Viele Kritiker erklären die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses in Deutschland vor allem aus politischen und ökonomischen Veränderungen, die zu einer rigorosen Verschiebung der Machtbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit geführt haben. "Jobless Growth" und Massenarbeitslosigkeit, begleitet von einer neoliberalen Deregulierungsoffensive, schaffen demnach Machtasymmetrien in der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt, die es den Unternehmen erlauben, neue Flexibilisierungsstrategien durchzusetzen, das herkömmliche System hoher, dichter und egalitär ausgerichteter Schutzstandards auszuhöhlen und neue Differenzierungen zulasten der Arbeitnehmer zu schaffen.

Eine solche Argumentation ist sicherlich nicht unbegründet. Sie erscheint aber verkürzt, weil sie andere Quellen übersieht, die das Normalarbeitsverhältnis unter Veränderungsdruck setzen: den Strukturwandel der Wirtschaft, der die Basis für eine neuartige Differenzierung von Tätigkeiten und Arbeitsverhältnissen legt, sowie Prozesse des gesellschaftlichen Wandels, in dem sich auch die Ansprüche der Arbeitnehmer an die Beschäftigungsverhältnisse verändern und differenzieren. [/S. 16:]

3.1 Deregulierung

Die konservativ-liberale Koalition hat seit den achtziger Jahren und zumal im Zuge der Diskussion um den "Standort Deutschland" Maßnahmen der rechtlichen Deregulierung durchgesetzt. Sie hatten u. a. folgende Schwerpunkte: die Ausweitung der rechtlichen Spielräume für Leiharbeit und für befristete Arbeitsverträge; die Einschränkung des Kündigungsschutzes und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; die Verminderung von Transferzahlungen an Arbeitslose und Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen (vgl. Hoffmann/ Walwei 1998, S. 4).

Insgesamt ist aber die rechtliche Deregulierung in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern eher moderat ausgefallen; sie ist widersprüchlich, wenig systematisch und eher "zögerlich oder gar halbherzig" (Keller/ Seifert 1997, S. 530) eingeführt worden, und sie gibt jene eigentümliche Kontinuität wieder, welche den "rheinischen Kapitalismus" (Michel Albert) mit seinem breiten Spektrum politischen Konsenses und letztlich doch relativ stabilen Mustern sozialen Kompromisses charakterisiert. Obwohl das hohe Niveau und die große Dichte der Regulierung in Deutschland kräftige Deregulierungseinschnitte durch die konservative Regierung erwarten ließen, blieben die regulativen Veränderungen im Rahmen der gewachsenen rechtlichen Grundstrukturen. Offensichtlich wirken, wie Berndt Keller und Hartmut Seifert feststellen, die "Regulierungsmechanismen, Institutionen und Handlungsstrategien der korporativen Akteure (...) als Sicherungen, Barrieren und wichtige Stabilitätsbedingungen" (Keller/ Seifert 1997, S. 530). Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses ist daher weniger Ergebnis der Deregulierung von Rechtsnormen. Sie drückt vielmehr vor allem die Veränderung von Normalität im Rahmen gegebenen Rechts aus (vgl. Höland 1996, S. 100).

3.2 Veränderungen am Arbeitsmarkt und wirtschaftlicher Strukturwandel

Wie aber lässt sich der Wandel von Normalität erklären? Es liegt zunächst nahe, den Veränderungen am Arbeitsmarkt eine bestimmende Rolle einzuräumen.

Seit den sechziger und insbesondere seit den siebziger Jahren haben sich die Wachstumsraten drastisch reduziert und sind beträchtlich unter der Steigerung der Produktivität geblieben. Mit der Produktivitätsschere hängt zusammen, dass das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen - also die gesamte für abhängige Arbeit aufgewendete Zeit der Gesellschaft in Westdeutschland - in den letzten 35 Jahren beträchtlich, nämlich um fast 20 Prozent geschrumpft ist. Im selben Zeitraum, vor allem in den achtziger Jahren, hat sich aber die Zahl der Erwerbspersonen stark, um fast 10 Prozent erhöht, bedingt durch die rasche Zunahme der Erwerbsbeteiligung von Frauen, die Zuwanderung und den Eintritt geburtenstarker Jahrgänge in den Arbeitsmarkt. Dass die Zahl der Arbeitslosen nicht noch wesentlich höher ist, ist insbesondere der starken Arbeitszeitverkürzung zuzurechnen: In den letzten 35 Jahren hat sich die reale Arbeitszeit je Arbeitnehmer um gut ein Viertel reduziert, also weit mehr als das Arbeitsvolumen. Das geringere Arbeitsvolumen verteilt sich daher auf eine größere Zahl von Erwerbstätigen (vgl. Berliner Memorandum 1995). Insgesamt haben sich aber die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt angesichts der Disparität von Angebot und Nachfrage gegenüber den sechziger und siebziger Jahren drastisch verändert und die Substitution von Normarbeitsverhältnissen durch abweichende Formen gefördert. So sind heute Beschäftigungsformen zumutbar, die früher kaum akzeptabel waren.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, die Differenzierung der Beschäftigungsformen nur auf die Verschiebungen der Machtbeziehungen am Arbeitsmarkt zurückzuführen. Von zentraler Bedeutung ist auch der wirtschaftliche Strukturwandel, in dessen Verlauf sich Formen der Arbeit und Arbeitsorganisation und damit die Erwerbstätigkeiten selbst verändern. Seit den siebziger Jahren hat die rapide "Tertiarisierung" den Arbeitsmarkt auf eine schleichende, aber darum nicht weniger dramatische Weise umstrukturiert: Der Dienstleistungssektor und darin vor allem der Bereich der unternehmensbezogenen und sozialen Dienstleistungen hat ein enormes Wachstum erfahren und die Industrie in ihrem Beitrag zu Wertschöpfung und Beschäftigung weit hinter sich gelassen (vgl. Haisken-De New u. a. 1998). Aber auch in der Industrie selbst zeigen sich Tendenzen der Tertiarisierung: "Direkte" Produktionsarbeit [/S. 17:] verliert an Bedeutung; viele Tätigkeiten sind inzwischen eher den Dienstleistungen als der materiellen Produktion zuzurechnen (vgl. Deutschmann 1997, S. 42).

Dienstleistungsarbeit ist häufig in höchst flexible Organisations- und Zeitstrukturen eingebettet, die nur noch wenig mit der klassischen Industriearbeit und ihren standardisierten Ordnungsregimen zu tun haben. Im expandierenden Dienstleistungsbereich finden wir Tätigkeiten, die große Autonomie der Arbeits- und Kooperationsgestaltung, der Zeitverwendung und räumlichen Mobilität verlangen oder zulassen, ebenso wie Arbeiten, deren Rhythmus vor allem von den Flexibilisierungsinteressen der Unternehmen diktiert und/ oder, wie im Bereich der sozialen und persönlichen Dienstleistungen, von dem Bedarf der Klienten bestimmt wird.

Diese Tendenzen des ökonomischen Strukturwandels tragen zur Veränderung der Profile und ebenso der organisatorisch-institutionellen Kontexte von Erwerbstätigkeit bei. Erwerbstätigkeit wird immer weniger durch den Typ der Produktionsarbeit in der standardisierten Massenfertigung repräsentiert, sondern zeigt eine bislang ungekannte Differenzierung von Arbeitstypen und Qualifikationsanforderungen selbst innerhalb derselben Unternehmen und Institutionen. Und auch der Organisationstyp, der das Normalarbeitsverhältnis stützte - das große Unternehmen -, büßt an Bedeutung ein gegenüber den kleinen und mittleren Unternehmen und/ oder neuen, netzwerkförmigen Zusammenhängen mit oft instabilen Marktbedingungen und flexiblen Organisationsformen und Zeitregimes (vgl. Kühl 1998 und Rogowski/ Schmid 1997, S. 568 ff.).

3.3 Erosion des traditionellen Systems von Kollektivvereinbarungen

Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, ökonomischer Strukturwandel und neuartige Differenzierungen von Unternehmen und Erwerbstätigkeit setzen auch eine institutionelle Stütze des Normalarbeitsverhältnisses unter Druck: das herkömmliche System der Kollektivvereinbarungen und sein Herzstück, den Flächentarifvertrag. Seit den achtziger Jahren, in Zeiten schrumpfender Wachstumsmargen und wachsender Arbeitslosigkeit, hat dieses System in zweierlei Hinsicht an allgemeiner Regulierungskraft eingebüßt: Erstens werden Pioniervereinbarungen nicht mehr wie früher in den Tarifverträgen anderer Branchen übernommen und verallgemeinert, mit der Folge, dass sich die Kollektivvereinbarungen zwischen Wirtschaftsbereichen immer mehr unterscheiden. Zweitens wer- den zunehmend auch Standards des Flächentarifvertrags selbst "flexibilisiert", d. h. differenziert und spezifischen betrieblichen Bedingungen angepasst.

Nach der Lage und Länge der Arbeitszeiten - früher ein Kernstück tariflicher Standardisierung - sind in den neunziger Jahren auch Löhne und Sozialleistungen in den Flexibilisierungssog geraten (vgl. Bispinck 1997, S. 555 f.). So wurden zunehmend Öffnungsklauseln, die betriebsspezifische Abweichungen oder Ausgestaltungen von tariflichen Normen erlauben, in die Tarifverträge eingeführt; Härteklauseln gestatten die befristete Unterschreitung von Tarifnormen. In Tarifverträgen wurden Entgeltstandards differenziert und mitunter Sozialleistungen eingeschränkt. Neben kollektiv regulierten Formen gewinnen auch Formen der "wilden" Flexibilisierung, die einseitig von Unternehmen durchgesetzt oder ohne Kenntnis der Gewerkschaft mit Betriebsräten vereinbart werden, an Boden.

Mit der "Verbetrieblichung" der Arbeitsbeziehungen verändert sich nicht nur die Rolle der betrieblichen Akteure im Verhältnis zu den Repräsentanten der Verbände, welche die Flächentarifverträge aushandeln. Es verändert sich auch der Bezugsrahmen der Politiken, da nun die spezifische betriebliche Situation an Gewicht gewinnt. Schließlich wird einem Regelungssystem der Boden entzogen, das bislang die Angleichung von Arbeits- und Vertragsbedingungen förderte, und es öffnen sich mit den neuen Differenzierungen auch neue materielle Disparitäten.

3.4 Veränderte gesellschaftliche Ansprüche an die Erwerbsarbeit

Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses wird schließlich auch durch soziokulturelle Veränderungen befördert. Das wird besonders deutlich im Bereich der rasch expandierenden Teilzeitbeschäftigung. Im Jahre 1997 waren in Westdeutschland immerhin fast 40 Prozent aller erwerbstätigen Frauen und 10 Prozent der Männer teilzeitbeschäftigt (vgl. Holst/ Schupp 1998). [/S. 18:] Die rasche Zunahme der Teilzeitarbeit seit den achtziger Jahren hängt eng mit den Veränderungen des Erwerbsverhaltens und der Erwerbsorientierungen zusammen. Von Bedeutung ist vor allem die wachsende Erwerbsbeteiligung der Frauen, die sich zunehmend der der Männer angleicht. Sie erklärt sich gleichermaßen aus dem in den letzten Jahrzehnten stark gestiegenen weiblichen Bildungs- und Ausbildungsniveau, aus der Erosion des traditionellen Familienmodells und der zunehmenden Verbreitung von Haushaltsformen, in denen die Berufstätigkeit der Frau zur wichtigen oder einzigen Einkommensquelle der Familie wird. Teilzeitbeschäftigung ermöglicht vielen Frauen, die aufgrund ihrer sozialen Verpflichtungen in der Familie - etwa Kindererziehung und Altenpflege - und der unzureichenden öffentlichen Betreuung keine Vollzeitbeschäftigungen eingehen können oder möchten, erst den Zugang zur Erwerbstätigkeit, ohne die - kulturellen - Ansprüche an die Familienversorgung und Kinderbetreuung zu verletzen und die traditionelle Arbeitsteilung in der Familie in Frage zu stellen. Teilzeitarbeit schafft so neue Spielräume, setzt aber auch soziale Ungleichheits- und Abhängigkeitsbeziehungen fort.

Auch für andere Gruppen schafft die Teilzeitbeschäftigung erst die Möglichkeit, die Erwerbstätigkeit mit anderen Tätigkeiten - etwa Ausbildung und Weiterbildung, Betreuung, Eigenarbeit oder ehrenamtliche Tätigkeiten - zu verbinden, selbst wenn sie meist kaum ein existenzsicherndes Individualeinkommen und keine angemessene soziale Sicherung für Alter und Ausfallszeiten vermittelt.

Insgesamt entspricht das traditionelle Normalarbeitsverhältnis immer weniger den vielfältigen Notwendigkeiten, Bedürfnis- und Interessenlagen in einer Gesellschaft, in der traditionelle kollektive Lebenszusammenhänge, -stile und -rhythmen aufbrechen und sich differenzieren und mit ihnen Lebensplanung und Erwerbsstrategien der Individuen.