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Hensel, Horst: Verwirrung statt Integration. Kritik am Bildungskonzept der Integrierten Gesellschaftslehre in der Gesamtschule (1986)

Die Integrierte Gesellschaftslehre ist "das" gesamtschultypische Fach. Hier wird versucht, den Anspruch der Integration auch inhaltlich umzusetzen. In der Praxis führt das jedoch zu Beliebigkeit der Inhalte. Hier ist es notwendig, das Gesamtschulkonzept auch inhaltlich weiter zu durchdenken.

Der Integrierte Gesellschaftslehreunterricht verspricht, den Schülern die Gesellschaft in ihrer Totalität besser nahezubringen als die separierten Fächer Geschichte, Geografie, Politik (und Ökonomie). - Und in der Tat: Läßt sich die Gesellschaft nicht genauer erkennen und weitreichender umgestalten, wenn man bislang getrennte Fragen, Untersuchungsmethoden und Erkenntnisse integriert? Zumal sie sich letztlich doch auf ein und dasselbe Objekt zu beziehen scheinen?

Außerdem verabschiedet das Integrierte Gesellschaftslehrecurriculum die platte Abbilddidaktik: die Bestimmung des Erziehungsprozesses durch eine Fachwissenschaft. Der Erziehungswissenschaft ist endlich der Vorrang vor den Fachwissenschaften gegeben worden..

Was sollte also gegen den Integrierten Gesellschaftslehreunterricht sprechen? Ich meine: viel.

An der Gesamtschule, an der ich arbeite, diskutieren und kritisieren wir Gesellschaftslehre-Lehrer seit einiger Zeit das Konzept der Integration. Dies aufgrund und anhand unserer langjährigen Erfah [/S. 26:]rungen. Die Kritik läßt sich wie folgt zusammenfassen:

Es sei bisher nicht gelungen, zu integrieren. Es fehlte eine Struktur des neuen Fachs, in der die Strukturen der alten Fächer aufgehoben seien. Was bis heute geleistet wurde, sei nichts anderes als Fächeraddition, indem jeweils unterschiedliche fachspezifische Unterrichtseinheiten aufeinander folgten, oder indem in eine fachspezifische Unterrichtseinheit , Fragen, Arbeitsformen, Themen anderer Fächer eingeordnet würden. Das Ergebnis dieser Fächeraddition sei nun aber nicht Integration im Sinne einer Verarbeitungsleistung durch die Schüler - die zu leisten hätten, was die Pädagogen qua Curriculum und Lehrerarbeit selbst nicht zu schaffen imstande wären! -, noch wenigstens ein geschärfter Blick für die Wechselwirkungen im gesellschaftlichen Feld, sondern Verwirrung, Halbheit, Stückwerk. Das Integrationskonzept habe keine Fähigkeitsverbesserung, sondern Fähigkeitsverschlechterung bewirkt. Von "integrierten" gesellschaftswissenschaftlichen Fähigkeiten könne nämlich, wie gesagt, noch lange keine Rede sein -, und die durch den integrierten Gesellschaftslehreunterricht erworbenen fachspezifischen Fähigkeiten reichten nicht an die durch die separierten Fächer zu erwerbenden heran.

Als Verursacher der Misere werden das Curriculum und die Lehrer dingfest gemacht: 'Das Problem der Integration sei das Problem der Integration sei das Problem eines mißlungenen Curriculums. Aus bisherigen Fehlern könne man allerdings lernen: das Curriculum sei neu zu schreiben. Die Lehrerarbeit täte ein übriges: Die Lehrer würden nicht eng genug zusammenarbeiten; sie hatten nur ein Fach gelernt, nicht eine Integrierte Gesellschaftswissenschaft, die sie deshalb unterrichtlich bisher kaum zu praktizieren fähig gewesen seien. Hier würde Lehrerfortbildung helfen.

Ich halte diese Erklärungen für nicht weitreichend genug. Daß der Integrierte Gesellschaftslehreunterricht nicht gelingt, liegt nicht an der unzureichenden Lehrerarbeit oder am zu oberflächlichen Curriculum. Der Integrierte Gesellschaftslehreunterricht ist sachlogisch unmöglich, weil einer seiner Bestandteile, nämlich der Geschichtsunterricht - besonders in seiner Form als linearer Lehrgang - die Integration verhindern muß.

Wie das?

Hidden curriculum der Beliebigkeit

Führen wir folgende Überlegung durch: In keinem Konzept Integrierten Gesellschaftslehreunterrichts kann auf Geschichte verzichtet werden, denn Gesellschaft ist historische Gesellschaft, ist Gesellschaft im Werden -, und außerhalb dessen gibt es keine empirische Gesellschaft.

Bislang dominiert im Geschichtsunterricht der lineare, der chronologische Lehrgang. Er muß als solcher die Struktur des Integrierten Gesellschaftslehreunterrichts bestimmen, denn den anderen Integrationsfächern ist die Folge der Themen nicht so zwingend vorgeschrieben. Das führt dazu, daß die geografischen, politologischen, soziologischen (und ökonomischen) Bestandteile des Integrierten Gesellschaftslehreunterrichts den chronologisch grad zu behandelnden Geschichtsthemen mehr oder weniger passend angehängt oder eingegliedert werden -, wobei sie natürlich bei weitem nicht "zu ihrem Recht" kommen können -, zu ihrem Recht als spezifische erkennende Subjekt-Objekt-Beziehungen.

Die vielen nur äußerlich verbundenen Aspekte konstituieren ein hidden curriculum der Beliebigkeit. Zum Schluß kommt lernfeindliche chronologische politische Ereignisgeschichte plus Geografisierung plus Aktualisierung heraus -, eine atomisierte statt einer integrierten Gesellschaftserkenntnis. Der Integrierte Gesellschaftslehreunterricht erwirkt das Gegenteil seiner Absicht. [...] So wird Erkenntnis durch Erkenntnisse verhindert. Darüber hinaus haben die Fachdidaktiken das "Emanzipationskonzept" - das auch zu kritisieren wäre - vom "Integrationskonzept" abgelöst. [...]

Auf Geschichte verzichten?

Welche curricularen Möglichkeiten gibt es nun, aus der Misere herauszufinden? Prämisse muß sein, den Geschichtsunterricht nicht mehr linear zu strukturieren. Dann sind zwei verschiedene Wege gangbar:

Erstens: Geschichte würde auf Themengeschichte, d. h. Vorgeschichte eines Themas verkürzt, tauchte nur noch als historische Dimension auf. Gesellschaftslehre würde also fundamentale Lebenszusammenhänge der gegenwärtigen Gesellschaft behandeln und sie historisch herleiten. Diese Lösung haben die Verfasser der Hessischen Rahmenrichtlinien favorisiert. Dabei wäre allerdings auf Geschichte verzichtet, denn Geschichte kann nur als Entwicklungsprozeß der Menschheit adäquat gefaßt werden, nicht als Ansammlung von Themengeschichten. Der Preis eines solchen Integrierten Gesellschaftslehreunterrichts wäre bei Licht besehen der Verzicht auf Geschichtsunterricht. Damit bestünde dann auch keine Integration mehr. Der Versuch zu dieser Rettung eines Integrationskonzepts gäbe also das Integrationskonzept auf.

Gesetzmäßigkeiten statt Stoffülle

Zweitens: Es würde ein formationstheoretisch fundiertes und spiralförmig didaktisiertes Geschichtscurriculum erstellt. [...] Formationstheoretisch fundiertes Curriculum heißt: Das Curriculum basiert auf dem Wesen, der Charakteristik, der Typik der sozialökonomischen Gesellschaftsformationen. Diese bildeten die Unterrichtseinheiten. Dadurch würde die Unterrichtsarbeit stärker auf die sozialökonomischen Lebensverhältnisse orientiert. Die politische Geschichte würde relativiert. Die sachlogische Zentralkategorie der historischen Bildung ist nämlich die der Gesellschaftsformation; während die sachlogische Zentralkategorie der politischen Bildung die des Klassenkampfs ist -, oder, [/S. 27:] mehrheitsfähiger formuliert, die der antagonistischen Interessenauseinandersetzung. Dabei ist die politische Bildung der historischen untergeordnet; einerseits, indem der Gesamtprozeß auf einen Teilprozeß, den politischen reduziert wird; andererseits, indem die Entwicklung auf ihr jeweiliges Resultat, die Gegenwart, reduziert wird. Beim formationstheoretisch fundierten Curriculum würden also Gesetzmäßigkeiten gelernt, nicht Oberflächenerscheinungen. [...] Sobald dies geschehen ist, bedarf es nicht mehr der Speicherung unendlicher Mengen von Fakten, sondern weniger Theoreme und Theorien, die bei Bedarf eine Reaktion auf ein beliebiges Faktum ihres Bereichs erlauben. [...]

Die tendenzielle Selbstverhinderung des Geschichtsunterrichts als Lernprozeß beruht auf seiner immer unbewältigten Faktenfülle, den daraus entstehenden "Auswahlproblemen", der damit einhergehenden Beliebigkeit, dem Sammelsurium der Themen: Wo schließlich alles jederzeit zum Lerngegenstand werden kann, wird nichts gelernt.

(Die Schüler wissen, warum sie den Geschichtsunterricht ablehnen.) Das genannte Problem des Geschichtsunterrichts, die unendliche Deskription, indiziert seinen wissenschaftsgeschichtlich niedrigen Stand, und den seiner Fachwissenschaft, der Geschichte. Der Geschichtsunterricht muß auf Gesetzeserkenntnis ausgerichtet werden, weg von der Erscheinungslehre, hin zur Wesensanalyse. (Das historische Wesen erscheint freilich nur im konkreten Prozeß - als "Bild" -; die Mißachtung der Erscheinung würde den Geschichtsunterricht ebenfalls zerstören.)

Spiralförmig didaktisiertes Curriculum heißt: Die Gesellschaftsformationen werden aus lernpsychologischen, persönlichkeitstheoretischen und entwicklungspsychologischen Gründen nicht chronologisch und beziehungslos hintereinander abgehandelt, sondern sie werden alle - mit zunehmender Komplexität und zunehmendem Schwierigkeitsgrad - in jedem Schuljahr aufs neue in bezug auf eine spezielle Frage, einen speziellen Erkenntnisprozeß, eine spezielle Erscheinung analysiert.

Drei Beispiele: Familie/Kindheit/Alltagsleben/Zusammenleben von der Urgesellschaft bis zur entstehenden sozialistischen Gesellschaft etwa im 5. Schuljahr. - Naturstoffaneignung/Arbeit/Produktion von der Urgesellschaft ... -, etwa im 9. Schuljahr. Eine solche Form des Geschichtsunterrichts integrierte in der Tat in weit höherem Maß als der bisherige Geschichtsunterricht - und auch das Integrierte Gesellschaftslehrecurriculum - die verschiedenen speziellen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisprozesse und Fähigkeitsentwicklungen.

Allerdings liegt auf der Hand, daß auch ein solcher "integrationistischer" Geschichtsunterricht das Konzept des Integrierten Gesellschaftslehreunterrichts zerstören würde, denn die "anderen Fächer" gingen nicht restlos in ihm auf; ihre "Reste" müßten nach wie vor in den nun allerdings omnipotenten Geschichtsunterricht eingebaut, bzw. ihm angehängt werden -, alles wie gehabt.

Ein formationstheoretisch fundierter und spiralförmig organisierter Geschichtsunterricht wäre zwar das bisher integrierteste gesellschaftswissenschaftliche Fach -, aber nicht die Integrierte Gesellschaftslehre.

Weil nun, wie dargelegt, der Geschichtsunterricht das zentrale Element eines Integrierten Gesellschaftslehreunterrichts bilden muß, und weder seine Form als linearer Lehrgang, noch seine Omnipotenz (formationelles, spirales Curriculum) das Konzept dieses Unterrichts rettet, sondern es zerstört, kann es beim heutigen Stand der Gesellschaftswissenschaften einschließlich der Pädagogik kein Integriertes Gesellschaftslehrecurriculum geben.

Um es noch einmal deutlich zu machen: Die gegenseitige Blockierung von integriertem Gesellschaftslehreunterricht und Geschichtsunterricht ist kein Zufall, denn Integration ist Bemühung um Totalität, und Totalität des menschlichen Werdens ist Thema der Geschichte, nicht der Geografie oder der anderen Sozialwissenschaften. [...]

Ich spreche mich also gegen das Konzept des Integrierten Gesellschaftslehreunterrichts aus. [...]

Es ist m. E. heute sinnvoll, unter dem Namen "Gesellschaftslehre" und der Beibehaltung der Stundenzahl und des Unterrichts durch einen Lehrer (dessen "Fremdfach"-Probleme mich wenig interessieren) innerhalb des Gesellschaftslehreunterrichts die einzelnen Fächer epochal zu unterrichten.

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Quell-URL (modified on 22/06/2012 - 18:14): https://sowi-online.de/node/1061