Bergmann, Klaus (1988): Gesellschaftslehre – aus der Sicht des Geschichtsunterrichts

Niemand wird es einem Geschichtsdidaktiker verdenken, wenn er auch historisch denkt, wenngleich seine eigentliche Betätigung das systematische Nachdenken über historisches Lernen und die Bildung von Geschichtsbewusstsein ist. Ich muss noch einmal zurück zur Ausgangsposition den kulturkampfähnlichen Auseinandersetzungen, die 1972 mit der ersten Vorlage der HRRL GL aufgebrochen sind. Wenige Begriffe haben damals die Gemüter der Gegner der RRL mehr bewegt und erregt als der des Gegenwartsbezuges der Geschichte.

Es ginge offenkundig darum, so die Gegner wörtlich, "die historische Bildung auf das Bereitstellen von Argumenten für gesellschaftliche Probleme der Gegenwart einzuschränken". Dies entspreche – so wörtlich – "totalitärem Denken". Um so mehr müsse – so wörtlich – "darauf hingewiesen werden, dass es eine typische Methode politischer Diktatursysteme ist, die Geschichtsbetrachtung auf das Herauspräparieren von historischen Belegstücken zu beschränken, die zur Untermauerung der eigenen Legende oder Weltanschauung dienen" (1).

Geschichte werde dadurch – so wörtlich – "zum Belegmaterial für Gegenwartsbezüge denaturiert" (2).

Oder die Geschichte – so wörtlich – "wird ebenso wie die Geographie zu einem Steinbruch der politischen Argumentation, aus dem man sich je nach Bedarf Belege für die eigene Gegenwartsdeutung holt" (3).

Es steht zu erwarten, besser: zu hoffen, dass die Verfasser solcher Vorwürfe heute anders über diesen zentralen Begriff der Geschichtstheorie und der Geschichtsdidaktik denken. An diesem Begriff kommt niemand, der über Geschichtsunterricht und über den Beitrag des Geschichtsunterrichts zur historisch politischen Bildung nachdenkt, vorbei. Und es kommt nach der intensiven erkenntnistheoretischen und geschichtsdidaktischen Diskussion, die in den letzten Jahren geführt worden ist, niemand daran vorbei, differenzierter die in diesem Begriff enthaltenen Implikationen und Konsequenzen zu sehen und zu beurteilen, als das 1972 und in den folgenden Jahren zum Zwecke politischer Argumentation und Agitation geschehen ist.

Ich stelle diesen Begriff, diese geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Kategorie in den Mittelpunkt meiner Überlegungen. Sie ist der Schlüsselbegriff, der eine geschichtsdidaktische Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit der Selbständigkeit der Fächer mit der Forderung nach fächerübergreifendem Unterricht allererst ermöglicht.

  1. Ich werde diese Kategorie in einem ersten Teil aus geschichtstheoretischer Sicht besprechen. Geschichtstheorie ist diejenige Disziplin der Geschichtswissenschaft, die nach den Grundlagen, Voraussetzungen, Möglichkeiten historischer Erkenntnis fragt.
  2. In einem zweiten Teil werde ich die Kategorie Gegenwartsbezug aus der Sicht der Geschichtsdidaktik befragen. Geschichtsdidaktik ist diejenige Disziplin, die nach den Grundlagen, Voraussetzungen und Möglichkeiten von Bildungs und Selbstbildungsprozessen an und durch Geschichte fragt und sich der Frage nach der Bildung von Geschichtsbewusstsein widmet.
  3. Im dritten Teil werde ich mich der Frage zuwenden, welche Konsequenzen sich aus den Bestimmungen der geschichtstheoretischen und der geschichtsdidaktischen Kategorie für die historisch politische Bildung ergeben, um schließlich im
  4. vierten Teil Fragen zu stellen, die auf eine Zusammenarbeit der an historisch politischer Bildung beteiligten Fächer gerichtet sind.