Erkundung, Sozialstudie, Praktikum

Joachim Detjen

Inhalt

1. Allgemeines
2. Die Erkundung
2.1 Begriff und didaktische Funktion
2.2 Hinweise für die Praxis
3. Die Sozialstudie
3.1 Begriff und didaktische Funktion
3.2 Hinweise für die Praxis
4. Das Praktikum
4.1 Begriff und didaktische Funktion
4.2 Hinweise für die Praxis
5. Literatur

1. Allgemeines

Erkundung, Sozialstudie und Praktikum sind methodische Großformen, die die Makrostruktur des Politikunterrichts bestimmen: Ihre Durchführung nimmt einen längeren Zeitraum in Anspruch, ihr Verlauf gliedert sich in eine Vorbereitungs-, eine Durchführungs- und eine Auswertungsphase, und ihr Einsatz erfordert die Anwendung diverser Arbeitsweisen (Sozial- und Aktionsformen) sowie die Beherrschung bzw. die Einübung verschiedener Arbeitstechniken (hermeneutischer, kommunikativer, schriftlicher und produktiver Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten).

Die drei Methoden unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Komplexität: Die Erkundung ist am einfachsten strukturiert. Sie bildet eine Art Grundform, die in anspruchsvollerer Gestalt den Kern der Sozialstudie ausmacht und auch im Praktikum zur Anwendung kommt.

Erkundung, Sozialstudie und Praktikum haben eine Reihe von Merkmalen gemeinsam. Am grundlegendsten ist die Begegnung mit der Lebenswirklichkeit. Den Lernenden werden Erfahrungen und Handlungen in Realsituationen ermöglicht. Die Wirklichkeit wird nicht über symbolische Repräsentation (Texte, Schaubilder, abstrakte Begriffe) erfaßt, sondern so, wie sie erscheint. Die unmittelbare Wahrnehmung von Ausschnitten der Realität steuert so dem "allmählichen Verschwinden der Wirklichkeit" (von Hentig) entgegen. Mit der Intention, die Trennung von Schule und Leben zu überwinden und einen lernenden Zugang zur Wirklichkeit - und nicht zur symbolischen Abbildung - der Welt zu eröffnen, stehen die drei Methoden in der Tradition der deutschen und amerikanischen Reformpädagogik. Sie greifen Pestalozzis Formel vom Lernen mit Kopf, Herz und Hand auf und erinnern an John Deweys Klage, daß die Schulfächer die unmittelbare Lebenswirklichkeit zerstückeln.

Eine zweite Gemeinsamkeit ist das Lernen vor Ort. Zumindest in der Durchführungsphase verlassen die Schüler ihr Klassenzimmer und bearbeiten bestimmte Aufgaben an der Stelle, wo sie verortet sind, wo sie direkt gesehen und studiert werden können. Insofern kommt es zur Real- oder originalen Begegnung.

Handlungsorientierung und, hiermit eng zusammenhängend, Produktorientierung bilden eine dritte Gemeinsamkeit. Die drei Methoden verlangen von den Schülern interaktive, kommunikative, planerische und produktive Anstrengungen. Am Ende eines mit Hilfe dieser Methoden gestalteten Unterrichts steht eine selbst gefertigte Dokumentation der Ergebnisse.

Gemeinsam ist den Methoden weiterhin die Subjekt- und die Prozeßorientierung. Sie erlauben den Schülern Mitbestimmung bei der Festlegung des unterrichtlichen Vorgehens und des anzustrebenden Handlungsergebnisses. Darüber hinaus ist besonders die Durchführungsphase durch selbständige Schülertätigkeit gekennzeichnet. Hier sind die Schüler Lernsubjekte, die ihren Lernprozeß selbst verantworten. Sie dürfen sich Lernerfolge selbst zuschreiben, können andererseits Mißerfolge nicht auf andere abwälzen. Es kommt den Methoden außerdem weniger auf ein Lernergebnis in Form von abfragbarem Wissen an. Wichtiger ist der Prozeß des methodisch gesteuerten Lernens selbst. Die Methode ist Gegenstand, nicht lediglich Mittel des Unterrichts. Die Schüler sollen auf diese Weise eine Methodenkompetenz (Lernplanung, Lerndurchführung, Lernkontrolle) und eine Sozialkompetenz (Selbständigkeit, Kommunikation, Kooperation), insgesamt also eine Handlungskompetenz, erlangen.

Schließlich ist den Methoden noch die Erfahrungsorientierung und das forschende Lernen gemeinsam. Schüler werden hier nicht "belehrt", sondern erfassen über selbst gemachte Erfahrungen die soziale und politische Welt. Das Erfahrungslernen geht über bloß sinnliche Wahrnehmungen oder konkret-operationales Handeln während der Durchführungsphase hinaus. In der Auswertungsphase kommt es zur intellektuellen Reflexion und zur produktiven Verarbeitung. Erfahrungen werden also angeeignet, verarbeitet und veröffentlicht. Die Methoden sind sozialwissenschaftlichen Verfahren nachgebildet. Insofern kommt es zum forschenden Lernen, wenn die Schüler einen Sachverhalt nach bestimmten Regeln planmäßig untersuchen, ihr Vorgehen und ihr Ergebnis so veröffentlichen, daß andere dieses nachvollziehen und überprüfen können.

Erkundung, Sozialstudie und Praktikum sind kein Allheilmittel für den Politikunterricht. Der systematisch angelegte Lehrgang ist unverzichtbar. Die Anwendung der drei Methoden wird zudem schon dadurch erschwert, daß Politik ein Ein- oder Zweistundenfach ist. Dennoch sind sie eine wertvolle Ergänzung, da sie wichtige Ziele der politischen Bildung, wie Selbständigkeit, Selbstbestimmung und verantwortliches Handeln, zu fördern vermögen und damit der Leitidee des mündigen Menschen auf besondere Weise verpflichtet sind.

2. Die Erkundung

2.1 Begriff und didaktische Funktion

Die Erkundung ist eine geplante und methodisch organisierte Wirklichkeitsbegegnung von Lernenden mit der sozialen Welt. Mit Hilfe der Erkundung werden Sachverhalte entdeckt, Hypothesen geprüft und wird Wissen auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit überprüft. Die Erkundung ist interaktionell angelegt, da die zu erforschenden Dinge aufgrund ihrer Komplexität eine arbeitsteilige Untersuchung erfordern. Kennzeichnend sind weiterhin eine gemeinsame Planung, ein Austausch der Wahrnehmungen im Anschluß an die eigentliche Erkundung sowie eine gemeinsam erstellte Dokumentation. Da soziale Erkundungsbereiche in der Regel nicht für Lernvorgänge strukturiert sind, müssen sie erst didaktisch erschlossen werden. Idealerweise geschieht dieses in der Planungsphase durch die Lerngruppe.

Die Teilnehmer einer Erkundung führen selbstentwickelte oder angeregte Erkundungsaufträge durch. Diese Eigenaktivität unterscheidet die Erkundung von einem Unterrichtsgang, einer Exkursion oder einer einfachen Besichtigung. Die Nähe zur Projektmethode ergibt sich daraus, daß, ausgehend von einer Problemstellung, selbständig Informationen beschafft, aufbereitet und gegebenenfalls zu einer Handlungsorientierung verdichtet werden. Erhält die Erkundung einen zeitlich zentralen Stellenwert mit einem hohen didaktischen Eigengewicht, läßt sich von einem Erkundungsprojekt sprechen. Denkbar ist aber auch, daß die Erkundung Bestandteil einer Sozialstudie, eines Praktikums oder eines thematisch eigenständigen Projekts ist. In diesen Fällen bildet sie meistens den erlebnismäßigen Höhepunkt solcher Vorhaben.

Seit langer Zeit eingesetzt und praktiziert wird die Erkundung in der Arbeits- und Wirtschaftslehre in Gestalt der Betriebserkundung sowie in Geographie und Geschichte bei der Erschließung von Räumen sowie historischen Objekten und Museen. Für den Politikunterricht kommen als Gegenstand der Erkundung in erster Linie soziale Verhältnisse und politische Institutionen im Nahraum der Schüler in Betracht. Hier können Orte sozialer Vernetzungen, Beziehungsgeflechte, Konfliktstrukturen, Ämteraufbau, Kompetenzen und Rechtsvorschriften sondiert werden. Schwieriger, wenngleich didaktisch reizvoll, dürfte die Erkundung von politischen Einstellungen, Meinungsbildern und Deutungsmustern sein.

Es gibt verschiedene Arten der Erkundung. Eine Vorstufe bildet die mit einer anschließenden Besprechung kombinierte Besichtigung. Der Besuch einer Parlamentssitzung oder einer Gerichtsverhandlung wird so vorbereitet, daß die Schüler in der Besprechungsphase sinnvolle Fragen stellen können. Die eigentliche (aktive) Erkundung tritt entweder als Erarbeitungserkundung oder als Überprüfungserkundung auf. Die erstere steht am Anfang einer Unterrichtssequenz und sucht empirisch-induktiv Aufschlüsse über einen verabredeten Sachverhalt. Die letztere steht am Ende der Beschäftigung mit einem Unterrichtsgegenstand und dient dem Vergleich des theoretisch Erarbeiteten mit der Wirklichkeit.

Eine Erkundung verläuft üblicherweise in sechs Phasen. 1. Am Anfang steht eine Frage aus dem Erfahrungsraum der Schüler oder ein aus der Sacherörterung hervorgegangenes klärungsbedürftiges Problem. Es entsteht das Bedürfnis nach näherer Information vor Ort. 2. In der Planungsphase werden Fragen formuliert, gesammelt und geordnet, Gruppen gebildet und mit Aufträgen versehen, Arbeitstechniken der Erkundung geübt und die weiteren Schritte besprochen. 3. Hiernach obliegt dem Lehrer die organisatorische Vorbereitung. Er muß Kontakte zu Bezugspersonen herstellen, technische Hilfsmittel bereitstellen und die Schulleitung informieren. 4. Die Erkundung selbst findet ohne Beisein des Lehrers statt. Schüler können allein oder in kleinen Gruppen erkunden. Um gegebenenfalls unterstützend eingreifen zu können, muß der Lehrer aber für die Schüler erreichbar sein. 5. In der Auswertungsphase werden die eruierten Fakten gesichtet, analysiert und systematisiert. Schwierigkeiten beim Erkunden werden angesprochen. Ein auf den Erkundungsgegenstand bezogenes Gesamtresümee schließt die Reflexionen ab. 6. Die Erstellung einer Dokumentation bildet den Abschluß der Erkundung. Sie stellt mit Texten und Bildern und eventuell mit akustischer Untermalung die Erkundungsergebnisse und die angewandten Erkundungsmethoden vor. Die Dokumentation kann schulöffentlich als Ausstellung präsentiert werden.

Das Erkunden verbindet konkretes und abstraktes Lernen. Die Lernenden müssen Beobachtungskriterien entwickeln, Fragebögen bzw. Interviewfragen konzipieren, Informationsgespräche führen, Protokolle verfassen, Skizzen anfertigen, fotografieren, Informationen auswerten und reflektieren, Texte formulieren und eine Dokumentation produzieren.

Die Erkundung bietet noch weitere Lernchancen. Den jungen Menschen wird bewußt, daß sie sozialwissenschaftliche Werkzeuge benötigen, um die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit zu erschließen. Die Erkundung fördert daher das Methodenlernen. In den verschiedenen Phasen der Erkundung müssen die Schüler miteinander kommunizieren und kooperieren. Sie schlüpfen in verschiedene Rollen (Interviewer, Berichterstatter, Gruppenleiter) und erhalten so Gelegenheit zur bewußten Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die Erkundung liefert somit einen Beitrag zum sozialen Lernen. Die Schüler lernen im Gang einer Erkundung das zielbezogene Planen und Handeln. Sie haben starken Anteil an der Vorbereitung und an der Auswertung. Sie sind selbständig bei der Durchführung der Erkundung. Ihre Urteils-, Entscheidungs-, Handlungs- und Reflexionsfähigkeit wird gestärkt. Diese Fähigkeiten gehören zu den anerkannten Zielen der politischen Bildung.

Aus der Sicht der Lern- und der Entwicklungspsychologie hat die Erkundung den Vorteil, daß sie insbesondere dem Hang jüngerer Schüler zum Realen, Anschaulichen und Konkreten entspricht und ein entdeckendes und problemlösendes Lernen ermöglicht. Man kann daher mit hoher Motivation rechnen. Hinzu kommt, daß der aktive Arbeits- und Aneignungsprozeß die Behaltensleistung und die Reorganisationsfähigkeit steigert.

2.2 Hinweise für die Praxis

Die Erkundung ist anwendbar in der Sekundarstufe I. In rudimentärer Form kann sie auch schon in der Grundschule eingesetzt werden. Geeignete Themen finden sich im Nahraum der Schüler: Der Aufbau der Gemeindeverwaltung, der öffentliche Personennahverkehr, die Wohnsituation von Ausländern, die Güte der örtlichen Gewässer, die Verkehrssicherheit auf den Straßen, Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche, die Umweltqualität in der heimischen Region. Als Erkundungsorte bieten sich u.a. die Schule, örtliche Betriebe, das Klärwerk, das Wasserwerk, die Mülldeponie und öffentliche Plätze und Straßen an.

Die Dauer eines Erkundungsvorhabens darf nicht unterschätzt werden. Zwölf bis sechzehn Unterrichtsstunden sind für einen Durchlauf zu veranschlagen. Dabei entfallen für die Erkundung selbst vier bis fünf Stunden. Für kleinere Erkundungen reichen vier bis sechs Stunden, wenn der Erkundungsgang höchstens eine Stunde dauert. Anspruchsvolle Erkundungen sollten in Projektwochen durchgeführt werden, da hier rund 30 Stunden zur Verfügung stehen.

Auch wenn der Lehrer in der eigentlichen Erkundung zurücktritt, ist er für das Gelingen einer Erkundung pädagogisch verantwortlich. Er hat alle organisatorischen Arbeiten zu leisten. Ihm obliegt die Aufsichtspflicht während des Erkundungsganges. Während der Vorbereitung muß er die Kraft haben, sich zurückzunehmen, damit es nicht zu oktroyierten Erkundungsaufgaben kommt. Gleichzeitig muß er auf Methodendisziplin und Beachtung der Arbeitsschritte achten. Großes Augenmerk sollte der Lehrer auf die Vermittlung der erforderlichen Arbeitstechniken richten. Ohne vorheriges Üben werden die Schüler große Schwierigkeiten im Befragen, im Notieren und Protokollieren sowie im Entwerfen und Auswerten von Fragebögen haben. Auch die Interviewtechnik muß trainiert werden.

Unter dem Gesichtspunkt schülergerechter Methoden sollten die Schulen ein Curriculum entwickeln und für die Stundenplanung berücksichtigen, das die Durchführung von Erkundungsprojekten vorsieht. Da die Erkundung im Grunde eine überfachliche Lernveranstaltung ist, können die Vor- und Nachbereitungen auf verschiedene Fächer verteilt werden und bleiben nur die fachliche Vorbereitung, die Durchführung und die fachliche Auswertung dem Politikunterricht vorbehalten. So erhält das Fach Deutsch die Zuständigkeit für die Vermittlung der notwendigen sprachlichen Fertigkeiten und lassen sich optische Gestaltung und Anordnung von Texten und Bildern im Fach Kunst üben.

3. Die Sozialstudie

3.1 Begriff und didaktische Funktion

Die Sozialstudie stellt eine Weiterführung der Erkundung dar. Ihr Ablauf entspricht dem einer Erkundung. Insbesondere steht am Ende eine Dokumentation. Der wesentliche Unterschied liegt darin, daß die Sozialstudie auf der stringenten Anwendung wissenschaftlicher Vorgehensweisen beruht. Wie der Begriff schon signalisiert, geht es um eine systematisch angelegte Erforschung eines sozialen Sachverhaltes oder sozialer Zusammenhänge. Die Schüler bewältigen mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Methoden, in erster Linie der empirischen Sozialforschung, selbständig eine elementare Forschungsaufgabe. Der wissenschaftspropädeutische Charakter der Sozialstudie und ihre Nähe zur Feldforschung in der Soziologie liegen auf der Hand. Die Bezeichnung "social studies" für ein Schulfach in den USA weist darauf hin, daß dort explorative Methoden eine große Rolle spielen.

Die in der Sozialstudie zur Geltung kommenden wissenschaftlichen Methoden sind die teilnehmende Beobachtung, die Meinungsumfrage, die Expertenbefragung, das Interview, die Erstellung und Auswertung von Fragebögen, die Analyse von Statistiken, die Interpretation schriftlicher Quellen, das Vergleichen empirischer Daten und das nach Plausibilitätsgesichtspunkten erfolgende Beurteilen.

Im Gegensatz zur Erkundung kommt dem Lehrer in der Sozialstudie eine fachlich führende Funktion zu. Er repräsentiert gegenüber den Schülern die Regeln und Ansprüche wissenschaftlichen Vorgehens. Er muß die Schüler anleiten bei der Auswahl der Methoden, Entscheidungen treffen über das auszuwertende Quellenmaterial und behilflich sein bei der Interpretation gewonnener Daten.

Die Sozialstudie kann nicht zu jedem Zeitpunkt durchgeführt werden. Und auch nicht jedes Thema eignet sich zur Bearbeitung durch eine Sozialstudie. Vor allem kann sie nicht am Anfang der Erarbeitung eines Themas stehen. Vorausgehen muß eine intensive systematische Beschäftigung mit der Sache, weil sich Hypothesen und Forschungsinteressen erst auf einem solchen Hintergrund ergeben können. Denkbar ist also, daß man sich zu dieser Methode entschließt, nachdem im Lehrgangsunterricht empirische Forschungsergebnisse erörtert worden sind, die dann an den örtlichen Verhältnissen überprüft werden sollen.

Die didaktische Bedeutung der Sozialstudie liegt vor allem in ihrem wissenschaftspropädeutischen Wert. Besser als die meisten anderen Unterrichtsmethoden ist sie geeignet, in das sozialwissenschaftliche Methodenrepertoire einzuführen. Aufgrund ihres wissenschaftlichen Anspruches zwingt sie die Schüler zu hoher Konzentration, prüft ihre Frustrationstoleranz und stellt ihre Belastbarkeit auf die Probe. Da sie aber ebenso zu einer sichtenden und wertenden Auseinandersetzung mit dem untersuchten Ausschnitt der sozialen Welt anleitet, trägt sie auch zu den inhaltlichen Zielen des Politikunterrichts bei.

3.2 Hinweise für die Praxis

Die Sozialstudie läßt sich mit Gewinn erst in der Sekundarstufe II und dort vornehmlich in Leistungskursen einsetzen. Die Themen können aus der Umgebung der Schüler stammen, sollten aber eine gewisse Komplexität aufweisen. Beispiele: Freizeitverhalten von Jugendlichen, Schulklima in verschiedenen Schulen, Auswirkungen einer Betriebsstillegung auf die Region, Sanierung eines Stadtviertels, Probleme des öffentlichen Personennahverkehrs, Wandel in der Sozialstruktur eines Dorfes, Müllnotstand im Kreis.

Eine Sozialstudie ist ein zeitaufwendiges Vorhaben. Je nach Umfang kann sie 20 und mehr Unterrichtsstunden in Anspruch nehmen. Projektwochen bilden einen günstigen Zeitrahmen für die Durchführung einer Sozialstudie.

Der Lehrer muß sich im klaren darüber sein, daß die Schüler weder Vorkenntnisse noch Erfahrungen in den Techniken der empirischen Sozialforschung haben. Er muß diese Techniken vorher mit der Lerngruppe eingehend besprechen und Gelegenheit zum Ausprobieren und Trainieren geben. Das gilt insbesondere für die Expertenbefragung, die Meinungsumfrage und das Interview.

4. Das Praktikum

4.1 Begriff und didaktische Funktion

Das Praktikum ist eine außerhalb der Schule abzuleistende praktische Tätigkeit, die didaktisch auf Gegenstände und Ziele der politischen Bildung bezogen ist. Das Praktikum hat die generelle Aufgabe, das Defizit an praktischen Erfahrungen zu reduzieren, das sich zwangsläufig aus der Trennung der Schule vom wirklichen Leben ergibt. Im handelnden Umgang mit den am Praktikumsort vorgefundenen sozialen und technischen Gegebenheiten, Zweckbestimmungen, Arbeitsvorgängen und Konflikten sollen die Schüler soziale, wirtschaftliche und politische Einsichten gewinnen.

Praktikumsorte können Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Massenmedien, Verbände, Vereinigungen, Verwaltungen sowie Einrichtungen der Legislative und der Exekutive sein. Praktika in solchen außerbetrieblichen Handlungsfeldern sind bislang aber nicht curricular verankert. Etabliert hat sich lediglich das Betriebspraktikum. Insofern bezieht sich faktisch das Praktikum gegenständlich nur auf die Arbeits- und Berufswelt. Der Praktikant wird dabei dreifach mit Betriebsabläufen konfrontiert, und zwar durch die eigene Arbeit, durch die teilnehmende Beobachtung und durch die Befragung von Betriebsangehörigen.

Vorläufer des Betriebspraktikums während der 50er Jahre war das Berufspraktikum. Der 1964 vom Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen vorgelegte Entwurf für die Hauptschule enthielt Vorschläge für ein einzurichtendes Fach Arbeitslehre, dem die Vermittlung technisch-wirtschaftlicher und gesellschaftlich-politischer Einsichten, Kenntnisse und Fertigkeiten aufgegeben wurde. Für dieses Fach empfahl die Kultusministerkonferenz 1969 die Durchführung von Betriebserkundungen und Betriebspraktika. Mittlerweile ist das Betriebspraktikum von allen Schulformen angenommen worden. Im Gymnasium ist es dem Fach Politik zugeordnet.

Ein Betriebspraktikum gliedert sich in drei Phasen. 1. In der Vorbereitungsphase setzen sich die Schüler mit Fragen des Wirtschaftens sowie der Berufs- und Arbeitswelt auseinander. Zusammen mit dem Lehrer entwerfen sie einen Aufgaben- und Fragenkatalog, der zum gezielten Beobachten und Erkunden anhalten soll und der späteren Analyse der Erfahrungen dient. Sie erwerben ein Methodenwissen, um diese Aufgaben erfüllen zu können. 2. In der zwei- oder dreiwöchigen Durchführungsphase erleben die Schüler als Praktikanten den Arbeitsalltag. Sie werden von ihrem Fachlehrer (Praktikumsleiter) mehrfach besucht. Dieser tauscht sich dabei auch mit dem betrieblichen Praktikumsbetreuer aus. 3. In der Auswertungsphase reflektieren die Schüler ihre Erfahrungen, fertigen Praktikumsberichte an und bereiten gegebenenfalls eine Praktikumsausstellung vor.

Die schulamtlichen Vorschriften und die Fachdidaktik unterscheiden verschiedene Arten von Betriebpraktika. Daraus läßt sich schließen, daß die Anzahl der Praktika nach Schulform und Bundesland unterschiedlich geregelt ist. So gibt es in der Absicht, das berufliche Neigungsprofil von Hauptschülern zu schärfen, das Orientierungs-, das Erprobungs- und das Kontrastpraktikum. In bezug auf das Gymnasium wird gelegentlich differenziert zwischen dem der Ersterfahrung dienenden (eigentlichen) Betriebspraktikum auf der Sekundarstufe I und dem Wirtschaftspraktikum auf der Sekundarstufe II, das stärker dem Erwerb betriebs- und volkswirtschaftlicher Grundkenntnisse gewidmet ist.

Mit dem Praktikum verbinden sich hohe didaktische Erwartungen. Zunächst fördert es allgemeine Qualifikationen wie Zuverlässigkeit, Selbständigkeit und Durchhaltevermögen. Seine Durchführung soll aber insbesondere berufsorientierenden, funktionalen und sozialen Aspekten entsprechen. Der erste Aspekt soll den Schüler letztlich befähigen, selbständig und eigenverantwortlich auf der Grundlage sachlicher Information eine bewußte Entscheidung zu treffen. Zu diesem Zweck gibt das Praktikum Gelegenheit, eine berufliche Tätigkeit auszuführen, die Betriebsangehörigen bei der Berufsausübung zu beobachten und sich reflexiv mit den vielfältigen Aspekten der Berufswahl auseinanderzusetzen. Unter funktionalem Aspekt erfährt der Schüler den Betrieb als Organisations-, Kooperations- und Leistungsgefüge. Er erwirbt Kenntnisse über elementare Grundstrukturen der Arbeitswelt. Unter sozialen Aspekten lernt der Schüler die Situation arbeitender Menschen kennen. Durch das persönliche Erleben kann er im Sinne eines Perspektivenwechsels nachvollziehen, was Menschen bewegt, die im Arbeitsleben stehen.

Nicht vergessen werden sollte die didaktische Grenze des Praktikums. Der Aufenthalt im Betrieb ist keine wirkliche Ernstsituation. Denn der Praktikant nimmt sowohl funktional als auch sozial eine Sonderstellung ein. Seine fehlende Qualifikation läßt eine ernsthafte berufliche Herausforderung gar nicht zu. Selbst der singuläre Horizont des zugewiesenen Arbeitsplatzes ist für ihn kaum durchschaubar. So sind seine Erfahrungen zwangsläufig verzerrt und restringiert. Dennoch bleibt festzuhalten, daß Schüler die neu gewonnenen Erfahrungen an den betrieblichen Lernorten überwiegend begrüßen.

4.2 Hinweise für die Praxis

Für den Schüler bedeutet das Praktikum ein extrem individualisiertes Lernen, das zudem in einer Umgebung stattfindet, welche nicht auf Lernen angelegt ist. Von ihm wird eine besondere kognitive Transferleistung verlangt, wenn er das in der Schule erworbene theoretische Wissen in die Praxis der Betriebserfahrungen umsetzen soll. Hinzu kommt, daß im Praktikum die traditionelle Schülerrolle umdefiniert wird, agiert der Schüler doch als Fragender und nicht als Antwortender.

Diese Herausforderungen des Praktikums erfordern vom Lehrer, daß er sorgfältig die auf das Praktikum bezogenen Sachkenntnisse vermitteln muß. Großes Gewicht sollte er auch auf das Einüben der für die Erkundungsaufgaben erforderlichen Fertigkeiten legen. Hierzu gehören das Beobachten, das Interviewen und das Protokollieren.

Bei der in der Vorbereitungsphase erfolgenden Festlegung der Erkundungsaufgaben bieten sich folgende Punkte an: Die Organisation des Betriebes, der Arbeitsablauf und die Arbeitsplatzbedingungen (an ausgesuchter Stelle), die Rechte und Pflichten der Betriebsangehörigen, die Ausbildungs-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie die Aufstiegschancen im Betrieb, die sozialen Leistungen des Betriebes und die Rolle des Betriebes für die Gemeinde und die Region.

Die Auswertungsphase sollte schülergerecht gestaltet werden. Eine Rekapitulation und Reflexion der Praktikumserfahrungen ist unumgänglich, aber dieses sollte sich nicht in formalisierten Berichten erschöpfen. Vorteilhaft ist es, die Nachbereitung des Praktikums in eine Assoziations-, eine Produktions- und eine Vertiefungsphase zu teilen. In der Assoziationsphase kommt es zu spontanen Rückmeldungen, Kommentaren, Erlebnisberichten und gegenseitigem Erfahrungsaustausch. Die Produktionsphase kann verschieden gestaltet werden: Eine Praktikumsausstellung zeigt und erläutert von Schülern erstellte Produkte oder andere betriebsspezifische Dokumentationsmaterialien. Eine Praktikumszeitung schildert Erfahrungen und Begebnisse. Szenische Rollenspiele helfen, Interaktions- und Kommunikationsprobleme während des Praktikums aufzuarbeiten. Die themenzentrierte Vertiefung dient der fachlich-sachlichen Klärung. Hier schreiben die Schüler Berichte entweder über konkrete Aspekte oder über allgemeine soziale und politische Themen im Zusammenhang mit dem Praktikum.

5. Literatur

Ackermann, P. (1990): Außerschulische Lernorte. Ein Beitrag zu einem ganzheitlichen bzw. mehrdimensionalen politischen Lernen, in: Zur Theorie und Praxis der politischen Bildung, Bonn, S. 247-257.

Ackermann, P. (1997): Forschend lernen: Exkursion, Sozialstudie, Projekt, in: W. SANDER (Hrsg.): Handbuch politische Bildung, Schwalbach/Ts., S. 457-470.

Ackermann, P./Gassmann, R. (1991): Arbeitstechniken politischen Lernens kurzgefaßt, Stuttgart.

Becker, F. J. (1988): Erkundung und Befragung als Methode der politischen Bildung, in: Erfahrungsorientierte Methoden der politischen Bildung, Bonn, S. 97-131.

Becker, F. J. (1991): Politisches Lernen durch Realbegegnung. Zur Methode von Erkundung und Befragung, in: Methoden in der politischen Bildung - Handlungsorientierung, Bonn, S. 174-212.

Beinke, L./Hoffer, I./Platte, H. K./Zimmer, W. (1989): Betriebspraktikum. Ziele, Richtlinien, Forderungen, Modellversuche, Köln.

Detjen, J. (1995): Schüler erkunden die Stadtverwaltung. Bericht über einen handlungsorientierten "Ausflug" ins Rathaus, in: Politische Bildung 28, Heft 4, S. 128-138.

Eckert, M. (1995): Betriebserkundung - Betriebspraktikum, in: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Band 8. Herausgegeben von E.-G. SKIBA, C. WULF, K. WÜNSCHE, Stuttgart, Dresden, S. 398-402.

Gymnasium und Wirtschaft (1994): Zur Didaktik des Betriebspraktikums in der Mittelstufe des Gymnasiums. IPTS-Beiträge für Unterricht und Lehrerbildung, Heft 31, Kiel.

Klippert, H. (1989): Methoden zur Auswertung des Betriebspraktikums - oder: Wie man Schüler aufs neue motivieren und aktivieren kann, in: arbeiten + lernen/Die Arbeitslehre 11, Heft 61, S. 35-40.

Koch-Doetsch, T. (1990): Lernort Betrieb. Das Schülerbetriebspraktikum am Gymnasium. Grundlagenband, Köln.

Mickel, W. (1980): Methodik des politischen Unterrichts, Frankfurt am Main.

Mickel, W. (1996): MethodenLeitfaden durch die politische Bildung. Eine strukturierte Einführung, Schwalbach/Ts.

Reuel, G./Schneidewind, K. (1989): Das Betriebspraktikum. Eine technokratisch funktionierende, didaktisch noch unterentwickelte Unterrichtsform, in: arbeiten + lernen/Die Arbeitslehre 11, Heft 61, S. 10-15.

Dieser Text ist unter gleichem Titel in leicht abgeänderter Form erschienen in: Wolfgang W. Mickel (Hg.). 1999. Handbuch zur politischen Bildung, Bonn, S. 397-403.
© 1999 Joachim Detjen, © 2007 sowi-online e.V., Bielefeld
sowi-online dankt der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn und dem Verfasser für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung des Textes im Internet.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Copyright-Inhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, auch im Internet.