Willenbacher, Wolfgang P.: Zur immanent methodischen Struktur des Politischen (P-u 1/1988)

Zur immanent methodischen Struktur des Politischen
Eine Auseinandersetzung mit Bernd Janssens "Plädoyer für eine methodenorientierte Politikdidaktik" (P-u 2/87)

sowi-online dankt dem Verfasser für die freundliche Genehmigung zum "Nachdruck" dieses Textes im Internet.
Das Original ist unter dem gleichen Titel erschienen in: "Politik-unterrichten" (ISSN 0930-2107), 4 Jg. 1988 H. 1, S. 14-29.
Um den Text zitierfähig zu machen, sind die Seitenwechsel des Originals in eckigen Klammern angegeben, z. B. [/S. 53:].

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Impressum

Wolfgang P. Willenbacher

Inhalt

  1. Randbemerkungen zu einer politikdidaktischen Lagebeurteilung
  2. Methodenorientierte Politikdidaktik - eine Alternative?
  3. Das Problem
  4. Der Gegenstand des Faches "Politik"
  5. Der Sachanspruch politischer Bildung: Politische Rationalität
  6. Strukturprinzipien
    1. Kategoriale Bildung
    2. Dialogische Kommunikation
  7. Eine Unterrichtsstruktur

Anmerkungen

l. Randbemerkungen zu einer politikdidaktischen Lagebeurteilung

Bernd Janssens Anliegen, der stockenden politikdidaktischen Diskussion - die Publikationsflut spricht eigentlich gegen diese Auffassung (1) - neue Impulse zu geben, ist sicher verdienstvoll und wird auch vom Autor dieses Artikels prinzipiell begrüßt. Daß sein Wiederbelebungsversuch nicht ganz hoffnungslos war, zeigt die in P-u angelaufene Diskussion. Allein inhaltlich scheint sein Versuch aus einer ganzen Reihe von Gründen kritikwürdig.

Bernd Janssen setzt sich allzu leichtfüßig von den politikdidaktischen Diskussionen der vergangenen Jahre ab, indem er die vorliegenden didaktischen Konzepte charakterisiert als akademische, theorielastige, idealistische, für den Adressaten kaum verständliche und deshalb wenig praxisgerechte "Feiertagsdidaktiken" (vgl. S. 19ff). Seine Krisen-Diagnose gipfelt in der These, Theorie und Praxis seien einander entfremdet (S. 22).

Es ist weder meine Absicht in das vielstimmige Klagelied (2) über die Lage der politischen Didaktik einzustimmen, noch will ich die Berechtigung solcher Klagen, die m. E. aber weder im vorliegenden Beitrag noch in der 1986 erschienenen "Langfassuog" (3) überzeugend begründet sind, gänzlich abstreiten. Es seien mir deshalb lediglich ein paar pointierte Bemerkungen zu Bernd Janssens Ursachenforschung erlaubt, bevor ich mich im 2. Kapitel mit seinem "Therapie-Vorschlag" näher befasse.

Betrachtet man die Genese mancher Konzeptionen - und dies gilt ungeachtet der theoretischen Position -, dann ist der Vorwurf, politikdidaktische Theorien seien an der Hochschule mit viel akademischem Ehrgeiz entworfene und im Schulalltag nie hinreichend und systematisch erprobte Idealbilder (S. 19), schlicht falsch. Viele Hochschul-Didaktiker kamen aus der Praxis und haben ihre Didaktiken ursprünglich aus der Reflexion ihrer praktischen Arbeit entwickelt und in ständiger Auseinandersetzung mit ihr (und selbstverständlich auch der Theoriediskussion) weiter ausgebaut.

Ohne der auf S. 21f formulierten Kritik an Anspruchsniveau und Produktionsprinzip politischer Didaktik (4) gänzlich ihre Berechtigung abzusprechen, muß hier weiterhin festgestellt werden: Antwort auf seine Alltagsfragen - was er seinen Schülern sinnvollerweise vermitteln solle und wobei er auf ihr Interesse rech[/S. 15:]nen könne - findet der Lehrer doch in der Regel in den Lehrplänen, den darauf abgestimmten Handreichungen und den Schulbüchern, die im übrigen in kaum nicht geringem Maße auch Resultate der oben geschmähten Fachdidaktiken sind (5). Aber Didaktik als Wissenschaft legitimiert sich in erster Linie dadurch, daß sie neue Probleme, die in ihren Bezugswissenschaften diskutiert werden, aufgreift, über den Tellerrand täglicher Routine hinausschaut; nicht durch die Produktion wohlfeiler Rezepte für die Praxis, die dann nur noch der Exekution durch den Praktiker bedürfen. Zwei eher ketzerische Bemerkungen möchte ich mir ebenfalls nicht verkneifen:

Die allgemeinen politischen Ursachen und die institutionellen Zwänge und Widrigkeiten, die im Bereich der politischen Bildung (Stundentafel, Stellenwert des Faches, Personalmangel etc.) eklatant sind, sollen nicht wegdiskutiert werden. Dennoch, vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen, die ich bei der Betreuung der Schulpraktika von Lehramtskandidaten, deren Unterrichtsversuchen unter Betreuung von Fachleuten, also beim Zusammenstoß von Hochschuldidaktik und Schulalltag sammeln konnte, ist man versucht, einige der vorgebrachten Gesichtspunkte (mangelnde Praktikabilität, Überforderung, Idealvorstellungen etc.) wenigstens teilweise als billige Entschuldigung der "Routiniers" zu lesen. Sicher ist dieser Lehrertyp, der an Neuem allenfalls interessiert ist, wenn es ohne größere geistige Eigenleistung umsetzbar ist, nicht repräsentativ, aber öfter vorzufinden, als gemeinhin eingestanden wird. Im übrigen können hochgesteckte fachdidaktische Anforderungen, besonders wenn man sich ihres Stellenwerts bewußt ist, auch als regulative Ideen und als Ansporn begriffen werden, sie müssen den Lehrer nicht in die Resignation treiben. In den Jahren, als politische Bildung noch Konjunktur hatte, ist es leider nicht in ausreichendem Maße gelungen, die Öffentlichkeit und die maßgeblichen politischen Kräfte für die Anliegen politischer Bildung zu gewinnen. Statt die ohnehin bescheidenen Kräfte durch entsprechende Konsensstrategien zu konzentrieren, gefiel man sich in Aus- und Abgrenzungsversuchen, die in erster Linie der eigenen Profilierung dienten. - Nichts gegen offene Diskussion oder ,auch Provokation, aber Polemik, bewußtes Mißverstehen, unlautere Zitierweise etc. zum Zwecke der Diffamierung des Fachkollegen schadet weniger den angegriffenen Kollegen, die ja ohnehin meist "lagermäßig" mit Beifall oder Kritik bedacht werden, sondern der gemeinsamen Sache (6). Insofern ist die Krise politischer Didaktik, sofern es denn eine gibt, teilweise hausgemacht - ein Umstand, der ebenfalls geflissentlich übersehen wird. [/S. 16:]

2. Methodenorientierte Politikdidaktik - eine Alternative?

Auch die weitere kritische Würdigung fachdidaktischer Theorien (S. 22ff), die den Leser für die Notwendigkeit eines didaktischen Neuansatzes gewinnen soll, steht auf tönernen Füßen. Einerseits werden Kampfbegriffe aus der politikdidaktischen Mottenkiste (z.B. die Behauptung, Politikdidaktik gehe es um die Legitimation politischer Gesinnungen und um Gesinnungsziele) bemüht, die dann mit beachtlichem rhetorischem Aufwand abgewehrt werden. Tatsächlich werden aber nur offene Türen eingerannt, denn kein namhafter Didaktiker will politische Bildung auf Gesinnungsziele festlegen; Offenheit für die Darstellung des wissenschaftlich Umstrittenen, Indoktrinationsverbot etc. (Stichwort Beutelsbacher Konsens von 1976) sind mittlerweile Standards der didaktischen Theorie. Auch das Schlagwort vom Primat der Zielorientierung bei zwangsläufiger Vernachlässigung der Methoden, das S. 21, gestützt auf eine nicht mehr ganz frische Untersuchung Walter Gagels (7), vorgetragen und S. 23 durch ein meines Erachtens vom Autor in seiner Tragweite nicht voll übersehenes Zitat Sutors (vgl. hierzu das folgende Kapitel) untermauert werden soll, überzeugt nicht.

Auf diese Weise eingestimmt, unterbreitet Bernd Janssen dann seine Alternative:

Er will das Elend der Politikdidaktik von der Praxis her kurieren; er glaubt den Graben zwischen Theorie und Praxis und einen Großteil des Dissenses zwischen den verschiedenen Konzepten politischer Bildung überwinden zu können, indem er der Zieldiskussion in der politischen Didaktik, die er für die Ursache der Entfremdung für Theorie und Praxis hält, zugunsten einer "methodenorientierten Politikdidaktik" ausweicht (vgl. S. 22ff). "Methodenorientierte Politikdidaktik" setzt an bei der praxisorientierten "Erarbeitung und Entfaltung geeigneter fachbezogener Unterrichtsmethoden" (S. 25). Ein Verfahren, das der Autor als Umkehrung der traditionellen Vorgehensweise, als Radikalisierung der Einsicht, daß Unterrichtsmethoden über eine eigene Zielperspektive verfügen, verstanden wissen will; ein Verfahren, das zu einer qualitativ anderen Bestimmung politischer Didaktik führen soll (vgl. S. 25). In diesem Sinn definiert Bernd Janssen, auf ihr Wesen zielend, Methode in Abgrenzung zu Elementen ihrer Anwendung als Lernweg (S. 28). Solche Lernwege sollen ganz spezifische Qualitätskriterien erfüllen, damit sie dem Fach angemessen sind und gegenüber dem Unterrichtsgegenstand nicht "blind" sind. So nennt er dann S. 27f auch eine ganze Reihe solcher Qualitätskriterien: Sie sollen die Struktur der Sache vollständig erfassen, sie sollen schülerorientiert, kreativitätsfördernd und offen sein, usw. Das alles sind Kriterien, die voll zu unterschreiben sind, nur sind sie, sofern sie über allgemeindidaktische Aussagen hinauskom[/S. 17:]men wollen, ohne eine Vorstellung von der Sache, um die es geht, eben nicht zu haben.

Da Bernd Janssen aber nur verschwommene Vorstellungen von der Sache - vom Fach hat (sie scheinen sozusagen durch und gehen quasi unter der Hand in seine Überlegungen ein, wenn z.B. S. 28f von Schlüsselfragen die Rede ist und daß die potentiellen Lerngegenstände der politischen Bildung gleichfalls von Erfahrungen, Gefühlen und Phantasie geprägt sind ... etc.) und diese zu den Methoden auch nicht in Beziehung gesetzt werden, bleibt auch sein gesamter Ansatz unscharf. Symptomhaft wird das bei seinem Versuch deutlich, für bestimmte Gegenstandsbereiche, Lernbereiche des Politischen (Was ist damit eigentlich gemeint? In welchem Verhältnis stehen sie zum gesamten Fach? etc.) passende Lernwege zu entwerfen (S. 27ff). Das ist auch in dem dargebotenen Lernweg selbst (S. 29f) greifbar, obwohl hier auch einiges positiv zu vermerken ist, wie etwa die abwechslungsreichen Anregungen zur Konkretisierung eines Lernschritts (S. 30). Hier vermisse ich die versprochenen fachspezifischen Gegenstandsprofile, die allein geeignet sind, die Struktur der Sache zu erfassen (S. 27), statt dessen bleibt er leider relativ beliebig, und eben weitgehend formal. Dies gilt auch für das S. 31 beschriebene "Lernen des Lernwegs" (Was übrigens, wie so vieles, was hier als neu verkauft wird, eher alter Wein in alten Schläuchen ist), denn was die dem Politischen angemessene Methode ist, wird ja gerade nicht erörtert.

Wird der hier offerierte Ansatz nicht in der kritisierten Richtung konkretisiert, dann läuft Politikunterricht Gefahr, in orientierungsloses Geschwafel abzugleiten, und ein auf dieser Grundlage beruhender Konsens wäre eine Scheinalternative der Beliebigkeit.

Fazit: Die von Bernd Janssen aufgebaute Alternative, Ziele oder Methoden, ist falsch. Es muß zunächst um ein adäquates Gegenstandsverständnis gehen, vor dessen Hintergrund Ziele, Inhalte und Methoden des Faches zu beschreiben sind.

3. Das Problem

In der Folge geht es also um ein prinzipielles fachdidaktisches Problem: den Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methode. Die im Titel verwendete Formel von der "immanent-methodischen Struktur" (8) deutet bereits die Untersuchungsrichtung an. Sie soll ausdrücken, daß dem Gegenstand eines Faches Methodisches immanent ist und daß Unterrichtsmethode deshalb dieser immanent-methodischen Struktur des Gegenstandes/jeweiligen Themas entsprechen muß. Da Unterrichtsmethoden im hier verwendeten Sinn "ihr Kriterium nicht nur darin haben .... ob sie ziel- und sachorientiert sind, sondern eben zugleich darin, ob sie ziel[/S. 18:]- und sachorientierte Lernprozesse herausfordern, ermöglichen fördern" (9), deutet sich in einer angemessenen methodisch-strukturellen Organisation politischen Unterrichts eine mögliche Lösung unseres Problems an. Im Kontrast zu der oben kritisierten Scheinalternative wird deshalb hier der Zusammenhang zwischen Sachanspruch und schülergemäßer Methode als konstitutiv für gelungenen Sozialkundeunterricht verstanden: D. h. Sachanspruch und alltägliche, schülerorientierte Methodik fallen im Politikunterricht in gewisser Weise zusammen (sind sozusagen zwei Seiten einer Sache), so daß gilt: Der Sachanspruch kann nur schülergemäß eingelöst werden oder er wird nicht eingelöst.

Im Sinne dieser These wird deshalb im weiteren Verlauf geklärt, was vernünftigerweise der Sachanspruch politischen Unterrichts sein kann und wie der Anspruch dieses Faches unterrichtsmethodisch einlösbar ist. Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, scheint es mir notwendig, sich darüber zu verständigen, was wir unter Politik verstehen wollen.

4. Der Gegenstand des Faches "Politik"

"Politik" ist der eigentliche Gegenstand des Faches. Der Aspekt des Politischen liefert die Perspektive unter der die vielfältigen Gegenstände des Faches, die freilich unter anderen Fragestellungen auch Gegenstand anderer Wissenschaften und Schulfächer sind, zu betrachten sind.

Die Frage, was Politik ist, wird dadurch zur Gretchenfrage der Didaktik politischer Bildung. Das Politikverständnis ist entscheidend für Inhalts-, Zieldimensionen und Methoden des Politikunterrichts. Es ist dies nicht der Ort den Streit um verschiedene Politikbegriffe auszufechten; aber wenigstens das hier vertretene Politikverständnis soll kurz erläutert werden.

Erst im Staat, verstanden als bestimmter Aggregatzustand der Gesellschaft, wird Gesellschaft zur handlungsfähigen Einheit und somit fähig, ihr Zusammenleben als Ganzes zu organisieren und die dabei immer wieder auftretenden Probleme zu bewältigen. Politiktheoretisch ausgedrückt ist diese Einheitsbildung die eigentliche Aufgabe der Politik (10). In der politischen Praxis fällt die Bewältigung dieser Aufgabe zusammen mit der politischen Lösung der sich immer von neuem stellenden Probleme des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens, d.h. menschliches Zusammenleben in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu ordnen und zu gewährleisten. Politik können wir deshalb definieren als soziales Handeln, das sich auf die verbindliche Regelung gesamtgesellschaftlicher Probleme bezieht. Es ist dies der ständige Versuch divergierende Interessen, die in bestimmten [/S. 19:] sozialen Situationen zusammentreffen, unter einen Hut zu bringen; d.h. in öffentlichen Entscheidungsprozessen und mit Hilfe speziell dafür geschaffener politischer Institutionen und Organisationen Konflikte gewaltfrei und für alle verbindlich zu regeln (11). So verstanden ist Politik im aristotelischen Sinn charakterisierbar als Praxis. Als solche ist sie weder durch Theorie (im Sinne von wahren, gesetzmäßigen wissenschaftlichen Erkenntnissen) auslotbar und primär anleitbar, noch kann sich politisches Handeln erschöpfen in der technischen Umsetzung von theoretischem Wissen.

Dennoch ist politisches Handeln nicht ohne Methode: Gerade weil es absolute Sicherheit des Wissens in der Politik nicht gibt, muß "was politisch geschehen soll ... aus Erfahrung, Geschichte und Situation kommunikativ gefunden werden" (12). In diesem kommunikativen Prozeß (politischen Willensbildungsprozeß) artikulieren sich divergierende Selbstverständnisse und die daraus resultierenden unterschiedlichen Intentionen von Individuen und Gruppen. In ihm spielen wissenschaftliche Erkenntnisse, Überlegungen hinsichtlich technischer Machbarkeit, rechtlicher Möglichkeiten und politischer Durchsetzbarkeit (Machtaspekte) eine Rolle. In diesem Sinne ist "politische Wahrheit" kommunikative Wahrheit, denn sie ist rationale, aus sprachlicher Auseinandersetzung hervorgegangene Vereinbarung.

5. Der Sachanspruch politischer Bildung: Politische Rationalität

Im Kontext des oben skizzierten Politikbegriffs und der in ihm implizierten politischen Anthropologie (13) darf Politik nicht Sache von Spezialisten sein (obwohl natürlich in der Politik auch Fachleute gebraucht werden), sondern geht alle Bürger eines Gemeinwesens an. Darin liegt auch der eigentliche Legitimationsgrund politischer Bildung (14). Von hier bestimmt sich ihr Sachanspruch:

Den Bürger zur politischen Beteiligung zu befähigen und seine Beteiligungsbereitschaft zu wecken.

Um eben diesen Anspruch geht es, wenn "politische Rationalität" zum Leitziel politischer Bildung erklärt wird (15). Denn in dieser Zielsetzung ist dar Qualifikations- und Dispositionshorizont abgesteckt, der den Bürger zur Entfaltung tragfähiger politischer Überzeugung und zur Teilnahme am politischen Leben besser befähigen soll.

In dem komplexen Zielbegriff "politische Rationalität", der weder einseitig als Zweckrationalität noch als Wertrationalität zu fassen ist, sind verschiedene Dimensionen der Politik/politischen Denkens zusammengeführt. Er meint "die Fähigkeit menschlicher Vernunft, sich in einem situativen und geschichtlich-sozialen Kontext begründet zu verhalten, also zu handeln; das heißt im einzelnen [/S. 20:] sich möglichst vielseitig zu orientieren über Faktoren von Situationen und Konstellationen, Handlungsalternativen abzuwägen, sich ein begründetes Urteil zu bilden und sich zu entscheiden oder denkend das eigene Verhalten zu Entscheidungen anderer zu bestimmen nach begründeten, im Gespräch mitteilbaren und sozial verantwortbaren Wertmaßstäben (16)."

Dieses komplexe Geflecht von Faktoren darf und kann der politische Unterricht nicht zugunsten falsch verstandener Lernzielorientierung bis zur Unkenntlichkeit atomisieren, sondern er muß es gerade als das für Politik typische erfahrbar machen.

Politischem Unterricht, der seinen Namen verdient, muß es deshalb um das Erfassen komplexer Strukturen, um das Aufbauen und Einüben problemlösenden Denkens gehen (17). Dabei sind methodisch-instrumentelle Fähigkeiten nicht ohne die Inhalte, an denen sie erlernt werden, zu haben. In einer für die politische Bildung brauchbaren Lernzielklassifizierung sind deshalb Wissen, Erkenntnis, Einsicht und Urteil zusammen mit methodischen Fähigkeiten und Fertigkeiten der kognitiven Dimension zuzuordnen. Weiterhin sind Wert- und Sinnfragen nicht im "luftleeren Raum" sondern im Zusammenhang mit den Problemen, bei denen sie sich stellen, zu erörtern. Das heißt auch die moralische (effektive) Dimension politischen Unterrichts (Interesse, Bewertung, Überzeugung, Identifikation) kann nicht von den kognitiven Kompetenzen isoliert werden (18). Beide Dimensionen sind vielmehr im Gespräch und in gemeinsamer Diskussion zu verknüpfen. Dementsprechend ist die pragmatische Dimension unverzichtbares Verbindungsglied zwischen kognitiver und moralischer Dimension. Das heißt gemeinsame Reflexionsprozesse, die auf kommunikative Kompetenzen angewiesen sind und diese gleichzeitig fördern, sind der Weg, der zu den kognitiven und moralischen Kompetenzen, die im Politikunterricht angestrebt werden, führt.

6. Strukturprinzipien

Wenn politischer Unterricht "Trainingslager politischer Urteilsbildung" (19) sein soll, dann müssen alle oben erörterten Qualifikationsdimensionen im Unterricht auf sinnvolle Weise integriert werden, dann müssen die Kriterien politischer Rationalität in eine ihr entsprechende Unterrichtsstruktur überführt werden. Dies gelingt nur wenn politische Bildung sich als kategoriale Bildung versteht und der pragmatischen Dimension politischen Unterrichts (der Unterrichtskommunikation) besondere Aufmerksamkeit schenkt. [/S. 21:]

6.1. Kategoriale Bildung

Die Theorie der kategorialen Bildung ist genau besehen der Versuch, den alten Gegensatz zwischen formaler und materialer Bildung in einer Synthese zu überwinden, indem sie auf die wechselseitige Erschließung von Mensch und Welt abhebt. Kategorien schlagen in diesem Verständnis Brücken zwischen den Lernenden und den Sachen. Sie sollen das an der Sache gewonnene Instrument ihrer Bewältigung sein und beim Erkennenden zur Einsicht in die verstandene Sache werden.

Dementsprechend sollen politische Kategorien aktuelle politische Probleme, Situationen, Prozesse, die uns in den Themen und Inhalten des politischen Unterrichts begegnen, erschließen, indem sie typische Strukturen, das Prinzipielle an ihnen aufzeigen. Die so gewonnenen allgemeinen Erkenntnisse und Fertigkeiten sollen den Transfer auf andere Probleme ermöglichen. Eine politische Rationalität fördernde Kategoriensammlung muß deshalb möglichst allen relevanten Faktoren, Prinzipien und Dimensionen des Politischen Rechnung tragen. Das heißt in ihr müssen gleichermaßen sowohl die leitenden Fragestellungen und Erkenntnisse der relevanten sozialwissenschaftlichen Ansätze als auch die grundlegenden Wertorientierungen erfaßt und auf eine dem Politischen angemessene Weise verknüpft sein.

Die folgende Kategoriensammlung, die als Fragenkatalog formuliert ist, (20) versucht das, indem sie sich an den für das politische Denken typischen Analyse- und Problemebenen orientiert:

Analyse politischer Realität: Was ist?

Was ist das politische Problem, der Konflikt, die zu lösende politische Aufgabe, mit der wir es zu tun haben?

  • Welche Informationen benötigen wir?
  • Welche Informationsquellen informieren zuverlässig/können wir heranziehen?
  • Welche gesellschaftlichen Gruppen (sind wir als Schüler/Jugendliche) von dem Problem, (dessen möglicher Lösung) gegenwärtig/zukünftig betroffen?
  • Welche materiellen/ideologischen Interessen werden berührt?
  • Welche Meinungen vertreten einzelne Gruppen, die Öffentlichkeit, die Wissenschaften hinsichtlich des zu lösenden Problems?

Ermittlung von Lösungsmöglichkeiten: Was ist politisch möglich?

Wie ist die Rechtslage hinsichtlich des zu lösenden Problems?

  • Welche Institutionen sind für die Regelung zuständig?
  • Welche Verfahrensregeln sind einzuhalten?
  • Existieren bereits rechtliche Normierungen, die im Hinblick auf zukünftige Lösungen zu beachten sind?

[/S. 22:] Welche verschiedenen Problemlösungen werden angestrebt?

Welche haben unter den gegebenen Machtverhältnissen Durchsetzungschancen?

  • Wie sind die Mehrheitsverhältnisse in den zuständigen Institutionen?
  • Welche Positionen vertreten mächtige gesellschaftliche Organisationen (Verbände, Gewerkschaften und Kirchen), die Parteien (Regierungs-, Oppositionsparteien), die Länderregierungen?
  • Welche Möglichkeiten der Beteiligung und Mitbestimmung bestehen für die Betroffenen?
  • Zwischen welchen Kräften/Organisationen zeichnen sich Interessenkoalitionen ab?

Gibt es alternative Lösungsmöglichkeiten?

  • Welche Zielkonflikte sind jeweils zu beachten?
  • Welche Kompromißmöglichkeiten bieten sich an?

Beurteilung politischer Handlungsalternativen/Entscheidungen: Was soll geschehen?

Inwiefern sind konkurrierende Lösungsmöglichkeiten, getroffene politische Entscheidungen vereinbar mit der Fundamentalnorm unserer Verfassung, der Menschenwürde, mit den wichtigsten politischen Zielwerten Friede, Freiheit, Gerechtigkeit?

Sind angestrebte Lösungen legitim, dem Betroffenen zumutbar und wirklich vom Gesamtinteresse (Gemeinwohl) her begründbar?

Sind sie von einem ausreichend breiten Konsens getragen und hinsichtlich ihrer Folgen verantwortbar?

Sowohl einzelne Kategorien als auch die Analyse eben dieses Fragerasters sind aufeinander bezogen, es bestehen vielfältige Abhängigkeiten zwischen ihnen. Deshalb sind sie, wie hier vorgeführt, unterscheidbar aber nicht voneinander trennbar. Auch dem Kriterium "Vollständigkeit" kann und will diese Sammlung von Schlüsselfragen nicht genügen. Eher ist sie zu verstehen als "ein pragmatisch-topisches Ensemble von Grundfragen ... welche wir heute, in unserer geschichtlichen Situation ... an Politik stellen müssen" (21). Als solche dient sie der wissenschaftlich vertretbaren und vom Schüler nachvollziehbaren Reduktion politischer Komplexität und der Strukturierung der Gegenstände politischer Bildung und macht sie so erst der gemeinsamen Bearbeitung im politischen Unterricht zugänglich. Die Analyse konkreter politischer Probleme mit Hilfe dieses Fragerasters soll zur fundierten Urteilsbildung und wertenden Stellungnahme hinführen und die Entscheidungsdiskussion erleichtern. Was nicht heißt, daß alle diese Fragen schematisch an jeden Unterrichtsgegenstand heranzutragen sind. Hier sind vielmehr je nach Thematik und Zielsetzung des Unterrichts Schwerpunkte zu setzen.

[/S. 23:] Aber die dreischrittige Grundstruktur (Inhalt und Anordnung) dieses Rasters sollte, wo immer möglich, erhalten und zur Strukturierung des Unterrichts genutzt werden. Denn sie markiert das für politisches Denken typische Spannungsverhältnis, sie steckt den Rahmen politischer Handlungsmöglichkeiten in der jeweiligen komplexen politischen Situation ab und kommt so politischem Handeln, wie es dem hier erörterten Politikverständnis entspricht, sehr nahe.

6.2. Dialogische Kommunikation

Politisches Handeln ist Sprachhandeln. Immer wenn der Schüler mit Politik zu tun hat, ob als Zeitungsleser, als Fernsehzuschauer, als Diskussionsteilnehmer oder als umworbener Wähler, immer begegnet sie ihm im Medium Sprache. Sowohl das Verstehen und Beurteilen als auch die aktive Teilnahme an Politik setzt deshalb sprachliche Kompetenzen voraus.

Abgesehen von kommunikativen Kompetenzen, wie sie von jedem Unterricht angestrebt werden, muß politischer Unterricht deshalb spezielle politische Sprachkompetenzen vermitteln. Im einzelnen sind hier zu nennen: die Fähigkeit die gängigen Textsorten (Kommentar, Karikatur, Flugblatt, Debattenrede, Wahlrede, Interview, Verlautbarung, Vertragstexte, Gesetzestexte, etc.), die in der Politik eine hervorragende Rolle spielen, zu kennen, zu analysieren und interpretieren zu können. Weil in der politischen Sprache Information und Intention miteinander verquickt sind, politische Probleme sprachlich definiert und interpretiert werden, und emotional aufgeladene oder gar zu propagandistischen Zwecken geschaffene Schlagworte/Begriffe an der Tagesordnung sind, sind Fähigkeiten, die es dem Schüler erlauben in kritische Distanz zu gehen, unerläßlich. Weiterhin ist die aktive Beherrschung von politischen Textsorten und Sprachstrategien soweit sie zur Wahrnehmung eigener Interessen im politischen Prozeß, was immer auch Auseinandersetzung mit fremden Interessen beinhaltet, erforderlich sind.

Diese Kompetenzen können und sollen zwar selbst auch Gegenstand politischen Unterrichts sein, in der Regel werden sie aber quasi nebenbei zu erwerben sein in einem Unterricht, der dialogische Kommunikation zu seinem leitenden Formprinzip macht. Dieses Formprinzip ist gleichermaßen Ziel und Methode des Unterrichts. Dialogische Kommunikation fördert die kommunikative Kompetenz und ist gleichzeitig die dem Politischen angemessene Methode, kategoriale Analyse und Urteilsbildung mit wertender Stellungnahme zu verknüpfen. Denn Kommunikation als spezifisch menschliche Form der Interaktion und Dialog als methodisches Prinzip, d.h. Durchsprechen einer Sache durch mehrere Personen, um sie in ihrer Komplexität besser zu erfassen, korrespondieren mit unserem Verständ[/S. 24:]nis von Politik und politischer Rationalität. So verstanden ist Dialog als Formprinzip mehr als eine bestimmte Arbeits- oder Gesprächsform. "Dialog als Formprinzip, das heißt, ... daß alle Lehr- und Lernprozesse möglichst aus Fragen der Beteiligten an die Sache entspringen, in Fragehaltung ablaufen und für Fragen und Gespräch immer offen sind (22)."

7. Eine Unterrichtsstruktur

Unserem Politikverständnis und der Zielsetzung politischer Bildung gemäß ist der Analyse und Beurteilung politischer Probleme/Konflikte im politischen Unterricht eine hervorragende Stellung einzuräumen. Die folgende Skizze soll anhand dieses Thementyps aufzeigen, wie die oben erörterten Prinzipien politischer Bildung für eine unseren Eingangsüberlegungen entsprechende methodische Struktur politischen Unterrichts genützt werden können. Sie unterscheidet in Anlehnung an die drei Analyseebenen unserer Kategoriensammlung drei Unterrichtsphasen und ordnet diesen in lockerer Form Kategorien, Gesprächsformen und mögliche Medien zu. Diese Grobstruktur darf jedoch nicht mißverstanden werden als Unterrichtsfahrplan. Der Politiklehrer, dem sie als Planungshilfe dienen soll, muß vielmehr den skizzierten Rahmen ausfüllen, indem er je nach Thema, Klassenstufe und Schulart kategoriale und methodische Schwerpunkte setzt. [/S. 25:]

Motivationsphase: Einstieg, Problemformulierung, Planungsgespräch
Kategorien: Gesprächsformen: Medien:
Meinung/Information
Problem/Konflikt
Betroffenheit/Bedeutsamkeit
freies Unterrichtsgespräch
(spontane Meinungen)
Diskussion
Rollenspiel
Karikatur
kurzer Text:
Leserbrief
Thesen
etc.
Informationsphase: a) Situationsanalyse b) Möglichkeitserörterung
a) Interessen/Beteiligte
Interpretation/Ideologie
Geschichtlichkeit/Strukturen
b) Macht/Organisation
Recht/Verfahren/Institutionen
Beteiligung/Mitbestimmung
Koalition/Kompromiß/Zielkonflikte
Durchsetzung/Entscheidung
Lehrervortrag
Schülervortrag
Lehrgespräch
Unterrichtsgespräch
Gruppengespräch
Expertenbefragung
wiss. Abhandlung
Interview
Bericht
Kommentar
Gesetzestext
Debatte
Rede
Statistik
Graphik
Schaubild etc.
Urteilsphase: Urteilsbildung/Entscheidungsdiskussion
Menschenwürde
Zumutbarkeit/Grundkonsens
Legitimität/Gemeinwohl
Wirksamkeit/Folgen/Verantwortbarkeit
Diskussionsformen
freies Unterrichtsgespräch
Rollenspiel
S.o. als Impu1s, als Beleg in der Diskussion etc.

[/S. 26:] Motivationsphase: Der Einstieg konfrontiert die Lerngruppe mit dem im Unterricht zu behandelnden Problem/Konflikt. Als Einstieg geeignet sind Thesen, eventuell mit Gegenthese, eine knapp zugespitzte Meinungsäußerung zum Konflikt, eine Karikatur, die das Problem aufspießt etc.; auf jeden Fall sollte der Einstieg die Schüler für das Thema interessieren, sie zum Stellen von Fragen animieren oder sie zu spontanen Meinungsäußerungen provozieren. Im Idealfall werden hier sehr unterschiedliche, einander teilweise widersprechende Meinungen zu verschiedenen Aspekten des Themas geäußert. Diese müssen im gemeinsamen Gespräch geordnet und zu Positionen gebündelt werden. Vor diesem Hintergrund ist, sofern sie nicht vom Lehrer selbst eingeführt wird, die politische Problemstellung, unter der das Thema im Unterricht behandelt werden soll, zu formulieren. Das Problem sollte möglichst als Frage, in der sich ein politischer Zielkonflikt, ein Spannungsverhältnis andeutet, gefaßt werden. So kann es bei den Schülern eine, im Hinblick auf den weiteren Unterrichtsverlauf und besonders auf die Urteilsphase, fruchtbare Spannung erzeugen. Im Anschluß daran kann in einem Planungsgespräch das weitere Vorgehen (Welche Einzelaspekte sind in welcher Reihenfolge zu untersuchen? Welche Informationen sind dazu notwendig? Welche Quellen sind zugänglich? Wie wollen wir sie bearbeiten? etc.) besprochen werden.

Informationsphase: In dieser Phase sind Problemsituation und Problemlösungsmöglichkeiten anhand geeigneter Materialien und entsprechend den im Planungsgespräch vereinbarten oder vom Lehrer vorgegebenen kategorialen Schwerpunkten zu analysieren. Dabei kann es sich in dieser Phase als nützlich erweisen, wenn ein kompliziertes Thema dies erfordert, von vornherein mehrere Zwischenschritte vorzusehen. Auch kann es notwendig werden von der ursprünglichen Planung abzuweichen und erneut zu planen, wenn sich der eingeschlagene Weg als Sackgasse entpuppt. Hinsichtlich Präsentation und Verarbeitung der notwendigen Informationen bietet sich eine Palette von Möglichkeiten an. Sie reicht von der Expertenbefragung, die von den Schülern in eigener Verantwortung vorbereitet und durchgeführt werden kann, über die arbeitsteilige Textbearbeitung, deren Ergebnisse sich die Schüler gegenseitig vortragen, bis zum Lehrgespräch. Aber auch die systematische Informationsvermittlung und -erarbeitung hat hier durchaus ihren Platz. Sie darf aber nicht überstrapaziert werden, denn auch in dieser Phase sollte dialogische Kommunikation, die hier in der Anwendung kooperativer Sozialformen zum Ausdruck kommt, im Vordergrund stehen.

Urteilsphase: Wie in der Eröffnungsphase sind in dieser Phase freiere Gesprächsformen die Regel. Hier wird die eingangs gestellte Problemfrage (erneut) diskutiert, nun aber vor dem in der Zwischenphase erarbeiteten Informationshinter[/S. 27:]grund. Die sichtbar gewordenen Zielkonflikte werden erörtert, Handlungsalternativen werden gegeneinander abgewogen und mögliche Kompromisse beurteilt. Den Beteiligten wird dabei nicht entgehen, ob sie ihre anfangs vertretenen Positionen modifizieren oder gar aufgeben müssen, da sie sich als Vorurteile erweisen oder ob sie sich in ihrer Einstellung bestätigt sehen können. Politischer Unterricht, wie er hier skizziert ist, gelingt nicht aus dem Stand. Er stellt an den Lehrer um so höhere Planungsanforderungen, je niedriger das intellektuelle Vermögen seiner Schüler ist und verlangt von ihm Konstanz im Unterrichtsstil und Durchhaltevermögen; denn die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die Schüler in jeder Unterrichtsphase zum Mittun benötigen, sind nur durch "beharrliches Bohren dicker Bretter" aufzubauen und einzuschleifen. Der Sozialkundeunterricht bedarf dazu, besonders dort wo er nur einstündig erteilt wird, der Unterstützung durch seine Nachbarfächer Geschichte und Erdkunde und durch den Deutschunterricht. Er muß die in diesen Fächern erbrachten methodischen und inhaltlichen Vorleistungen aufgreifen und weiterentwickeln. Weiterhin verlangt das hier vertretene Unterrichtskonzept vom Lehrer Engagement und Durchsetzungsvermögen, besonders gegen den häufig anzutreffenden Kollegenvorwurf, zuwenig Wissen zu vermitteln. Grundwissen ist für die bewußtseinsmäßige Durchdringung und das Erfassen von Problemen unverzichtbar, aber allein nicht ausreichend. Überspitzt formuliert kommt es sicher weniger darauf an, den Schülern die richtigen Antworten einzupauken, als sie das Stellen angemessener "richtiger" Fragen zu lehren.

Abschließend ist festzuhalten: Es gibt für keine Schulart, Schulstufe ein Alibi, das den Verzicht auf die hier dargelegten Strukturprinzipien politischen Unterrichts rechtfertigt, denn sie garantieren gleichermaßen Sachgemäßheit und Schülergemäßheit. Kategorialer politischer Unterricht ist auf angemessene Weise problemorientiert und durch seine einfache Struktur in seiner Abfolge für die Schüler nachvollziehbar. Dialogische Kommunikation ist am Schüler vorbei nicht zu haben, sie kommt nur zustande, wenn es tatsächlich gelingt die Schüler für die Unterrichtsprobleme zu interessieren, sie ins Unterrichtsgeschehen so einzubeziehen, daß sie bereit sind, ihn mitzutragen. Politischer Unterricht im hier geforderten Sinn kann zwar nicht selbst Politik sein, aber er kann "ein Stück Politik im analogen Sinn (sein), weil in ihm politisches Denken und Urteilen als ein inneres Handeln der einzelnen Beteiligten und als ein kommunikatives Sprachhandeln erfahren und geübt wird" (23). [/S. 28:]

Anmerkungen

  1. Vgl. dazu den neuesten Literaturbericht von Kurt Gerhard Fischer: "Krise" - "Misere" - "Elend": Politische Bildung heute. Ein Literaturbericht, in: Z. f. Päd. 33 Jg. 4/1987 S. 547-564.
  2. Vgl. Fischer, K.G. a.a.O. S. 548f.
  3. Janssen, Bernd: Wege politischen Lernens. Methodenorientierte Politikdidaktik als Alternative zur Pädagogik der guten Absichten. Frankfurt/Main 1986.
  4. Vgl. K.G. Fischers berechtigte Kritik an Bernd Claußens sprachlichem Duktus a.a.O. S. 553.
  5. Namhafte Hochschuldidaktiker bemühen sich seit Jahren, durch ihre Mitarbeit bei der Erstellung von Lehrplänen und Handreichungen ihre Didaktiken für die Praktiker besser verdaulich zu machen. Darüber hinaus betätigen sich einige auch als Schulbuchautoren. Insofern bleibt mir der Sinn dieser Kritik verborgen.
  6. Das jüngste Beispiel unlauteren Umgangs mit Texten: vgl. Fischer K.G. bei seiner Auseinandersetzung mit Sutor und Hilligen a.a.O. S. 552 und 561.
  7. Gagel, Walter: Politik - Didaktik - Unterricht. Eine Einführung in didaktische Konzeptionen des politischen Unterrichts, Stuttgart 1979. Nicht mit berücksichtigt sind in dieser Publikation z.B. die Neubearbeitungen der Didaktiken von Wolfgang Hilligen 1985 und Bernhard Sutor 1984, die sich, wie auch K.G. Fischer a.a.O. S. 559 positiv anmerkt, stärker der unterrichtspraktischen Seite politischer Bildung annehmen.
  8. Klafki, Wolfgang: Zur Unterrichtsplanung im Sinne kritisch-konstruktiver Didaktik, in: Adl-Amini, Bijan/Künzli, Rudolf (Hg.): Didaktische Modelle und Unterrichtsplanung, Juventa Verlag München 2198l S. 20.
  9. Ebda. S. 20f, vgl. auch S. 20, wo Unterrichtsmethode definiert wird "als Inbegriff der Organisations- und Vollzugsformen zielorientierten unterrichtlichen Lernens".
  10. Vgl. grundlegend zur hier angedeuteten Politikvorstellung Buchheim, Hans: Theorie der Politik, R. Oldenbourg München, Wien 1981.
  11. Diese Definition impliziert im übrigen, daß Politik als Modus sozialen Handelns auch in anderen sozialen Bereichen (wie z.B. im Verein und im Betrieb) eine Rolle spielt, insofern als auch dort das "Miteinander" zum Problem werden kann und diese Probleme gemeinsam zu bewältigen sind. Ein Umstand der didaktisch geschickt ausgenutzt, dem Schüler das Verständnis für das Politische erleichtern kann. Aber das Politische ist in diesen Bereichen, in denen es um die Erfüllung gemeinsamer Zwecke (z.B. Produktion von Gütern, sportliche Betätigung etc.) geht, sekundär. Dagegen ist Politiktreiben der alleinige Zweck von im engeren Sinn politischen Organisationen und Institutionen wie z.B. Parteien, Parlamenten etc. Weiterhin verdeutlicht diese Definition, daß für Politik alle sozialen Bereiche insofern relevant sind, als sie durch Politik betroffen sind (durch politisch gesetzte Rahmenbedingungen, gesetzliche Regelungen etc.) oder zukünftig für Politik bedeutsam werden können. Ein Faktum, das aber nicht dazu verführen darf, das Soziale und das Politische zu identifizieren und von daher sämtliche gesellschaftlichen Bereiche zu politisieren.
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  12. Sutor, Bernhard: Neue Grundlegung politischer Bildung, 2 Bände. Band I: Politikbegriff und politische Anthropologie, Band II: Ziele und Aufgabenfelder des Politikunterrichts, Schöningh Paderborn 1984; Bd. II S. 49.
  13. Grundlage dieser philosophisch-politischen Anthropologie ist die Personalität des Menschen, die sich entfaltet und begrenzt ist in dem dialektischen Spannungsverhältnis zwischen Individualität und Sozialität einerseits und Überlieferung und Fortschritt andererseits. Sie sieht den Menschen als "soziale und geschichtlich verfaßte Person, die zur Selbstentfaltung als handelndes und damit verantwortliches Wesen in den Grenzen, aber auch mit den Chancen dieser Bedingungen fähig ist, nämlich in Kommunikation mit den anderen und in wechselnden Situationen"; Sutor a.a.O. Band I S. 60f, vgl. dort auch S. 55-61 und S. 85ff, wo auf diesen anthropologischen Ansatz und dessen Relevanz für Politikbegriff und politische Bildung ausführlicher eingegangen wird.
  14. So gesehen ist politische Bildung, ähnlich wie unsere Geschichte oder unsere Muttersprache ein unverzichtbares Stück Allgemeinbildung. Ein Gedanke der unter dem Stichwort "Politische Bildung als Allgemeinbildung" neuerdings zurecht wieder stärker in der bildungspolitischen Diskussion betont wird. Vgl. dazu die gleichnamige Publikation der bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Seminarberichte 9) mit Beiträgen von Hans Buchheim, Erich E. Geißler und Bernhard Sutor, München 1985.
  15. Vgl. Grosser, D./Hättich, M./Oberreuter, H./Sutor, B.: Politische Bildung. Grundlagen und Zielprojektionen für den Unterricht an Schulen, Klett Stuttgart 1976; vgl. auch grundlegend zum Begriff "Politische Rationalität" als Ziel politischer Bildung Sutor 1984 Band II S. 45ff.
  16. Sutor 1984 Band II S. 50f.
  17. Die hier von der Sache her (politische Rationalität, Politikbegriff) begründete Forderung kann auch lerntheoretisch fundiert werden vgl. dazu Bruner, Jerome S.: Entwurf einer Unterrichtstheorie Düsseldorf 1974, wo der Begriff des Strukturlernens entfaltet wird.
  18. Vgl. Sutor 1984 Bd. II S. 48f, wo der Begriff "Mentalität" zur Kennzeichnung der "engen Symbiose von Kognition und Emotion" im Bereich der Werthaltungen und Interessen, die in der Politik eine kaum überschätzbare Rolle spielen, eingeführt wird.
  19. Hättich, Manfred: Rationalität als Ziel politischer Bildung. Akademiebeiträge zur Lehrerbildung Band 6 Olzog Verlag München 21978 S. 14.
  20. Die im Fragenkatalog unterstrichenen politischen Kategorien (vgl. auch die unten abgedruckte Strukturskizze) sind in der Sekundarstufe I als relativ konkrete Schlüsselfragen zu verwenden. In der Regel können sie erst in der Sekundarstufe II als politische Grundbegriffe selbst zum Gegenstand unterrichtlicher Reflexion gemacht werden.
  21. Sutor 1984 Band II S. 70.
  22. Sutor 1984 Band II S. 91.
  23. Sutor 1984 Band II S. 94.

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