Das Geschichtsbewusstsein bezeichnet die geistige Fähigkeit, gegenwärtige soziale Formationen als zeitgebunden betrachten zu können. Außerdem ist die "Sorge um die Zukunft" als ein "wesentlicher Antrieb zur Bildung eines 'geschichtlichen Bewusstseins'" (20) zu begreifen. Die Kategorie des Geschichtsbewusstseins verweist die Geschichtsdidaktik auf den "Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung" (21) . Dadurch wird die Geschichte aus ihrer Fixierung auf die Vergangenheit gelöst und als Denktätigkeit der Gegenwart vorstellbar. Die Eigenart des "Geschichtsbewusstseins" ist nicht mehr in dem Bemühen um "Erkennen der Vergangenheit, sondern in der Verzeitlichung der Vergangenheit" zu sehen, die einem "Interesse an Zukunft folgt" (22) . Die Grundfigur historischen Denkens weist somit über das Vergangene hinaus und ist gegenwarts- und zukunftsbezogen.

In dieser allgemeinen Form lässt sich das Geschichtsbewusstsein als ein Ensemble von "Vorstellungen über Vergangenheit" (23) begreifen. Damit erfasst die Kategorie den Umstand, dass Geschichte nicht in der Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit aufgeht, sondern immer "auch das Bild [ist], das sich Menschen von ihr machen" (24) . Ganz allgemein bezeichnet Geschichtsbewusstsein also die Kompetenz, "die der Orientierung in den zeitlichen Veränderungen unseres Lebens und unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit dienlich ist" (25) . Erinnerungen an die Vergangenheit werden gedeutet, um die Lebenspraxis zu perspektivieren.

Davon ausgehend, dass die allgemeine Funktion des Bewusstseins die Produktion von Sinn ist, lässt sich konkretisieren, dass "historisches Denken [...] aus Zeit Sinn [macht]" (26) . Die historische Sinnbildung stellt diejenige Tätigkeit des Bewusstseins dar, die Erinnerungen an die Vergangenheit verzeitlicht. Im Prozess der Verzeitlichung werden Zeitzusammenhänge in Sinnzusammenhänge transformiert. Das Geschichtsbewusstsein strukturiert die Denkprozesse, die aus Zeit Sinn machen.

Jörn Rüsen begreift diese Bewusstseinstätigkeit als 'historisches Erzählen'. Historisches Erzählen drückt sich in der Tätigkeit aus, die Erfahrungen der Vergangenheit in der Gegenwart so zu deuten, dass Zukunft als Handlungsperspektive erschlossen wird (27). In diesem Sinn ist das historische Erzählen die das Geschichtsbewusstsein konstituierende Grundoperation. Es ist eine Form des Denkens, die es überhaupt erst rechtfertigt, historisches Bewusstsein als einen Teilbereich des allgemeinen Bewusstseins zu spezifizieren (28).

Historisches Lernen lässt sich demnach nicht als eine analoge Übernahme von historischem Wissen begreifen. Vielmehr werden durch die Auseinandersetzung mit vergangenheitsbezogenen Inhalten, spezifische historische Sinnbildungskompetenzen entwickelt (29). Historisches Lernen entwickelt eine mentale Bewusstseinsstruktur, die Vergangenheitserinnerung mit Sinnbezügen zur gegenwärtigen Problembewältigung auflädt.