Peter Weinbrenner
Szenario-Technik ist eine Methode, mit deren Hilfe isolierte Vorstellungen über positive und negative Veränderungen einzelner Entwicklungsfaktoren in der Zukunft zu umfassenden Bildern und Modellen, d.h. möglichen und wahrscheinlichen "Zukünften", zusammengefaßt werden und die sowohl sinnlich als auch intellektuell nachvollziehbar, d.h. "kommunizierbar" sind. Szenarien verknüpfen empirisch-analytische mit kreativ-intuitiven Elementen und sind insofern ein heuristisches Instrument, ein Befragungsvehikel, ein Denkmodell für Wissenschaft, Politik und nicht zuletzt für Pädagogik, um unsere komplizierte Welt überhaupt noch begreifen zu können und entscheidungsfähig zu bleiben.
Die Charakteristika der Szenario-Methode können am besten mit Hilfe des sogenannten "Szenario-Trichters" verdeutlicht werden (vgl. Abb. 1). Der Trichter symbolisiert Komplexität und Unsicherheit, bezogen auf die Zukunft: Je weiter man von der heutigen Situation in die Zukunft geht, desto größer wird die Unsicherheit und desto umfassender und vielfältiger wird die Komplexität (vgl. Reibnitz 1991, S. 26).
Die Schnittfläche des Trichters bezeichnet die Summe aller denkbaren und theoretisch möglichen Zukunftsituationen für den angepeilten Zeithorizont. Der Vorteil der Szenario-Methode liegt nun darin, daß eigentlich nur zwei Grundtypen von Szenarien entwickelt werden müssen, um damit alle logisch möglichen und empirisch wahrscheinlichen Szenarien charakterisieren zu können:
- ein positives Extremszenario: es bezeichnet die günstigstmögliche Zukunftsentwicklung (best-case-scenario),
- ein negatives Extremszenario: es bezeichnet den schlechtestmöglichen Entwicklungsverlauf (worst-case-scenario).
Zusammengefaßt können die Merkmale der Szenario-Technik wie folgt beschrieben werden:
- Szenarien sind ganzheitlich, d.h. alle relevanten Bestimmungsfaktoren eines Problembereichs sollen erfaßt werden,
- Szenarien sind kreativ-intuitiv, d.h. einzelne Daten und Bestimmungsfaktoren müssen zu anschaulichen, plastischen "Zukunftsbildern" verdichtet und ausgestaltet werden,
- Szenarien sind partizipativ und kommunikativ, d.h. sie können nur in einem offenen, rationalen Diskurs entwickelt werden, durch den sie ein hohes Maß an Plausibilität und Nachvollziehbarkeit erhalten,
- Szenarien sind transparent, d.h. es müssen alle Methodenschritte, Hypothesen, Informationen usw. offengelegt und begründet werden,
- Szenarien sind kritisch, d.h. sie bieten zahlreiche Anlässe zur Selbstreflexion und öffentlichen Kritik,
- Szenarien sind politisch, d.h. sie modellieren erwünschte bzw. unerwünschte gesellschaftliche Entwicklungen und haben somit die Funktion eines "Frühwarnsystems", das ein rechtzeitiges Eingreifen und Umsteuern ermöglicht,
- Szenarien sind multidimensional und interdisziplinär, d.h. sie stellen eine Methode dar, die vernetztes, systemisches und interdisziplinäres Denken ermöglicht und sich nicht nur auf kausalanalytische Ursache-Wirkungs-Beziehungen beschränkt,
- Szenarien sind praktisch, d.h. sie fordern zu aktivem Mitwirken und Gestalten erwünschter zukünftiger Entwicklungen auf und entwickeln Strategien und Maßnahmen für die Veränderung sozialer Situationen im Lichte allgemein anerkannter Zielvorstellungen,
- Szenarien sind normativ, d.h. in die Modellierung von Szenarien fließen gesellschaftliche Wertvorstellungen über erwünschte bzw. unerwünschte Entwicklungen und "Zukünfte" ein.
Nach Reibnitz (vgl. ebenda, S. 28) müssen Szenarien folgenden Kriterien entsprechen:
- Größtmögliche Stimmigkeit, Konsistenz und Widerspruchsfreiheit, d.h. die einzelnen Entwicklungen innerhalb eines Szenarios dürfen sich nicht gegenseitig aufheben;
- Größtmögliche Stabilität des Szenarios, d.h. die Szenarien dürfen nicht bei kleineren Erschütterungen oder Veränderungen einzelner Faktoren zusammenbrechen;
- Größtmögliche Unterschiedlichkeit der Grundtypen, d.h. man soll bei der Ausgestaltung der Extrem-Szenarien möglichst nahe an die Ränder des Trichters herankommen.
Ähnlich wie bei der Zukunftswerkstatt ist auch die Szenariomethode nach einem strengen Phasenschema aufgebaut, das im Unternehmensbereich acht bis zehen Phasen vorsieht. Allerdings handelt es sich hierbei um sogen. "strategische Szenarien", die vor allem im Rahmen der Unternehmensplanung Verwendung finden und oft mit Computerunterstützung arbeiten. Solche Planungkonzepte sind zwar prinzipiell auch für den Einsatz an Schulen, insbesondere an berufsbildenden Schulen und Fachhochschulen, geeignet, doch fehlt es z.Zt. dafür wohl in den meisten Fällen an der hard- und softwaremäßigen Ausstattung sowie an dafür speziell ausgebildeten Lehrern. Es wird daher ein didaktisch reduziertes Phasenmodell vorgeschlagen, daß nur mit vier Phasen arbeitet:
I. Problemanalyse
Ausgangspunkt jedes Szenarios ist ein gesellschaftliches Problem, d.h. ein von einer größeren Anzahl von Gesellschaftsmitgliedern als unbefriedigend angesehener Sachverhalt, der als dringend lösungsbedürftig, aber auch prinzipiell lösungsfähig angesehen wird und zu dem unterschiedliche wissenschaftliche und/oder politische Lösungsansätze angeboten werden (Kontroversität).
Folgende Leitfragen könnten die Problemdefinition erleichtern:
- Welche Erscheinungen sind zu beobachten?
- Wer ist betroffen?
- Welche Fakten, Hypothesen und Zusammenhänge sind bekannt?
- Durch welche Sachverhalte und Ereignisse wird das Problem als gesellschaftlich relevant und lösungsbedürftig angesehen?
Am Ende der Problem- und Aufgabenanalyse sollte eine genaue Problembeschreibung stehen.
II. Phase der Umweltanalyse und Deskriptorenbestimmung
In diesem zweiten Schritt geht es darum, alle Einflußbereiche zu identifizieren, die auf das Untersuchungsfeld unmittelbar einwirken. An dieser Stelle wird bereits der enge Zusammenhang von Szenariotechnik und Systemanalyse deutlich. In einem schrittweisen Annäherungsprozeß geht es jetzt darum, einen Systemzusammenhang zu entwickeln, und zwar "vom Ganzen zum Detail" (Vester 1990, S. 30). Nach der Bestimmung des Untersuchungsfeldes (z.B. Entwicklung des Automobilverkehrs in der Bundesrepublik bis zum Jahre 2020) soll nunmehr durch die Bestimmung von Einflußbereichen und Einflußfaktoren ein Systembild bzw. ein "heuristisches Wirkungsgefüge des Gesamtmodells" (ebd. S. 31) entwickelt werden. Anhand eines Systembildes (vgl. Abb.2) können beispielsweise folgende Variablen identifiziert werden: Mensch/Umwelt(Natur)/Gesellschaft/ Wirtschaft/ Automobilindustrie/ Auto(Fahrzeug)/Verkehr.
Diese Festlegung ist zunächst spontan und intuitiv. Es ist ein Akt der kommunikativen Problemdefinition, in die Erwartungen, Interessen und Bedürfnisse einfließen. Diese Variablen können als Einflußbereiche definiert werden. Nunmehr ermittelt man die Einflußfaktoren innerhalb der verschiedenen Einflußbereiche, um auf diese Weise das System weiter auszudifferenzieren.
III. Entwicklung und Ausgestaltung von Szenarien
Diese Phase kann als Höhepunkt der Szenario-Technik bezeichnet werden, da nunmehr aus den gewonnenen Faktorenanalysen und Deskriptorenbestimmungen ausführliche Szenarien, d.h. ganzheitliche "Zukunftsbilder" erstellt werden sollen, die in anschaulicher und sinnfälliger Weise mögliche Zukunftsentwicklungen und ihre Konsequenzen sichtbar und diskutierbar machen. In der Regel werden bei Gruppengrößen von 20 - 30 Personen in 4 Arbeitsgruppen zwei Positivszenarien und zwei Negativszenarien erstellt.
IV. Die Phase der Entwicklung von Strategien und Maßnahmen zur Problemlösung
In der abschließenden Phase wird an die Problemanalyse der Ausgangssituation angeknüpft mit der Aufgabenstellung, nunmehr die Konsequenzen aus den entwickelten Szenarien zu ziehen und Handlungs- bzw. Gestaltungsstrategien zu entwickeln, die dazu dienen, gewünschte Entwicklungslinien zu unterstützen und zu verstärken sowie unerwünschten Entwicklungen entgegenzuwirken bzw. sie abzuschwächen. Hierzu müssen die in der 2. Phase gefundenen Einflußbereiche und Einfußfaktoren sowie Deskriptoren noch einmal angeschaut werden, um herauszufinden, durch welche Strategien und Maßnahmen sie jeweils in die gewünschte Entwicklungsrichtung beeinflußt werden können. Ziel ist die Erstellung eines Handlungskatalogs, der in Form einer Prioritätenliste aufgestellt werden kann. Dabei sollten alle gesellschaftlichen Handlungsfelder auf ihren potentiellen Beitrag zur Zielerreichung befragt werden, etwa nach dem Schema:
- was kann der Einzelne tun?
- was können wir zusammen in Gruppen tun (Aktionsgruppen, Bürgerinitiativen, Vereine usw.)?
- welchen Beitrag kann die Schule leisten?
- was können die Betriebe tun?
- was können die großen Verbände tun (z.B. Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Berufsverbände usw.)?
- was können die Politiker und der Staat auf den verschiedenen Ebenen tun (Kommunalpolitik, Landespolitik, Bundespolitik)?
- welchen Beitrag kann die Wissenschaft leisten?
- was können die Kirchen tun?
Dies sind in relativer Vollständigkeit die politischen Akteure, deren Zusammenwirken insgesamt das gesellschaftliche Kräftefeld beeinflussen und die damit die zukünftige Entwicklung und die Richtung des gesellschaftlichen Fortschritts bestimmen. In dieser Phase wird der politische Charakter der Szenariotechnik offenkundig, weil nunmehr auf allen politischen Handlungsebenen (Individuum, Gruppen, Staat, Weltgemeinschaft) für die jeweiligen Akteure herausgefunden werden soll, welchen Beitrag sie zu einer positiven, d.h. "zukunftsfähigen" Gesellschaftsgestaltung und Entwicklung leisten können. Ein solches Vorgehen vermeidet eine einseitig individualistische Handlungsstrategie, ohne die gesellschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen politischen Handelns in die Betrachtung mit einzubeziehen. In Szenarien lernen Schülerinnen und Schüler, mit einer komplexen Welt fertigzuwerden, deren Zukunft mit großer Unsicherheit behaftet ist, die aber zugleich ungeahnte Entwicklungschancen und Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Diese prinzipielle "Zukunftsoffenheit" sichtbar und erlebbar zu machen, ist eine wesentliche Voraussetzung für den Abbau irrationaler Zukunftsangst und politischer Resignation, wie sie in vielen Jugendstudien belegt immer wieder belegt werden. Die Jugendlichen angesichts zahlreicher Risikolagen und Bedrohungsängste wieder "zukunftsfähig" zu machen, ist in unserer Zeit eine der wichtigsten Herausforderungen der Schule, insbesondere auch der politischen Bildung. Die spezifischen Leistungen der Szenariotechnik als neue Methode der politischen Bildung lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Szenarien machen die Vielfalt möglicher und wahrscheinlicher Zukünfte sichtbar.
- Szenarien fördern vernetztes, systemisches und kybernetisches Denken.
- Szenarien verstärken die Einsicht, daß die Zukunft prinzipiell gestaltbar und veränderbar ist und daß es viele Optionen für die Zukunft gibt.
- Szenarien machen deutlich, daß unsere Zukunftsbilder und -visionen von Werten und Normen abhängig sind (z.B. dem Leitbild der "Nachhaltigkeit").
- Szenarien vermitteln die Erkenntnis in die prinzipielle Unsicherheit und Risikobehaftetheit aller auf die Zukunft gerichteten Entscheidungen und Handlungen.
- Szenarien fördern eine "verständigungsorientierte Kommunikation" und erhöhen damit die Rationalität von Entscheidungen und Handlungen.
Literatur
Battelle-Institut e.V. Frankfurt (Hrsg.) o.J.: Battelle-Szenario-Technik, Frankfurt.
Burmeister, Klaus u. Karlheinz Steinmüller (Hrsg.) 1992: Streifzüge ins übermorgen, Weinheim 1992
Flechtheim, Ossip K. 1986: Sieben Herausforderungen und drei Zukunftsszenarios, in: Technotopia - das Vorstellbare, das Wünschbare, das Machbare, Weinheim, 155 - 172.
Geschka, Horst/ Hammer, Richard 1992: Die Szenario-Technik in der strategischen Unternehmensplanung, in: Hahn, Dieter/Taylor, Bernard (Hrsg.): Strategische Unternehmensplanung, Heidelberg, 311-336.
Kampe, Regine 1994: Zukunftswerkstatt und Szenariomethode. Ein Methodenvergleich im Hinblick auf ökologisches Lernen in der politischen Bildung. . Schriften zur Didaktik der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Nr. 30. Universität Bielefeld (über den Verfasser zu beziehen).
König, Manfred 1988: Szenariotechnik. Unterrichtsgegenstand und Unterrichtsmethode in kaufmännischen Schulen. In: Manfred Becker und Ulrich Pleiss (Hrsg.): Wirtschaftspädagogik im Spektrum ihrer Problemstellung, Baltmannsweiler, 260-279
Reibnitz, Ute von 1991: Szenario-Technik. Instrumente für die unternehmerische und persönliche Erfolgsplanung. Wiesbaden.
Vester, Frederic 1990: Ausfahrt Zukunft. Strategien für den Verkehr von morgen. Eine Systemuntersuchung, München.
Weinbrenner, Peter 1994: Die Wiedergewinnung der Zukunft als universale Bildungsaufgabe - Zukunftswerkstatt und Szenariotechnik im Methodenvergleich. In: Fischer, Andreas und Hartmann, Günter (Hrsg.): Ökologisches Lernen - Projekte stellen sich vor. Hattinger Materialien zur beruflichen Umweltbildung. 11. Hattingen, S. 75 - 114
Weinbrenner, Peter 1995: Auto 2010 - Ein Szenario zum Thema "Auto und Verkehr". In: Steinmann, Bodo und Weber, Birgit (Hrsg.): Handlungsorientierte Methoden in der Ökonomie. Neusäß, S. 432 - 441.
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