Matthias Pilz
Inhalt
Abbildungen:
Abb. 1: Varianten der Fallstudie nach Kaiser
Abb. 2: Idealtypische Verlaufsstruktur von Fallstudien nach Kaiser
1. Die Methode
Schon vor dem zweiten Weltkrieg kamen praktische Fälle des Wirtschaftslebens an der Harvard Business School in Boston zum Einsatz. In Deutschland wurde die Auseinandersetzung mit ökonomischen Fragestellungen mittels konkreter Fälle erst ab den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts praktiziert. Das Einsatzgebiet beschränkte sich jedoch vorerst im Rahmen der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre auf die Managerschulung und die Hochschullehre. Zu Beginn der 1970er Jahre fand die Fallstudie dann auch vermehrt Eingang in die Wirtschaftsdidaktik (vgl. Kaiser 1983, S. 11-16).
Mit Fallstudien sind nach Reetz (1988, S. 38) "Unterrichtsmaterialien gemeint, in denen reale oder der Realität entsprechende Ereignisse des sozialen, insbesondere wirtschaftlichen Lebens zu einem Fall aufbereitet sind und die darüber hinaus Lehr-Lernhilfen zur Lösung des Falls enthalten."
Als zentrale didaktische Bezugspunkte fungieren in Fallstudien der Umgang mit komplexen ökonomischen Fragestellungen und das kollektive Suchen nach Problementscheidungen (Pilz 2001). Allerdings kann die Schwerpunktsetzung hinsichtlich der mit der Fallstudienarbeit verbundenen Lernziele variieren. Auf dem Weg zur Entscheidung kann beispielsweise das Aufdecken der Problemstellung oder die Informationsbeschaffung von besonderer Bedeutung sein (Kaiser 1983, S. 20-25, vgl. Abb. 1).
Methode | Erkennen von Problemen | Informationsgewinnung | Problemlösung / Entscheidung Ermitteln alternativer Lösungsvarianten | Lösungskritik |
Case-Study-method | Schwerpunkt Verborgene Probleme müssen analysiert werden |
Informationen werden gegeben | Mit Hilfe der gegebenen Informationen werden Lösungsvarianten des Problems ermittelt und Entscheidungen gefällt. | Vergleich der Lösung mit der Entscheidung in der Wirklichkeit |
Case-Problem- Method | Probleme sind ausdrücklich genannt | Informationen werden gegeben | Schwerpunkt Mit Hilfe der vorgegebenen Probleme und der Informationen werden Lösungsvarianten ermittelt und eine Entscheidung getroffen. |
evtl. Vergleich der Lösung mit der Entscheidung in der Wirklichkeit |
Case-Incident-Method | Der Fall wird lückenhaft dargestellt | Schwerpunkt Informationen müssen selbständig beschafft werden |
Ermitteln von Lösungsvarianten Lösen des Falls |
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Stated-Problem-Method | Probleme sind vorgegeben | Informationen werden gegeben | Die fertigen Lösungen einschließlich der Begründungen werden gegeben: evtl. Suche nach zusätzlichen Alternativen. | Schwerpunkt Kritik der vorgegebenen Lösungen |
Quelle: Kaiser 1983, S. 23 |
Grundsätzlich werden Merkmale sowohl der Fach- als auch der Methoden- und Sozialkompetenz einbezogen (vgl. z.B. Pilz 1978, S. 95-98). Dabei wird die Entscheidung nicht direkt in der Realität erprobt, sondern vor den Gegebenheiten der Realität reflektiert und oftmals mit einem Lösungsansatz aus der Realität verglichen. In diesem Sinne kann bei der Fallstudie von "symbolisch repräsentativem Handeln" (Reetz 1992, S. 341) gesprochen werden.
Nachfolgend ist der idealtypische Ablauf einer Fallstudie skizziert (siehe Abb. 2).
1. Konfrontation mit dem Fall | Ziel: Erfassen der Problem- und Entscheidungssituation | |||
2. Information über das bereitgestellte Fallmaterial und durch selbständiges Erschließen von Informationsquellen | Ziel: Lernen, sich die für die Entscheidungsfindung erforderlichen Informationen zu beschaffen und zu bewerten | |||
3. Exploration: Diskussion alternativer Lösungsmöglichkeiten | Ziel: Denken in Alternativen | |||
4. Resolution: Treffen der Entscheidung in Gruppen | Ziel: Gegenüberstellen und Bewerten der Lösungsvarianten | |||
5. Disputation: die einzelnen Gruppen verteidigen ihre Entscheidung | Ziel: Verteidigen einer Entscheidung mit Argumenten | |||
6. Kollation: Vergleich der Gruppenlösungen mit der in der Wirklichkeit getroffenen Entscheidung | Ziel: Abwägen der Interessenzusammenhänge, in denen die Einzellösungen stehen | |||
Quelle: Kaiser 1983, S. 26 |
Innerhalb des breiten Spektrums der Lehr-Lern-Arrangements besitzt die Fallstudie eine besondere Bedeutung. Diese resultiert aus zumindest zwei Aspekten: Der erste ist der lernpsychologische Aspekt und bezieht sich auf die Tatsache, dass Fallstudien durch die stringente Orientierung an einer Problemlösung grundsätzlich besonders gut für die Generierung vernetzter Denkstrukturen geeignet sind (Pilz 2007) und sich durch ihren mittleren Grad an Realitätsnähe besser als andere Arrangements konsequent auf dieses Ziel hin modellieren lassen (vgl. John 1992, S. 84; Reetz 1988, S. 39-41). Zwar ist bei der Fallstudie das "Lernen im Modell" (Achtenhagen et al. 1992, S. 128) nicht so ausgeprägt wie bei anderen Lernarrangements, doch wird dieses Manko durch die Sicherheit, dass das "Lernhandeln" (vgl. Achtenhagen et al. 1992, S. 82-85) keine Konsequenzen in der Realität hat (vgl. Buddensiek 1992, S. 15) sowie durch die Möglichkeit des didaktisch begründeten "Anhaltens" der Fallstudie zum Zwecke der Reflexion und der abschließenden Bewertung, mehr als kompensiert.
Der zweite Aspekt ist unterrichtsorganisatorischer Art und bezieht sich auf den Organisationsaufwand sowie die notwendige Durchführungszeit (vgl. Reetz 1992, S. 345f.). So erfordert der Fallstudieneinsatz keine besonderen technischen oder räumlichen Voraussetzungen wie etwa das Lernbüro und sind durch die "Einmalentscheidung" im Gegensatz zu revolvierenden Entscheidungsprozessen, wie z.B. bei der Mehrzahl der Planspiele inhärent (vgl. Buddensiek 1992, S. 16), sowie durch den Wegfall von Routinetätigkeiten, wie sie z.B. in der Übungsfirma oder dem Lernbüro anfallen, zeitlich straffer und planbarer zu handhaben.
Fallstudien sind nun allerdings keineswegs als "didaktisch-methodische Allzweckwaffe" im Unterricht einsetzbar und stellen "keine ´Selbstläufer` " (John, 1992, S. 85) dar. Diese Warnung hinsichtlich einer reflektierten und sehr sorgfältigen Konstruktion von Fallstudien kann zumindest ansatzweise durch die Orientierung an entsprechenden Konstruktionsregeln Rechnung getragen werden (Wolf 1992).
2. Literatur
Achtenhagen, Frank et al. (1992): Lernhandeln in komplexen Situationen -Neue Konzepte der betriebswirtschaftlichen Ausbildung, Wiesbaden.
Buddensiek, Wilfried (1992): Entscheidungstraining im Methodenverbund -Didaktische Begründung für die Verbindung von Fallstudie und Simulationsspiel. In: Keim, Helmut, Hg., Planspiel-Rollenspiel-Fallstudie -Zur Praxis und Theorie lernaktiver Methoden, Köln, 9-24.
John, Ernst G. (1992): Fallstudien und Fallstudienunterricht. In: Achtenhagen, Frank; John, Ernst G., Hg., Mehrdimensionale Lehr-Lern-Arrangements -Innovationen in der kaufmännischen Aus- und Weiterbildung, Wiesbaden, 79-91.
Kaiser, Franz-Josef (1983): Grundlagen der Fallstudiendidaktik -Historische Entwicklung-Theoretische Grundlagen-Unterrichtliche Praxis. In: Kaiser, Franz-Josef, Hg., Die Fallstudie -Theorie und Praxis der Fallstudiendidaktik, Bad Heilbrunn, 9-34.
Pilz, Roland (1978): Entscheidungsorientierte Unterrichtsgestaltung durch Einsatz des wirtschaftskundlichen praxisbezogenen Falls. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 74. Bd. (2), 95-110.
Pilz, Matthias (2001): Der Einsatz von Fallstudien zur Förderung des vernetzten Denkens im Wirtschaftslehreunterricht -Darstellung und Evaluation eines Projekts in der Berufsfachschule. In: Wirtschaft und Erziehung, 53. Jg. (6), 193-200.
Pilz, Matthias (2007): Die Netzwerktechnik. In: Retzmann, Thomas, Hg., Methodentraining für den Ökonomieunterricht, Schwalbach, 21-33.
Reetz, Lothar (1988): Zum Einsatz didaktischer Fallstudien im Wirtschaftslehreunterricht. In: Unterrichtswissenschaft, 16. Jg. (2), 38-55.
Reetz, Lothar (1992): Curriculumentwicklung und entdeckendes Lernen mit Hilfe von Fallstudien. In: Achtenhagen, Frank; John, Ernst G., Hg., Mehrdimensionale Lehr-Lern-Arrangements -Innovationen in der kaufmännischen Aus- und Weiterbildung, Wiesbaden, 340-352.
Wolf, Karl (1992): Die Fallstudie als Unterrichtsmethode, ein Plädoyer. In: Wirtschaft und Erziehung, 44. Jg. (5), 158f.
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