sind sie nicht hilfreich, wenn keine ausreichende Begleitung sowie eine entsprechende Vor- und Nachbereitung stattfinden. Dies wird jedoch nur selten als Aufgabe der Schulen wahrgenommen. Innerhalb der starren Formen, die Schule ausmachen - von der Wissensvermittlung in 45-Minuten-Häppchen über einen auf abprüfbares Wissen reduzierten Stoffkatalog - kann das Durchführen der Berufspraktika nur unzureichend begleitet und evaluiert werden.

Zwar kann man leicht einsehen, wie schwierig es sich gestaltet, einen umfassenden Überblick über die gewaltig große Zahl verschiedener Berufsbilder zu geben, doch stellt sich die Frage, wie sinnvoll Berufspraktika sind, die nur aus einer Hand voll vorstellbarer Beschäftigungen ausgewählt werden. Es kann nicht allein Aufgabe von Schule sein, diesen Überblick herzustellen, doch müssen Formen der Vermittlung aus der Schule heraus initiiert werden, die einen größtmöglichen Informationszugewinn für die Schülerinnen und Schüler erbringen.

Schule kann nicht losgelöst von der Gesellschaft betrachtet werden, innerhalb derer sie ihren Dienst versieht. Doch werden diese Verknüpfungen in der konkreten Ausgestaltung des Schulunterrichts nicht mit ausreichender Aufmerksamkeit bedacht. So muss versucht werden alle gesellschaftlich relevanten Kräfte in den Unterricht einzubinden, um eine weitreichende Orientierung zu ermöglichen. Zentrale Rollen können hierbei das Arbeitsamt, Gewerkschaften, Universitäten, Berufsschulen und die Betriebe der Region übernehmen.

 

8. Die kooperative Schule

Sind die notwendigen Verknüpfungen entstanden, ist es dann möglich, den Lernort von der Schule zum Beispiel in einen Betrieb zu verlegen, um den Schülerinnen und Schülern dort beispielhaft Einblicke in die betriebliche Organisation und Arbeitspraxis zu geben. Verpflichtende Praktika für alle Schülerinnen und Schüler während ihrer Schulzeit dienen dazu, die Kenntnisse zu vertiefen und eigene Erfahrungen in einem Unternehmen zu gewinnen. Dies muss in einen wirtschaftskundlichen Unterricht eingebunden werden, der die historische Entwicklung der Arbeitsverteilung und der Entlohnung für geleistete Arbeit beleuchtet und eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle wirtschaftlicher Leistungen für die Gesellschaft und der an ihnen beteiligten Einzelpersonen erschließen hilft.

Es ist zunehmend zu beobachten, dass das Fach Politik oder Gemeinschaftskunde in Wirtschaft und Politik gewandelt wird. Sollen junge Menschen zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihres Lebens- und Ausbildungsweges befähigt werden, müssen sie innerhalb eines solchen Unterrichts zum einen die gegebenen Strukturen im Staats- und Wirtschaftswesen und jeweilige Funktionsmechanismen verstehen. Wird aber versäumt, die Entstehung dieser Strukturen unter Berücksichtigung der sich in Phasen der Veränderung jeweilig sichtbar werdenden Machtstrukturen und Machträger zu zeigen, wird aber kollidierenden Interessenslagen keine Beachtung geschenkt, die in der Frühzeit der Industrialisierung massiv im Konflikt zwischen den hungernden Arbeiterfamilien und den auch auf politischer Ebene enorm einflussreichen Fabrikbesitzern zutage traten oder auch heute die Frage beantwortet werden muss, ob die soziale Sicherheit vieler Menschen weniger wichtig ist als stetig steigende Umsätze internationaler Wirtschaftsmachtanhäufungen, fehlen den Lernenden wesentliche Grundlagen, um ihre eigene Position im Sektor wirtschaftlichen Lebens zu erreichen oder den Weg dorthin zu planen.

Die Entwicklung der für den Beruf benötigten Kompetenzen findet nicht allein im Unternehmen statt. Berufs- und Hochschulen haben hier große Bedeutung. Die einzelne Schülerin muss sich nicht nur entscheiden, welches Berufsfeld am besten mit ihren Interessen übereinstimmt. Auch muss sie festlegen, ob sie sich für eine berufliche Ausbildung im dualen System bestehend aus Betrieb und Berufsschule entscheidet, ein Studium an einer Universität oder Fachhochschule anstrebt oder sich zu einer von privaten Instituten angebotenen Ausbildung entschließt. Darüber hinaus wird von ihr verlangt, sich während der Berufstätigkeit weiterzubilden. Auch hier wird es wieder darauf ankommen, zwischen einer Zahl an vorhandenen Angeboten die sinnvollste Alternative zu wählen.

Soll diese Wahl getroffen werden, ist ein Abwägungsprozess nötig, der auf der Grundlage einer breiten Kenntnis der möglichen Bildungswege stattfinden muss. Über Angebot und Ablauf der Ausbildungsgänge und Abschlüsse kann das Arbeitsamt [1] Auskunft geben. Dort können auch beratende Gespräche geführt werden, die zur Entscheidungsfindung beitragen und Möglichkeiten aufzeigen. Viele Schulen führen für die einzelnen Klassen Tagesausflüge zu den Berufsinformationszentren [2] der Arbeitsämter durch, doch fällt die Bemessung des Zeitrahmens für eine angemessene Beratung meist zu gering aus. Werden nur Profile mittels einer computergestützten Auswertung erstellt, ist niemandem geholfen. Deshalb muss auf weiterführende Beratungsmöglichkeiten verwiesen werden, für die die Arbeitsämter entsprechend qualifiziertes Personal beschäftigen müssen.

Um eine Entscheidung herbeizuführen, bedarf es auch der Kenntnis der Lernorte selbst - also auch der Berufs-, Hoch- und anderer Schulen. Da es in der Organisation der Ausbildung und der Anforderungen erhebliche Unterschiede gibt, ist eine Kenntnis hierüber für die Wahl des Berufes und des Bildungsweges so wichtig. Diese Kenntnisse können am leichtesten vor Ort gewonnen werden. Wenn sie Vorlesungen und Träger der beruflichen Bildung besuchen, können Schülerinnen und Schüler wichtige Fakten für ihren Entscheidungsprozess sammeln. Gute Möglichkeiten dies zu tun, ergeben sich auch aus Gesprächen mit Lehrenden und Lernenden, die so herbeigeführt werden können. Auch hier gibt es meist die Möglichkeit, spezielle Beratungsangebote zu nutzen, die außerhalb einer Gruppenveranstaltung wahrgenommen werden können. Wird auf diese hingewiesen und können bestenfalls auch direkt Termine vereinbart werden, erleichtert man den Jugendlichen, Kontakte herzustellen und für sich wichtige Informationen zu gewinnen.

Gewerkschaften kommt eine bedeutende Rolle zu, wenn es um die konkrete Ausgestaltung der Arbeitssituation geht, die auch Auswirkungen auf das Leben im Allgemeinen hat. Dies reicht von der Durchsetzung von Arbeitsschutzverordnungen über ihre Eigenschaften als Tarifpartner bis hin zur direkten Mitbestimmung in Betrieben. Welche Möglichkeiten Arbeitnehmer haben, auf ihr Arbeitsumfeld Einfluss auszuüben und welchen Sinn verregelte Mitbestimmungsstrukturen in Unternehmen haben, kann von Personen, die Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt haben, besser veranschaulicht werden als durch die Lektüre von Gesetzestexten. Gibt man Gewerkschaftsvertretern den Raum, Möglichkeiten der Mitbestimmung und der Veränderung aufzuzeigen, können auch Schülerinnen und Schüler ihren eigenen Handlungsspielraum besser einschätzen und der starre Komplex wirtschaftlichen Wirkens und Handelns verliert den Anschein des Festgeschriebenen und Unveränderlichen. Sollen Schülerinnen und Schüler planerische Ansätze und daraus Handlungsschritte entwickeln, können Einsichten an diesem Punkt festgefahrene Rollenbilder aufbrechen und Handlungsoptionen eröffnen.

 

9. Eine gute Schule für alle

Auch an dieser Stelle soll darauf geachtet werden, dass einer Debatte ausreichende Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden, damit sich individuelle Positionen herausformen können. Hierzu müssen andere Vermittlungsformen als die des Frontalunterrichts genutzt werden. Es gibt Methoden der Gruppenarbeit, die für diesen Zweck wesentlich effizienter sind und es ermöglichen, die ganze Lerngruppe zu integrieren und zu aktivieren. Mittels Kartenabfragen oder Planspielen mit anschließender Auswertung kann es gelingen, dass Schülerinnen und Schüler sich gemeinsam dabei helfen, einen Kenntniszugewinn zu befördern. Lehrerinnen und Lehrer müssen für diese Art der Wissensvermittlung ausgebildet werden. Diese Unterrichtsgestaltung benötigt mehr Zeit und Raum, als unter den momentan an den meisten Schulen vorherrschenden Bedingungen zur Verfügung steht.

Es sind sowohl strukturelle Veränderungen von Schulen und Berufsschulen als auch eine bessere Finanzierung von Bildung durch die öffentliche Hand notwendig, wenn der Nutzen von Schule für die Schülerinnen und Schüler erhöht werden soll. Will man ausreichend Raum für eine Kompetenzvermittlung schaffen, die es den Jugendlichen ermöglicht, Entscheidungen in fundierten Abwägungsprozessen zu fällen; will man Wissensvermittlung so konzipieren, dass den Schülerinnen und Schülern mehr abverlangt wird, als Datenbestände kurzfristig bei Prüfungen abzurufen; will man ein Bildungssystem aufbauen, das Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft dazu befähigt, frei und ohne Einschränkungen ihren Lebensentwurf planend umzusetzen, ergeben sich Anforderungen an Schule, die am wenigsten durch ein dreigliedriges Schulsystem mit Unterricht im Schulstundentakt erfüllt werden.

Öffnet sich Schule der Gesellschaft, die sie umgibt und aus der sie resultiert, wie es am Beispiel der beruflichen Bildung und der Berufsorientierung nachvollzogen werden kann, müssen flexiblere Stundenpläne und Schulzeiten für den ermöglichenden Rahmen sorgen. Soll verhindert werden, dass soziale Ungleichheit durch das Bildungssystem zementiert wird, muss man aufhören, Menschen in der Ausbildung von Fertigkeiten zu beschneiden, indem man sie in vermeintlich homogenen Lerngruppen mittels der Dreigliedrigkeit voneinander abkapselt. Soll ermöglicht werden, dass Lebensentwürfe auch umgesetzt werden können, müssen sowohl Studien- als auch Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl verfügbar und ohne Gebührenlast zugänglich sein.

Verfolgt man die öffentliche Debatte, scheint gerade Letzteres nicht erreichbar zu sein. Unter dem Verweis auf die schlechte konjunkturelle Lage verweigert sich die Arbeitgeberseite zunehmend stärker, wenn Gewerkschaften und Schülervertretungen auf eine verbindlich festgelegte Anzahl von Ausbildungsplätzen und sozial verträgliche Beschäftigungsverhältnisse drängen. Doch ist das Schaffen von Lehrstellen eine Investition der Unternehmen in deren eigene Zukunft. Soll in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums nicht erneut wie vor einiger Zeit in der IT-Branche ein massiver Mangel an Fachkräften aufkommen, darf die Planung der Unternehmen nicht so kurzfristig ausgerichtet sein, wie es von den Arbeitgeberverbänden öffentlich kommuniziert wird.

Die BundesschülerInnenvertretung [3] unterstützt die in jüngster Zeit wieder verstärkt vorgebrachte Forderung der Gewerkschaften nach einer gesetzlichen Umlagefinanzierung. Hierdurch wird eine Unterstützung insbesondere kleinerer Betriebe gewährleistet und neue Lehrstellen werden geschaffen. Nach wie vor erzielen viele deutsche Firmen auch heute mit Hilfe von qualifizierten Arbeitnehmern große Gewinne. Da verwundert die Weigerung, sich weiterhin für eine Qualifizierung zukünftiger Fachkräfte einsetzen zu wollen. Wenn solche Firmen nicht selbst ausbilden wollen, dann sollen sie anderen Betrieben über finanzielle Zuwendungen ermöglichen, Ausbildungsplätze anzubieten.

 
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Quell-URL (modified on 14/01/2013 - 15:15): https://sowi-online.de/node/653

Links
[1] http://www.arbeitsamt.de/
[2] http://www.arbeitsamt.de/hst/services/bsw/biz/
[3] http://www.bundesschuelervertretung.de/