Wenn Geschichtsbewusstsein strukturiert ist, d. h. über die oben ausgewiesenen kategorial wirkenden Strukturmomente definiert ist, ergibt sich daraus der praktische Aspekt. Eine solche Strukturierung kann als Dimensionierungsvorschlag für empirische Forschung sowie als Diagnose-, Analyse- und Planungsinstrument in einer geschichtsdidaktischen Pragmatik Verwendung finden. Die Strukturbestimmung macht Geschichtsbewusstsein für Empirie erforschbar und für Pragmatik identifizierbar. Wir wissen dann, wann wir Geschichtsbewusstsein vor uns haben und wann nicht. Das ist der anfangs skizzierte normative Aspekt.

Bisher ist aber nur von Strukturmomenten die Rede gewesen. Es wurde vorausgesetzt dass diese Momente eine Struktur bilden. Deshalb müssen jetzt noch einige Hypothesen über das Zusammenwirken der Strukturmomente angefügt werden. Das Zusammenwirken der einzelnen Strukturmomente von Geschichtsbewusstsein kann man vielleicht am besten durch eine Matrix ausdrücken (15), in der die Flächen, Linien, Punkte kategorial verfasste und noch nicht inhaltlich gefüllte Potentionalitäten der möglichen Ausprägung von Geschichtsbewusstsein bedeuten. Das Matrixmodell hat den Vorteil, dass das Geschichtsbewusstsein nicht durch die verschiedenen Inhalte (unterschiedliches Wissen) erklärt wird, sondern durch die prinzipiell gleichen Kategorien.


Abb1

Abb. 1: Idealtypische Strukturierung

Diese Struktur, dieses Gitterwerk, hätte die Funktion, dargestellte Geschichte wahrnehmbar zu machen. Das würde aber noch nicht die verschiedenen individuellen Ausprägungen des Geschichtsbewusstseins erklären. Geschichtsbewusstsein hat aber nicht nur eine Wahrnehmungsfunktion, sondern auch eine Deutungsfunktion, und diese Deutung erfolgt individuell und soziokulturell unterschiedlich. Es sind zwar alle Strukturmomente an der (intellektuellen) Verarbeitung und Deutung von Geschichte beteiligt, aber nicht alle in gleicher Weise.

Die bisher vorgestellte Struktur sagt noch nichts darüber aus, wie ein konkret individuelles Geschichtsbewusstsein aussieht und sich von dem Geschichtsbewusstsein eines anderen Individuums unterscheidet. Eine solche Strukturbestimmung sagt vorerst auch nichts darüber aus, was passiert, wenn Geschichtsbewusstsein lebensgeschichtlichen Wandlungsprozessen unterworfen wird. Solche Wandlungen ergeben sich bei einschneidenden lebensgeschichtlichen Erfahrungen in historischen Situationen oder Ereignisketten und durch Denkprozesse über Geschichte, durch Nachdenken, das allerdings durch Gegenwartserfahrungen ausgelöst wird. Eine tiefgreifende Veränderung des Geschichtsbewusstseins - vielleicht die wichtigste - erfolgt in der Adoleszenz. Nicht, dass jetzt erst Geschichtsbewusstsein ausgebildet würde, wie die ältere Entwicklungspsychologie noch behauptet, sondern es erfolgt in der Adoleszenz eine tiefgreifende Umstrukturierung. Daraus müssen für eine elaborierte Theorie des Geschichtsbewusstseins Konsequenzen gezogen werden: Die Struktur des Geschichtsbewusstseins, die zunächst noch statisch ist, muss dynamisiert werden: sie muss individuelle Unterschiede wie lebensgeschichtliche Wandlungen erklären.

Die Struktur wird durch sozial und individuell unterschiedliche Kombinationen von Strukturmomenten gebildet. Das macht die Pluralität von Geschichtsbewusstsein aus.


Abb. 2

Abb. 2: Konkret-individuelle Strukturierung

Bestimmte soziale und individuelle Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein beinhalten die für sie typische Dominanz von bestimmten Strukturmomenten und verweisen die anderen auf einen niedrigeren Rangplatz. Es gibt somit basale und ephemere Strukturmomente in den einzelnen Typen von Geschichtsbewusstsein. Ob allerdings im Laufe der Lebensgeschichte das Kontinuum von basalen bis ephemeren das gleiche bleibt, ist damit noch nicht gesagt.

Es ergeben sich also "Verzerrungen" der Strukturierung, die nicht nur individuelle Verschiedenheit ausdrücken, sondern darüber hinaus auch die Sinnbildungsprozesse bei der kreativen Produktion wie auch bei der produktiven Transformation von Geschichten anzeigen können. Wo sich die Strukturverzerrungen kumulieren, wäre also die individuell eigenartige "Sinnmitte" des Geschichtsbewusstseins zu lokalisieren, die die Ereignisbeschreibungen zu sinnvollen Geschichten erzählt. Sinnbildungsprozesse müssen von einem anfangs "leeren" Sinnzentrum ausgehen, wenn es sich um Bildungsprozesse handelt, also um solche Prozesse, in denen etwas entsteht. Sinnbildung entsteht somit durch Verzerrung der idealtypischen Struktur, d. h. einzelne Dimensionen verschieben sich und bilden damit ein Sinnzentrum aus.

Konkrete Formen von Geschichtsbewusstsein könnten etwa dann in den folgenden Arten beschrieben werden:

  • Traditionelle Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein aktualisieren aus dem Potential der Möglichkeiten lediglich die Dimensionen der staatlich verfassten Macht und Herrschaft in der als Nation organisierten Wir-Gruppe.
  • Dieser traditionell bürgerlichen Ausprägung von Geschichtsbewusstsein steht ein nicht weniger traditionelles, sich antibürgerlich gebendes Geschichtsbewusstsein gegenüber. Hier wird die Wir-Gruppe am unteren Ende der ökonomischen Stratifikation angesiedelt. Das Historizitätsbewusstsein ist auf die Aufhebung aller ökonomischen Stratifikationen und der daran gebundenen Herrschaftsverhältnisse gerichtet.
  • Neuere Bewusstseinsformen setzen die Definition der Wir-Gruppe zwar auf der Seite der ohnmächtigen und ökonomisch Abhängigen an. Konstitutiv ist aber, dass sie sich in der Objektrolle, der Rolle der Leidenden, aber moralisch Mächtigen sehen. Legitimation ergeben nicht die stolzen Taten der Vergangenheit, sondern die antizipierten Schrecken der Zukunft (16).

Über die Beschreibung von Geschichtsbewusstsein durch die ausgewiesenen Doppelkategorien ließe sich sicherlich hinsichtlich Vollständigkeit und zureichender Definition der einzelnen Momente diskutieren. Mein Vorschlag zielt in erster Linie aber auf zwei mir wichtig erscheinende Punkte:

  1. Es gilt, Geschichtsbewusstsein als ein komplexes Gebilde aufzufassen, das sich durch kategorial wirkende Strukturen auszeichnet und sich nicht über die Anwesenheit oder Abwesenheit von historischem Wissen definiert.
  2. Geschichtsbewusstsein ist nicht nur eine formale Orientierung in der historischen Zeit, sondern eine sozial-politische Orientierung über sich wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse.

Wollte man die ersten drei Strukturmomente (Zeit, Wirklichkeit, Historizität), die in der Tat eine grundlegendere Ebene des Geschichtsbewusstseins bilden als die übrigen vier (Identität, Herrschaft, Sozialschicht, Moral), allein zur Definition von Geschichtsbewusstsein heranziehen, so würde Geschichtsbewusstsein entpolitisiert und dem Gesamtbereich "Geschichte" nur sehr verkürzt Rechnung getragen.