Hans-Dieter König
Inhalt
1. Zur Methode und zum Gegenstand der Fallrekonstruktion
2. Eine Inhaltsangabe der Filmsequenz
3. Der manifeste Sinn der Filmsequenz
4. Der latente Sinn der Filmsequenz
5. Die Wirkung der Filmsequenz auf verschiedene Adressatengruppen
6. Der Film als Medium politischer Bildung?
Anmerkungen
Literatur
1. Zur Methode und zum Gegenstand der Fallrekonstruktion
Kein anderer deutscher Dokumentarfilm hat in den letzten Jahren so viel Aufsehen erregt wie "Beruf Neonazi". Mit diesem Film wollte Wilfried Bonengel über die aktuelle Neonaziszene aufklären, die über ein weltweit organisiertes Mediennetzwerk verfügt und auf einen neuen Führertypus setzt, für den Althans aus München ein Beispiel sei. Hierbei handele es sich um eine Art "Yuppie-Nazi" (Der Spiegel, 15. 11. 93), der durch seine Eloquenz und Intelligenz, durch seine sympathische und gepflegte äußere Erscheinung brilliert. Als der Zentralrat der Juden in Deutschland wegen der unwidersprochenen Verbreitung der Auschwitzlüge und der Verherrlichung des Nationalsozialismus Strafanzeige stellte, entfachte der Film, der durch die Förderungsmittel von vier Bundesländern finanziert worden war, eine heftige, quer durch alle Parteien verlaufende Kontroverse. Schließlich beschäftigte der Film die Gerichte. Während die Frankfurter Staatsanwaltschaft den Film verbot und Kopien beschlagnahmte, weil der Film "jegliche Kommentierung der Äußerungen des Neonazis Althans oder eine Distanzierung vermissen" lasse (FR, 8. 12. 93), stellte die Berliner Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren ein, weil es sich um "eine kritisch-realistische Darstellung aktueller neonazistischer Bestrebungen" handele, bei der die "Distanz zur gezeigten Hauptperson Althans [...] durch künstlerische Mittel, durch Darstellung von Gegenpositionen und auch äußerlich durch die Wahl des Titels deutlich" werde (FAZ, 24. 12. 93).
Der Streit um den Film wirft eine Reihe von Fragen auf: Stellt der Verzicht auf "Kommentare und demaskierende Schnitte" eine Stärke des Films dar, auf Grund derer das Publikum "authentisch mit dem Selbstverständnis der Neonazis" konfrontiert wird (Rheinische Post, 15. 11. 93)? Oder ist daraus ein "brauner Werbespot" geworden (Der Spiegel, 15. 11.93), der, wie der Filmemacher Thomas Mitscherlich kritisierte, antisemitisch sei, weil "es dem Team nicht gelungen" sei, "den Boden, auf dem Neonazismus gedeiht, zu reflektieren", dieser vielmehr auf der Leinwand "bloß wiederholt" werde (FR, 3. 12. 93)? Lässt sich das Problem darauf reduzieren, dass "nicht der Film gefährlich" ist, "sondern die gesellschaftliche Lage, in der das, was er aufdeckt, entstehen kann" (Kölner Stadt-Anzeiger, 30. 11. 93)? Oder geht es auch darum, dass, wie der Hessische Landtag feststellte, von dem Film die "ernste Gefahr einer Umkehrung der beabsichtigten Wirkung, besonders auf jugendliche Zuschauer" ausgehe (FAZ, 26. 11. 93)?
Sozialwissenschaftlich lassen sich diese Fragen nur durch eine eingehende Medienanalyse lösen. Im Rahmen dieses Beitrags soll der Film exemplarisch anhand einer Szenensequenz untersucht werden. Interpretiert wird mit Hilfe der von Lorenzer (1986) entwickelten Verfahrensweise der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse, eine Methode, die aus der Anwendung der in der psychoanalytischen Therapie praktizierten Verfahrensweise des szenischen Verstehens auf die Kultur- und Sozialwissenschaften entstanden ist: Es handelt sich ganz im Sinne Adornos um eine Methode kritischer Sozialforschung (vgl. König 1993 a), die den Film nicht theoretisch einordnet und mit Hilfe plausibler Begriffskonstruktionen erklärt, sondern dazu anleitet, sich emotional auf das szenisch entfaltete Filmgeschehen einzulassen und es voraussetzungslos auf der Grundlage eigener Alltagserfahrungen zu verstehen. Da tiefenhermeneutische Fallrekonstruktionen die Bedeutung kultureller Sinnangebote über die Wirkung auf das eigene Erleben erschließen, hat es sich als forschungspraktisch hilfreich erwiesen, solche Analysen auf der Basis von Gruppeninterpretationen durchzuführen (vgl. König 1993 b, S. 206 ff.). Dabei werden die SeminarteilnehmerInnen dazu angehalten, über die Wirkung des Filmgeschehens auf ihr Erleben die Lebensentwürfe zu erschließen, die in dem Bild- und Szenengefüge des Films aufgegriffen und arrangiert werden. Es wird dazu aufgefordert, sich dem freien Spiel der eigenen Einfälle zu überlassen und mit Fragen an den im Film auftretenden Ungereimtheiten und Widersprüchen anzusetzen. Die durch die Filmszenen ausgelösten Irritationen eröffnen einen Zugang zu ersten Deutungsversuchen, die anhand des sich szenisch entfaltenden Filmgeschehens so lange überprüft und korrigiert wurden, bis sich die Szenen von der eigenen Lebenserfahrung her verstehen lassen. Hinzu kommt, dass die wechselnden Verstehenszugänge so lange zueinander in Beziehung gesetzt werden, bis sie sich zu einer szenischen Konstellation zusammenschließen, von der her sich das Rätsel des auf die Leinwand projizierten Lebensdramas auf einmal erhellt. Dabei wurde wie bei den schon durchgeführten Analysen zweier Hollywoodfilme (vgl. König 1994 a, König 1995) vorausgesetzt, dass sich auch in diesem Dokumentarfilm ein Mikrokosmos entfaltet, in dem Lebensentwürfe im Einklang mit den in dieser sozialen Welt geltenden Regeln und Normen artikuliert oder aber unterdrückt werden. Ausgegangen wird zudem davon, dass der manifeste Sinn des Films durch die Lebensentwürfe bestimmt wird, die sich auf Grund ihrer sozialen Akzeptanz im Handeln und Sprechen der Akteure durchsetzen; und dass der latente Sinn durch die Lebensentwürfe bestimmt wird, die auf Grund ihrer sozialen Anstößigkeit verpönt sind, jedoch auf einer verborgenen Bedeutungsebene des Films zur Geltung kommen. Während die sozial anerkannten Lebensentwürfe ohne Schwierigkeiten entzifferbar sind, werden die verbotenen Lebensentwürfe erst dadurch zugänglich, dass wir uns durch die im Film zu Tage tretenden Ungereimtheiten, Widersprüche und Brüche irritieren lassen, die damit den Zugang zu einer quer zum manifesten Sinn gelegenen zweiten Sinnebene erschließen. Damit ist die Verfahrensweise der tiefenhermeneutischen Medienanalyse (vgl. König 1994 b) so weit umrissen, dass wir zur szenischen Interpretation übergehen können.
2. Eine Inhaltsangabe der Filmsequenz
Bevor ich mit der Rekonstruktion des manifesten und des latenten Sinns beginne, möchte ich den Inhalt der Filmsequenz vergegenwärtigen: Ich habe jene Szene ausgewählt, in der Althans sich mit einer Demonstration gegen das Auftreten des faschistischen Pseudohistorikers David Irving und mit einer Holocaust-Überlebenden auseinander setzt, die in dieser Filmsequenz auch interviewt wird: In der Nähe der amerikanisch-kanadischen Grenze fährt eine Limousine mit Irving vor, dessen Redetourneen Althans seit Jahren organisiert. Irving steigt aus, mustert eingehend die ihn mit zornigen Zurufen empfangenden Demonstranten und verschwindet in dem nahe gelegenen Gebäude. Althans kommentiert das Geschehen: Irving werde vorgeworfen, gegen Emigrationsgesetze verstoßen zu haben. Das sei jedoch nur ein Vorwand, um ihn abzuschieben. Für Irving sei das "natürlich eine beschissene Situation, aber für den Fortgang der Sache nicht das schlechteste", weil "ein Märtyrer [...] immer mehr Leute auf die Beine" bringe.
Während einer der versammelten Männer das Anliegen der serbischen Demonstration erläutert, berichtet eine Serbin unter Tränen, dass die Nazis alle Angehörigen ihrer Familie umgebracht haben. Althans kommentiert die Szene grinsend mit den Worten, er finde es "halt schön, dass diese Allianz besteht zwischen Serben und Juden". Er würde am liebsten hingehen und ein wenig "piesacken". Aber er wolle sich nicht einmischen. So wie die sich auch nicht "in Deutschland" einmischen sollen. Nachdem noch einmal die Serbin eingeblendet worden ist, die sich mit beiden Händen die Tränen aus den Augen wischt, schließt Althans lachend mit den Worten, das sei nun seine Zukunft - "die Kamera vor der Nase und die Juden im Nacken".
3. Der manifeste Sinn der Filmsequenz
Wenden wir uns nun der Analyse des manifesten Sinns zu. Dazu ist es erforderlich, die eigenen Lebensentwürfe in die Szenen des Films einzusetzen, um die dort arrangierten fremden Lebensentwürfe zu verstehen. Es geht damit um die Wünsche, Ängste und Fantasien, die sich ohne Schwierigkeiten sprachlich thematisieren lassen, weil sie sich im Einklang mit den Normen und Werten befinden, welche die Welt regulieren, die in dieser Filmsequenz entfaltet wird.
In der ersten Hälfte dieser Szenensequenz geht es um den Auftritt des korrekt gekleideten Irving, der von einer kleinen Schar männlicher Demonstranten erwartet wird, die Transparente mit den Worten "Deport Liar Nazi Irving" und "Serbs say no to Nazis" tragen. Sobald er aus dem Wagen aussteigt, skandieren die Demonstranten zornig das Wort "Nazi" und machen ihrem Ärger über den prominenten Neonazi durch wütende Zurufe Luft. Irving bleibt einen Augenblick vor den Demonstranten stehen, stemmt den linken Arm in die Hüfte und betrachtet eingehend die Menge, bevor er sich abrupt abwendet und das Gebäude betritt. Während die TeilnehmerInnen der Gruppeninterpretation Irving als unsympathisch und arrogant beschreiben, gilt ihre Sympathie den Demonstranten, die sich gegen das Auftreten des faschistischen Pseudohistorikers zur Wehr setzen, der angeblich "wissenschaftlich" beweisen kann, dass der Holocaust technisch gar nicht möglich gewesen sei. Eine Seminarteilnehmerin meint, Irving trete wie ein Herrenmensch auf, der die Demonstranten wie Menschen zweiter Klasse kalt und von oben herab betrachte. Auch Althans wird als ähnlich arrogant und überheblich beschrieben. Wenn er meint, die Abschiebung sei zwar für Irving "beschissen", aber für "den Fortgang der Sache nicht das Schlechteste", dann unterstelle Althans doch, dass die von ihm geführte Bewegung ohnehin nicht zu stoppen sei. Eine andere Studentin regt sich über das unsinnige Gerede von Althans und über sein "dämliches Lachen" auf. Er trete wie ein Halbstarker auf, dem es allein darauf ankomme zu provozieren.
Die sich gegen Althans richtende Wut ist auch ein Reflex auf den Egozentrismus und das antisemitische Vorurteilsdenken von Althans, unter deren Einfluss er die reale Situation schlichtweg auf den Kopf stellt: Während die kanadische Administration einen juristische Weg sucht, um Irving abzuschieben, der durch die Verbreitung der Auschwitzlüge die von den Nazis begangenen Gräueltaten bestreitet, redet Althans von einem "Terror von der Judenseite", eine Bemerkung, mit der er aus den Neonazis die hilflosen Opfer der zu Tätern stilisierten Juden macht. Und wenn er anschließend aus der Niederlage, dass Irving nicht einreisen darf, eine Erfolgsmeldung konstruiert, weil "ein Märtyrer immer mehr Leute auf die Beine" bringe, dann entwirft er zugleich eine Vorstellung davon, wie er sich seinen Aufstieg zur Macht vorstellt: Gerade diejenigen, die darunter gelitten haben, was ihnen ihre Feinde zugefügt haben, werden sich unter seiner Führung zusammenfinden und nach der Weltherrschaft greifen, von der sein Ziehvater Zündel an anderer Stelle schwärmt.
In der zweiten Hälfte dieser Filmsequenz interviewt das Filmteam einen Serben und eine Serbin. Zunächst tritt aus der Schar der Demonstranten ein mit dunkelblauem Trenchcoat und schwarzem Hut bekleideter Mann heraus, der Kopien von Unterlagen vorlegt, um zu untermauern, dass im zweiten Weltkrieg neben sechs Millionen Juden auch 1,5 Millionen Serben dem Holocaust zum Opfer gefallen sind. Althans filmt den Demonstranten, vielleicht auch die Serbin, die anschließend spricht. Sie steht abseits von der Gruppe der Demonstranten vor einer langen Mauer, trägt einen schwarzen Mantel, einen roten Schal und eine schwarzrote Mütze, hält unter einem Arm einen Regenschirm und in den Händen eine Fahne. Sie schluckt und ringt um Fassung, bevor sie zu sprechen beginnt. Zunächst gelingt es ihr, freundlich lächelnd zu erzählen, dass sie Serbin ist und mit zweieinhalb Jahren als Flüchtlingskind nach Kanada kam. Als sie ausgesprochen hat, dass 32 Mitglieder ihrer Familie umgebracht wurden, wird sie von ihrem Schmerz überwältigt. Sie schluchzt und bricht in Tränen aus. Sie entschuldigt sich dafür, dass sie einen Augenblick lang die Fassung verloren hat, und antwortet dann auf die Frage, ob ihre Familienangehörigen von den Nazis getötet worden seien, dass es die Nazis, die Kroaten und die Ustascha waren. Innerlich aufgewühlt, bringt sie dann nur noch stockend die Worte hervor: "Ich habe keine Verwandten mehr. Sie wurden alle getötet. Was soll ich noch sagen?"
Viele Studenten und Studentinnen brachten zum Ausdruck, dass sie diese Szene erschüttert habe (1). Eine Seminarteilnehmerin meinte, die Worte der Serbin seien ihr "unter die Haut" gegangen. Ein anderer Teilnehmer sprach vom "Angerührt-Sein" durch diese Frau. Die Szene vermittelt in der Tat einen Moment lang eine Ahnung von dem Grauen, das die Serbin durchlitten haben muss. Und da sie "mit der Frau mitweinen" könne, so ergänzte eine Teilnehmerin, steige ihre Wut auf Althans, der sich emotionslos und "total cool" gebe und sich über die Empörung der Demonstranten und das Leiden der alten Frau lustig mache. Ja, er spreche nicht nur davon, dass er seine Feinde gern "piesacke", er tue es auch wirklich. Denn wenn er selbst zur Kamera greife und den Demonstranten, der über die Ermordung von 1,5 Millionen Serben spricht, vielleicht auch die in Anschluss daran eingeblendete Serbin filmt, dann sind seine Gegner für ihn nur, wie eine Seminarteilnehmerin bemerkte, Versuchsobjekte für ein Experiment.
Althans übernimmt somit gleichzeitig zwei einander entgegengesetzte Rollen: Da er die Abschiebung Irvings als "Terror von der Judenseite" denunziert, den Pseudohistoriker als "Märtyrer" der Bewegung feiert und von den "Juden" spricht, die ihm noch "im Nacken" sitzen werden, stilisiert er sich und seine rechtsextremistischen Gefährten zu den unschuldigen Opfern einer jüdischen Weltverschwörung. Weil es seinem Lachen zugleich anzumerken ist, dass er sich in dieser Rolle gefällt und deshalb wichtigtuerisch zur Kamera greift, um die Machenschaften seiner Widersacher auch filmisch zu dokumentieren, setzt er sich zugleich als der neue Neonaziführer in Szene, der überlegen und stark genug ist, um den Kampf mit seinen Feinden aufzunehmen. Wenn er grinsend bemerkt, das sei übrigens seine "Zukunft", "Kameras vor meiner Nase und die Juden im Nacken", dann entwirft er das Portrait eines strahlenden Neonaziführers, der auf Grund seiner absehbaren Erfolge in den Medien schon bald für Schlagzeilen sorgen und für die Juden zu einem gefährlichen Gegner werden wird, den sie fürchten und hassen werden wie kaum jemand anders.
Fassen wir die Lebensentwürfe zusammen, die auf der manifesten Bedeutungsebene inszeniert werden: Da stehen auf der einen Seite der unsympathische Pseudohistoriker Irving, der überheblich und kalt wirkt, sowie der Neonaziführer Althans, auf den die SeminarteilnehmerInnen mit Ärger und Wut reagieren, weil er sich zu einem von seiner Sendung überzeugten Neonaziführer stilisiert und sich auf eine so sarkastische und bösartige Weise über die Demonstranten und die Holocaust-Überlebende lustig macht. Und da stehen auf der anderen Seite die Solidarität mit der kleinen Schar der Demonstranten sowie das Mitgefühl für die schmerzerfüllte Serbin.
4. Der latente Sinn der Filmsequenz
Wenn wir nun den latenten Sinn zu dechiffrieren versuchen, dann geht es um die Entzifferung der Lebensentwürfe, die auf Grund ihrer Unvereinbarkeit mit den in der Filmsequenz zur Geltung kommenden Normen und Werten als sozial anstößig gelten. Wie bereits ausgeführt wurde, erschließt sich der Zugang zu diesem latenten Sinn dadurch, dass unter dem Eindruck der wiederholten Vergegenwärtigung der Filmsequenz szenische Konstellationen auffallen, die irritieren, weil sie dem durch den manifesten Sinn gewonnenen Verstehenszugang widersprechen. Sammeln wir also zunächst die häufig mit überraschenden Gefühlsreaktionen einhergehenden Irritationen, um den latenten Sinn zugänglich zu machen:
Ein Seminarteilnehmer erzählt, ihn hätten die Demonstranten irritiert, die selbst das Skandieren des Ausrufs "Nazi" durch unverständliche Zwischenrufe stören. Daher entstehe der Eindruck eines chaotischen Durcheinanders. Wie ein anderer Seminarteilnehmer bemerkt, komme hinzu, dass die 15 oder 20 Demonstranten eine etwas verloren wirkende Schar bilden. So stelle sich bei ihm das Gefühl ein, man könne diese Demonstranten nicht ernst nehmen. Denn es finden sich ja immer ein paar Leute, die dazu bereit sind, für irgendetwas zu demonstrieren. Unglaubwürdig wirke auch, so ein anderer Seminarteilnehmer, der Demonstrant im Trenchcoat, der das Anliegen der Serben vortrage. Weil er so beflissen Kopien von Unterlagen über den Holocaust vorzeige und auch noch so bereitwillig Auskunft für die Gründe der Demonstration gebe, wirke er wie ein Verkäufer, der glaubt, sich rechtfertigen zu müssen. Ganz anders erscheine dagegen Irving, der sich überhaupt nicht auszuweisen brauche und sich dem Filmteam gegenüber zu keinem Kommentar herablasse. Selbstsicher und überlegen stehe er wie ein Fels in der Brandung des von den Demonstranten angestimmten Geschreis, das ihn völlig kalt lasse und im Übrigen wie eine Seifenblase zerplatze, sobald er sich abwende und das nahe gelegene Gebäude betrete.
Als nicht weniger irritierend wird die Szene mit der Serbin erlebt: Wie sehr er auch von der Sache her auf ihrer Seite stehe, so konstatiert ein Seminarteilnehmer, er habe mit der Serbin doch kein Mitgefühl, weil es auf ihn einfach "kitschig" wirke, wie sie "jammere" und das kleine Fähnchen anschaue, das sie vor ihrem Bauch mit beiden Händen festhalte. Eine Studentin ergänzt, die alte Frau tue ihr nicht Leid, weil sie sich wie eine "Heulsuse" verhalte. Eine weitere Seminarteilnehmerin stellt fest, sie sei auf die Serbin wütend, weil sie durch ihr Auftreten als hilfloses Opfer, das sich nicht wehren kann, genau dem entspreche, was Althans wolle. Denn es gehe diesem Neonazi um nichts anderes als darum, über seine Feinde zu triumphieren. Der Ärger über die Serbin wird in einer Seminarsitzung so groß, dass Zweifel daran geäußert werden, ob der von ihr geäußerte Gefühlsausbruch "echt" sei. Erst als die Szene mit der Holocaust-Überlebenden für sich allein vorgeführt wird, stellt sich ein Konsens darüber her, dass es sich um aufrichtige Gefühle handelt. Deren Bedeutung überlagert allerdings der Auftritt von Althans, ein Szenarium, das die Szene mit der Serbin einrahmt. Sobald sie die Szene mit der Holocaust-Überlebenden mit dem Auftritt des Neonaziführers vergleiche, habe sie das Gefühl, so eine Seminarteilnehmerin, dass die Serbin in ihrer Emotionalität und Ohnmacht lächerlich wirke, wohingegen Althans "cool", intelligent und überlegen erscheine. Zwei SeminarteilnehmerInnen gelangen zu dem Schluss, dass sich ihre Wahrnehmung der Filmszene unter dem Eindruck der wiederholten Vorführung im Seminar gewandelt hat: Zunächst hätten die Tränen der Serbin sie angerührt, das mehrmalige Anschauen habe jedoch ihr Erleben verändert. Nun würden sie die Serbin als "hysterisch" und "unnatürlich" erleben. In den Vordergrund trete "die Plastikwelt" dieser Inszenierung, die durch das Auftreten der Serbin mit rotem Schal und schwarzroter Mütze, mit dem "lächerlichen Fähnchen" in den Händen und einem Schirm unter dem Arm bestimmt werde, eine ältere Frau, die vor dem Hintergrund einer als "Klagemauer" empfundenen Wand auch noch in Tränen ausbreche.
Machen wir uns klar, wie sich diese Irritationen als emotionale Reaktionen auf die szenische Gestalt dieser Filmsequenz verstehen lassen: Während die beiden Neonazis durch ihre Namen als Individuen mit persönlicher Identität ausgewiesen werden, bleiben sowohl der Demonstrant im Trenchcoat, der das Anliegen der Serben erläutert, als auch die von ihrer Leidensgeschichte erzählende Serbin namenlos, weshalb beide in der anonymen Schar der protestierenden Männer unterzugehen scheinen. Während Althans und Irving selbstsicher auftreten, ohne sich durch den Protest der Demonstranten in Frage stellen zu lassen, treten die Demonstranten unsicher auf: So, wie die Männer sich dadurch rechtfertigen, dass Kopien von Unterlagen vorgezeigt und die Demonstration argumentativ begründet wird, so entschuldigt sich die Holocaust-Überlebende für ihre Tränen. Und während Irving und Althans als Männer auftreten, die auf eine kühle und überlegene Weise mit ihren Gegnern umgehen, werden die Demonstranten von heftigen Affekten eingeholt: So, wie die Demonstranten der Zorn auf Irving zu einem wütenden Geschrei verleitet, so wird die Serbin von einem Schmerz eingeholt, den eine Reihe von SeminarteilnehmerInnen als aufdringlich und künstlich ("hysterisch") erleben. Und während die Kamera die Größe von Irving und Althans noch dadurch betont, dass sie die beiden Neonazis von unten filmt, wodurch sie ihre Kontrahenten weit überragen, schauen die Zuschauer mit der Kamera auf die Demonstranten und auf die in Tränen aufgelöste Serbin von oben herab, wodurch die kleine Schar der Serben noch kleiner wirkt. Schließlich wird Althans dadurch über alle anderen Akteure gestellt, dass er in dieser Filmsequenz nicht nur als Akteur mitspielt, sondern auch noch als Moderator auftritt, der das Geschehen für die Zuschauer lachend kommentiert.
Auf Grund der über die Einfälle zu dieser Filmsequenz und über die irritierenden Ungereimtheiten und Widersprüche erschlossenen Verstehenszugänge lässt sich die Bedeutung der beiden Szenenkomplexe im Spannungsfeld von manifestem und latenten Sinn folgendermaßen bestimmen: Der manifeste Sinn der ersten Szenensequenz besteht darin, dass auf Distanz zu dem ewiggestrigen Pseudohistoriker Irving gegangen wird, den die SeminarteilnehmerInnen als so kalt und arrogant erleben, wie sie sich zugleich mit den Demonstranten solidarisieren, die sich gegen die Neonazis zur Wehr setzen. Auf die latente Bedeutungsebene wird dagegen der Eindruck verbannt, dass Irving auch imponiert und die kleine Gruppe der Demonstranten auch etwas lächerlich und chaotisch wirkt. Versuchen wir die szenischen Konfigurationen zu fassen, durch die diese Eindrücke ausgelöst werden: Hier befindet sich Irving, der durch seine korrekte Kleidung seriös wirkt und den Demonstranten furchtlos entgegentritt, dort steht die ihn beschimpfende Menge; hier ein Mann, der gelassen bleibt, obwohl er für seine abweichende Meinung eine heftige Schelte bezieht, dort eine wütende Menge, die einige SeminarteilnehmerInnen als bedrohlich erleben, weil man nicht wisse, wie sehr sie sich noch ihren irrationalen Affekten überlassen werde. So werden die Zuschauer auf der latenten Bedeutungsebene gegen die Demonstranten und für Irving eingenommen, weil die Serben das LeBonsche Vorurteil gegen die Masse so auf sich ziehen, wie Irving in diesem szenischen Zusammenhang als das bürgerliche Subjekt imponiert, das Vernunft und Ruhe bewahrt.
Der manifeste Sinn der zweiten Szenensequenz wird durch das Mitgefühl mit der Serbin bestimmt, die unter Tränen von der Ermordung ihrer Familienangehörigen durch die Nazis erzählt. Auf Althans, der sich über die Demonstranten und das Leiden der Opfer amüsiert, wird hingegen mit Wut reagiert. Einen Zugang zum latenten Sinn erschließt der irritierende Eindruck, der Gefühlsausbruch der Serbin sei unpassend, aufdringlich und künstlich. Versuchen wir die szenische Konfiguration zu erhellen, die diese negativen Gefühlsreaktionen entstehen lässt: Auf der einen Seite haben wir eine altmodisch gekleidete Serbin mit Mantel, Hut und Schirm vor uns, auf der anderen Seite Althans, der Jeans, ein T-Shirt und eine modische Jacke trägt; einerseits die von einer unbewältigten Vergangenheit eingeholte alte Frau, andererseits der optimistisch in die Zukunft schauende Althans; das eine Mal eine schluchzende und Tränen vergießende Frau, die sehr mütterlich wirkt, das andere Mal ein junger Mann, der unterhaltsam daherredet und durch seine Lust zu provozieren sehr jugendlich wirkt. Während Althans durch seine strahlende Frische und Jugendlichkeit beeindruckt, wird die Serbin auf der latenten Bedeutungsebene dadurch diskreditiert, dass sich gegen sie das generationsspezifische Vorurteil, dass die alten Leute immer nur von der Vergangenheit reden, und das geschlechtsspezifische Vorurteil richtet, dass die Tränen der Mütter ohnehin leicht fließen. Auf diese Weise fördern diese Inszenierungen eine Abwehrhaltung, die der Leidensbericht der Serbin ohnehin auslöst. Denn so, wie die Zuschauer vor der schmerzlichen Auseinandersetzung mit dem Grauen des Holocaust zurückschrecken, so wird diese Distanzierung durch die Gelassenheit erleichtert, mit der Althans über den Holocaust schwätzt.
5. Die Wirkung der Filmsequenz auf verschiedene Adressatengruppen
Nachdem wir die szenische Struktur dieser Filmsequenz über die Wirkung auf zwei Gruppen von InterpretInnen analysiert haben, ist zu fragen, wie sich die divergierenden Verstehenszugänge in den Seminarveranstaltungen und darüber hinaus sich davon unterscheidende Bedeutungszuweisungen durch andere Adressatengruppen erklären lassen.
1. In den tiefenhermeneutischen Gruppeninterpretationen hing die sehr kontrovers geführten Diskussionen auch damit zusammen, dass die SeminarteilnehmerInnen sich mit unterschiedlichen Akteuren der Filmdokumentation identifizierten:
Die InterpretInnen, die sich selbst gegenüber eher die Rolle von Althans einnehmen, um von innen her zu verstehen, wie er denkt und fühlt, erleben die durch die Kameraführung hergestellte Sichtweise als eine Erläuterung seines egozentrischen Umgangs mit der Welt und seinen Mitmenschen: Indem die Kamera Irving und Althans von unten filmt, macht sie die Neonazis größer und unterstreicht damit deren narzisstisches Erleben, sich als Zentrum der Welt zu betrachten; und indem die Kamera die Demonstranten einschließlich der Serbin von oben herab betrachtet und verkleinert, führt sie noch einmal vor, dass für Irving und Althans alle Gegner nur störende Objekte in ihrer Umgebung sind, über die man sich lustig macht, die man manipulieren oder in anderer Weise überwinden muss. Die SeminarteilnehmerInnen neigen infolgedessen dazu, den Film als eine ausgezeichnete Dokumentation zu schätzen, weil die Zuschauer nicht zuletzt dank der Kameraführung eine schockierende Erfahrung machen können: Die Tatsache nämlich, dass sich eine Auseinandersetzung mit einem Neonazi wie Althans äußerst schwierig gestaltet, weil man mit ihm Sachverhalte nicht diskursiv erörtern kann, sondern einem Gerede ausgesetzt ist, das einem schlichtweg die Sprache verschlägt.
Die InterpretInnen, die sich mit den serbischen Demonstranten oder der serbischen Holocaust-Überlebenden identifizieren, erleben die Filmsequenz dagegen in einer ganz anderen Weise als bedrückend. Da die Serben als eine kleine Gruppe von Demonstranten vorgeführt werden, die ihrer Empörung über Irving durch wütende Zurufe Luft macht, und die Serbin als in Tränen aufgelöste Frau erscheint, stellen sich die Opfer der Nazigräuel und die gegen die Neonazis demonstrierenden Serben als verhältnismäßig hilflose und ohnmächtige Subjekte dar, deren Interessen im Rahmen dieser Filmsequenz zwar zur Darstellung, nicht jedoch zu ihrem Recht kommen. Denn die Filmsequenz wird für Althans zur Bühne, auf der er durch seine Ausfälle gegen die Juden und durch sein höhnisches Lachen über die Opfer des Holocaust noch einmal die Gewalt exekutiert, die ihnen im Zuge ihrer Verfolgung und Ausrottung im Dritten Reich zugefügt wurde. Nachdem ihre Verwandten durch die Nazis liquidiert worden sind, wird die Serbin auch noch zu einer Statistin im Rahmen der Selbstinszenierung eines Neonazis, dessen sadistische und destruktive Impulse in seinem Lachen über die Opfer des Holocaust so zur Geltung kommt wie in seinem Wunsch, die serbischen Demonstranten ein wenig zu "piesacken".
Wer wie diese SeminarteilnehmerInnen die Dokumentation aus der Sichtweise der serbischen Männer und der serbischen Frau betrachtet, sieht in dem Film eher eine Form der politischen Werbung für Althans und stimmt auch mit dem Urteil der Frankfurter Staatsanwaltschaft überein, die den Film auch deshalb verboten hat, weil er den Tatbestand der "Beleidigung und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" erfüllt (FAZ, 4. 12. 93).
Obschon die auf Grund der unterschiedlichen Perspektivenübernahmen divergierenden Verstehenszugänge heftig aufeinander prallten, stellte sich in den Gruppeninterpretationen doch eine Verständigung darüber her, wie sich die Bedeutung des Films in der Spannung zwischen manifestem und latenten Sinn entfaltet.
2. Das über die Gruppeninterpretationen erschlossene szenische Verstehen der Filmsequenz lässt allerdings die Frage offen, wie sich das Verhältnis vom manifesten zum latenten Sinn darstellt, wenn sich Jugendliche den Film anschauen, die rechtsextremistische Orientierungen akzeptieren. Während die SoziologiestudentInnen ja ein Beispiel für eine Adressatengruppe sind, deren Filmerleben durch die Ablehnung der rechtsextremistischen Einstellungen von Irving und Althans bestimmt wird, ist zu erwarten, dass die Akzeptanz rechtsextremistischer Orientierungen ein anderes Filmerleben zur Folge hat. So wie wir die von Althans propagierten neonazistischen Positionen als fremd und gefährlich empfinden, so wird eine rechtsextremistische Adressatengruppe in der von Althans verkündeten Programmatik die eigene politische Orientierung wieder erkennen und sich durch dessen Ressentiments im eigenen Vorurteilsdenken bestätigt fühlen. Was aufgeklärte ZuschauerInnen als den manifesten Sinn der Filmsequenz erleben, die Unmenschlichkeit der gefühllosen, perversen und sarkastischen Ausfälle von Althans, werden rechtsextremistische Zuschauer verleugnen und auf die latente Bedeutungsebene ihrer Filmwahrnehmung verbannen. Was wir dagegen als unerträglich auf die latente Bedeutungsebene verweisen - den Gedanken, dass Irving die Stimme der Vernunft verkörpert und die Demonstranten als eine irrationale Masse aufgefasst werden, vor der man auf der Hut sein muss; die Vorstellung, dass das Verhalten der Serbin die Klagehaltung älterer Leute und ihre Tränen eine weibliche Schwäche zum Ausdruck bringt -, werden rechtsextremistische Jugendliche als den manifesten Sinn der Filmszene erleben.
3. Betrachten wir schließlich die mögliche Wirkung des Films auf jene Jugendlichen, die, wie es Heitmeyer (1992) beschreibt, rechtsextremistischen Orientierungen ambivalent gegenüberstehen. Ein Beispiel dafür wäre Sammy, der die Nazis einerseits wegen ihrer Gewaltbereitschaft ablehnt (vgl. S. 220), sie andererseits aber "irgendwie bewundert", weil sie die "Roten" bei Demonstrationen so "clever" auflaufen lassen (ebd., S. 228). Jugendliche wie Sammy, denen die Neonazis wegen ihrer "Intelligenz" imponieren und die mit einzelnen Punkten ihrer rechtsextremistischen Orientierung übereinstimmen, obgleich sie die politische Grundposition der Neonazis global ablehnen, werden beim Anschauen des Films das Verhältnis vom manifesten zum latenten Sinn vermutlich ähnlich bestimmen wie wir. Denn von einem Neonazi wie Althans, der sich als "orthodoxer Nationalsozialist" versteht, distanzieren sich diese Jugendlichen (vgl. ebd., S. 592 f.).
Wie werden den Film also Jugendliche wie Sammy erleben, die rechtsextremistischen Orientierungen ambivalent gegenüberstehen? Aller Voraussicht nach werden sie als den manifesten Sinn des Films die Aufklärung über die politischen Aktivitäten von Neonazis wie Althans betrachten. Zudem werden sie als manifest beschreiben, dass Althans sich auf eine bösartig-sarkastische Weise über die serbischen Demonstranten und die Holocaust-Überlebende mokiert. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass diese Jugendlichen auf Grund ihrer Ambivalenz der latente Sinn der Inszenierungen fasziniert: Ob ihnen die serbischen Demonstranten nun lächerlich oder suspekt erscheinen, entscheidender ist, dass ihnen das selbstsichere Auftreten von Irving imponieren wird, der sich trotz der Beschimpfungen nicht aus der Ruhe bringen lässt. Und so, wie der Gefühlsausbruch der Serbin als befremdend und vom Kontext ihrer Holocausterfahrung isoliert werden kann, so wird sie die Lässigkeit beeindrucken, mit der Althans mit dem Holocaust und seinen Gegnern fertig wird.
Daher stellt sich das Verhältnis vom manifesten zum latenten Sinn in diesem Fall folgendermaßen dar: Gerade da, wo der Film auf Grund seines manifesten Sinns den Eindruck erweckt, über die Neonazis zu informieren, nimmt er die Jugendlichen mit einer ambivalenten Einstellung auf Grund seines latenten Gehalts zugleich für die lässige und überlegene Art von Althans ein, den die Tränen einer Holocaust-Überlebenden völlig kalt lassen. Wie sehr in diesem Fall der latente Sinn der als aufdringlich und künstlich erlebbaren Szene mit der Serbin auch die rechtsextremistische Einstellung bestätigt, dass endlich das "Gejammer" um die Opfer des Holocaust aufhören muss, weil der manifeste Sinn darüber durch die Aufklärung über die neue Rechte hinwegtäuscht, haben wir allen Grund zu der Annahme, dass dieser Film nicht zur Auflösung, sondern zur Verfestigung der ambivalente Haltung von Jugendlichen beiträgt.
6. Der Film als Medium politischer Bildung?
Da die vorliegende Analyse sich auf die Interpretation einer Filmsequenz beschränkt, die erst durch die Hinzuziehung weiterer Szenensequenzen komplettiert werden könnte, handelt es sich um einen ersten Verstehenszugang, der fragmentarisch bleiben muss. Ich möchte die Fallrekonstruktion mit zwei Überlegungen abschließen, die für das Problem der politischen Bildung wichtig sind.
6. 1. Versuchen wir zunächst die Frage zu beantworten, ob der Film für die politische Bildung geeignet ist bzw. unter welchen Bedingungen das der Fall sein könnte. Die Eigenart dieser Filmdokumentation besteht darin, dass sie sich, wie es häufig kritisiert wurde, jeder Stellungnahme enthält. So fügen sich die Bilder und Szenen zu einer Signifikantenkette zusammen, die es in ungewöhnlich hohem Maße den Zuschauern überlässt, welche Bedeutungen sie dem Film zuweisen. Wie politisch aufgeklärte ZuschauerInnen im Umgang mit diesem Film neue Erfahrungen sammeln können, sofern ihnen dieser neue Typus eines "Yuppie-Nazis" noch nicht vertraut ist, so können rechtsextremistische Zuschauer "Beruf Neonazi" als einen Film über Gleichgesinnte genießen und sich in ihrem Vorurteilsdenken bestätigt fühlen, ohne damit der Aussage des Films Gewalt anzutun.
Diese Offenheit des Sinnangebots, auf Grund dessen der Film sowohl ein aufgeklärtes Publikum informieren als auch den Wünschen von Neonazis entsprechen kann, lässt sich folgendermaßen erklären: Da die Dokumentation zeigen will, wie Althans denkt und fühlt, filmt sie ihn aus nächster Nähe und bemüht sich darum, sich in seine Sichtweise hineinzuversetzen. Weil Althans die gegen Irving demonstrierenden serbischen Männer und die schmerzerfüllte Serbin verachtet, erscheinen sie auf der Bühne des Filmgeschehens nur als Statisten, die dem Neonaziführer lediglich das Stichwort geben. Die egozentrische und antisemitisch-wahnhafte Perspektive von Althans wird also nicht durch die Konfrontation mit der Realität objektiviert, wie man es von einer Dokumentation erwarten würde, vielmehr begnügt sich der Film damit, die Bilder und Szenen für sich selbst sprechen zu lassen. So interessant eine solche Sichtweise auch für Sozialwissenschaftler, Pädagogen und Juristen sein mag, die an einem Psychogramm heutiger Neonazis interessiert sind, so fatal kann sie auf vom Rechtsextremismus faszinierte Jugendliche wirken, die den Film nicht als Inszenierung der problematischen Erlebnisperspektive von Althans auffassen, sondern als eine Dokumentation von Tatsachen missverstehen. Da die im Film eingenommene Erlebnisperspektive von Althans nicht in den Rahmen einer Analyse gestellt wird, die das Denken und Fühlen von Althans als Resultat einer irrationalen Weltanschauung begreift, die ganz im Sinne Lorenzers (1981) die falsche (narzisstisch-wahnhafte) Antwort auf persönliche Konflikte mit der falschen (antisemitisch-fremdenfeindlichen) Antwort auf soziale Fragen verknüpft, spricht der Film nicht für sich selbst, sondern kann nur - wie es die Gerichte entschieden haben - in Gruppen vorgeführt werden, in denen durch anschließende Diskussionen der reale Bedingungszusammenhang nachgeliefert wird, im Rahmen dessen das subjektive Erleben eines Neonaziführers objektivierbar ist.
6. 2. Eines der interessantesten Ergebnisse der vorliegenden Fallrekonstruktion ist zweifellos die Aufdeckung des manifesten und latenten Sinns der Szene mit der serbischen Holocaust-Überlebenden durch die tiefenhermeneutische Gruppeninterpretation, die widerstreitende Gefühle aufgedeckt hat, die wir uns normalerweise nicht eingestehen. Wenn die Tränen der Serbin nicht nur Mitgefühl wecken, sondern auch als aufdringlich und ärgerlich erlebt werden, dann ist zu fragen, wie die durch die Doppelbödigkeit der Szene geweckten ambivalenten Gefühle zu erklären sind. Wie bereits angedeutet wurde, ist es entscheidend, dass die ZuschauerInnen durch die Serbin mit dem Grauen des Holocaust konfrontiert werden, der nicht nur betroffen macht, sondern auch Angst weckt, die durch emotionale Distanzierung, wenn nicht gar durch Unwillen oder Ärger abgewehrt werden kann. Diese negativen Gefühlen können zudem dadurch gerechtfertigt ("rationalisiert") werden, dass der Auftritt der Serbin als "kitschig" und "künstlich" entwertet wird. Während es sich bei dem Versuch, der angesichts des Holocaust aufkommenden Angst durch Entwirklichung der Realität zu entfliehen, um eine ubiquitäre Reaktion handelt, geht es in diesem Fall auch um eine kulturspezifische Abwehrhaltung. Denn wenn wir als deutsche ZuschauerInnen ein Mitgefühl mit der Serbin verhindern, indem wir ihr Verhalten als einen hysterischen Auftritt disqualifizieren, dann geht es dabei auch darum, dass wir vor der schmerzlichen Auseinandersetzung mit den Verhaltensweisen der Eltern und Großeltern zurückschrecken, die im Dritten Reich durch ihr Mitmachen oder Schweigen ihren Teil zum reibungslosen Funktionieren der Massenmorde in den Konzentrations- und Todeslagern beigetragen haben. Wenn nämlich keine Spur von Trauerreaktion mit diesem Opfer des Holocaust aufkommt, sich vielmehr der Anflug einer melancholischen Verstimmung einstellt, die durch die Vorstellung begründet erscheint, wie schwer es angesichts der Nazivergangenheit doch fällt, sich der deutschen Nation zurechnen zu müssen, dann setzt sich diese Gefühlsreaktion auch deshalb durch, weil es dabei um die Übernahme einer von der älteren Generation entwickelten kollektiven Abwehrhaltung geht, die Mitscherlich und Mitscherlich (1967) als typisch für die psychische Verfassung der Deutschen in der Nachkriegszeit beschrieben haben: Die Tatsache, dass um die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen nicht getrauert wurde, sondern die militärischen Niederlage eine depressive Verstimmung der um ihre Ideale betrogenen Deutschen zur Folge hatte, die nur durch die manischen Anstrengungen rastlosen wirtschaftlichen Wiederaufbaus überwunden werden konnte.
Konstruieren wir nun den Fall, dass ein Lehrer den Bonengel-Film einer Schulklasse vorführt, in der auch Jugendliche sitzen, die mit rechtsextremistischen Einstellungen sympathisieren. Nehmen wir zudem an, diese Jugendlichen würden in der Diskussion nach der Filmvorführung zum Ausdruck bringen, das "Gejammer" der Serbin habe sie abgestoßen, Althans hätten sie allerdings als "echt cool" erlebt. In idealtypischer Weise lassen sich zwei Formen der Reaktion des Lehrers vorstellen:
1. Wenn der Lehrer moralisch empört reagiert und den Jugendlichen ihre zynischen Äußerungen vorhält, dann geschieht das psychodynamisch deshalb, weil er die Worte der Jugendlichen als bedrohlich erlebt und im Umgang mit ihnen etwas unter Kontrolle bringen muss, was ihn emotional beunruhigt. Denn die Jugendlichen führen ihm in provozierender Weise die negativen Gefühlsreaktionen vor, mit denen er selbst auf den latenten Sinn der Szene reagiert, die er sich jedoch auf Grund seiner moralischen Überzeugungen nicht einzugestehen wagt. Das Fehlverhalten des Lehrers ist eben deshalb fatal, weil er damit genau so autoritär agiert wie die von ihm kritisierten Neonazis, die wie Althans von ihren Anhängern unbedingten Gehorsam unter ihre Führerbefehle verlangen. Wenn der Lehrer aber dadurch unglaubwürdig wird, dass er im Konfliktfall hinter seine eigenen Ansprüche zurückfällt, dann besteht die Gefahr, dass die Schüler in der Überzeugung bestärkt werden, dass die Neonazis doch "offener" und "ehrlicher" sind als die Pädagogen, die ihre autoritären Verhaltensweisen hinter ihren hohen moralischen Ansprüchen verbergen.
2. Dieser die besten pädagogischen Absichten ins Gegenteil verkehrende Kurzschluss lässt sich vermeiden, sofern der Lehrer sich die negativen Affekte bewusst machen kann, mit denen er selbst auf das Grauen des Holocaust reagiert. Das provozierende Gerede der Jugendlichen wird der Lehrer dann nicht als bedrohlich, sondern als etwas Anstößig-Verbotenes erleben, das ihm bei aller Fremdheit auch vertraut ist. In diesem Fall gewinnt der Lehrer die innere Freiheit und Sicherheit zurück, die er braucht, um in der Diskussion mit den Jugendlichen darauf aufmerksam machen zu können, dass sie mit ihren Einschätzungen nur eine Fassette der konkreten szenischen Konstellation erfassen, jedoch ausblenden, was die Bilder und Szenen darüber hinaus aussagen. Wo Jugendliche Filmsequenzen nur unter Vorurteile subsumieren, kann man daher anhand der konkreten szenischen Gestalt der Filmsequenzen und der Beiträge anderer SchülerInnen zur Sprache bringen, was jene übersehen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Arbeiten mit dem Bonengel-Film an eine Grenze stößt, die bereits benannt worden ist. Gerade weil der Film sich in so hohem Maße auf die Darstellung der Erlebnisperspektive von Althans beschränkt, ließe sich das zu bearbeitende Problem nur dann umfassend analysieren, wenn man etwa einen Film wie Nacht und Nebel von Alain Resnais hinzuzieht, wo das in diesem Film überhaupt nicht vorkommende Grauen inszeniert wird, das die Todeslager erfüllt hat.
Wie immer man auch die Arbeit mit dem Bonengel-Film einschätzen mag, der Erfolg politischer Bildung hängt auch von dem Ausmaß ab, in dem der abstraktes Wissen vermittelnde Umgang mit Politik und Geschichte durch ein lebendiges Gespräch mit Jugendlichen ersetzt wird. Gerade bei Konflikten mit Jugendlichen, die mit rechtsextremistischen Orientierungen sympathisieren, führt der abstrakte Umgang mit Politik allzu leicht zum hilflosen Ignorieren bzw. zu ideologischen Grabenkämpfen führt, die mit moralischen Vorwürfen unterlegt werden. Stattdessen sollte der Unterrichtsstoff anschaulich und bildhaft aufbereitet werden, sodass das Denken und Fühlen der SchülerInnen erreicht wird und sie in die Auseinandersetzung mit dem Thema auch ihr eigenes Erleben einbringen können. Eine dafür geeignetes Modell ist sicherlich die Methode des szenischen Verstehen, mit deren Hilfe, wie ich zu zeigen versucht habe, die Bedeutung kultureller Objektivationen dadurch erfasst wird, dass man in der Gruppe der InterpretInnen beispielsweise einen Film auf das eigene Erleben wirken lässt und sich dessen doppelbödige Sinnstruktur über die Diskussion verschiedenster Verstehenszugänge erschließt.
Anmerkungen:
(1) Ich möchte an dieser Stelle allen Studentinnen und Studenten danken, die ihren Teil zum Gelingen der tiefenhermeneutischen Gruppeninterpretationen beigetragen haben, die ich im WS 1994/1995 im Rahmen von Seminarveranstaltungen an den sozialwissenschaftlichen Fachbereichen der J. W. Goethe-Universität Frankfurt a. M. und der Ruhruniversität Bochum geleitet habe.
Literatur:
Heitmeyer, W. u. a. (1992): Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie. Erste Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim, München 1993.
König, H.-D. (1993 a): Adornos Methodologie in der Perspektive der Tiefenhermeneutik. In: H. Meulemann, A. Elting-Camus (Hg.): 26. Deutscher Soziologentag Düsseldorf.Tagungsbd. II. Opladen , 644-647.
König, H.-D. (1993 b): Die Methode der tiefenhermeneutischen Kultursoziologie. In: T. Jung, S. Müller-Doohm (Hg.): "Wirklichkeit" im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M., 190-222.
König, H.-D. (1994 a): Mutter und Sohn und ein Mann aus Stahl. Tiefenhermeneutische Rekonstruktion von 'Terminator II'. 1. Teil. medien praktisch, 1/94, 12-18; 2. Teil, medien praktisch, 2/94, 45-49; 3. Teil, Medien praktisch, 3/94, 52-60.
König, H.-D. (1994 b): Tiefenhermeneutik als sozialwissenschaftliche Methode. Medien praktisch, 3/94, 58.
König, H.-D. (1995): Sexualität zwischen Lust und Tod. Tiefenhermeneutische Rekonstruktion des in dem Film Basic Instinct inszenierten Geschlechterkampfes. In: S. Müller-Doohm, K. Neumann-Braun (Hg.).: Kulturinszenierungen. Vom Unbehagen zum Behagen in der Kultur. Frankfurt a. M., 142-165.
Lorenzer, A. (1981): Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt a. M..
Lorenzer, A. (1986): Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In: König, Lorenzer u. a.: Kultur-Analysen. Frankfurt a. M., 11-98.
Mitscherlich, A./ Mitscherlich, M. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München.
Dies ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags,
der unter dem Titel "Der Schmerz einer Holocaust-Überlebenden und
das Lachen des Neonazis Althans. Tiefenhermeneutische Rekonstruktion einer Szenensequenz
aus dem Bonengel-Film 'Beruf Neonazi'" erschienen ist in: Politisches Lernen
17. Jg. (1995) H. 1-2, 91-105.
(c) 2001 Hans-Dieter König
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