- 1. Zur Ausgangslage: Die Mainstream Economics als Spiegelung der real entfesselten Ökonomie
- 2. Zur pädagogischen Herausforderung: Worauf es für einen vernünftigen Umgang mit ökonomischen Kategorien ankommt
- 3. Umrisse eines wirtschaftspädagogischen Leitbilds: Ökonomische Allgemeinbildung für mündige Wirtschaftsbürger
- 3.1 Aspektlehre der ökonomischen Perspektive versus Bereichslehre der Wirtschaft
- 3.2 Sozialökonomie verus Systemökonomie
- Literatur
Peter Ulrich
1. Zur Ausgangslage: Die Mainstream Economics als Spiegelung der real entfesselten Ökonomie
Wirtschaften ist eine gesellschaftliche Aktivität - das ist an sich selbstverständlich. Doch diese Selbstverständlichkeit kommt im Selbstverständnis der heutigen Mainstream Economics nicht mehr unbedingt zum Ausdruck. Die heute gelehrten Wirtschaftswissenschaften haben sich von ihren lebenspraktischen Ausgangsfragen (un-) ziemlich weit entfernt. Sie thematisieren kaum mehr die "dienende" Rolle wirtschaftlicher Prozesse im Hinblick auf übergeordnete "vitale" Gesichtspunkte des guten Leben und gerechten gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen; vielmehr entfalten sie nur mehr eine aus solchen Zusammenhängen weitgehend herausgelöste, dekontextualisierte ökonomische "Sachlogik" des Marktes, sei es aus betriebs-, volks- oder weltwirtschaftlicher Perspektive. Mit der alten aristotelischen Trias von Ethik, Politik und Ökonomik als drei untrennbaren Sphären, an der sich durchaus auch noch die klassische Politische Ökonomie eines Adam Smith orientierte (Meyer-Faje/Ulrich 1991), haben die Vertreter der neoklassisch geprägten Mainstream Economics nichts mehr am Hut. Die gegenüber ethischen und politischen Gesichtspunkten verselbständigte autonome Ökonomik (Albert 1972: 3, 22) versteht sich nur noch als "reine" Systemökonomik, d.h. als eine Theorie, die nichts als die normative Logik des "freien" Marktes und das "rationale" Verhalten von Homines oeconimici, die ihren Markterfolg maximieren wollen (so die neoklassische Rationalitätsannahme), entfaltet.
Es handelt sich dabei um eine akademische Spiegelung dessen, was seit gut 200 Jahren tatsächlich vor sich geht (Ulrich 1993a: 173ff.): jener fortschreitenden institutionellen "Entfesselung" und normativen "Enthemmung" des ökonomischen Rationalisierungsprozesses, den Karl Polanyi (1944/1978) als die "große Transformation" bezeichnete und der gegenwärtig unter der Flagge der Globalisierung gerade einen neuen epochalen Schub erfährt. Die sich gedanklich in einem sozialen und ethischen Vakuum bewegende autonome Ökonomik ist in dieser Perspektive als die idealtypisch zu Ende gedachte Modellierung eines autonomen Wirtschaftssystems zu verstehen, das nicht mehr in eine nach anderen als bloß wirtschaftlichen (Effizienz-) Kriterien geordnete Gesellschaft eingebettet ist, sondern im Gegenteil die gesamten gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen in Marktbeziehungen verwandelt (Polanyi 1978: 88f.). Das implizite Ideal des theoretisch und praktisch betriebenen "ökonomischen Rationalismus" (Weber 1988: 12, 60) oder "Ökonomismus" (Weisser 1978: 574) ist nicht mehr eine ethisch-politisch eingebettete Marktwirtschaft, sondern eine totale Marktgesellschaft.
Warum aber kann der "freie" Markt nicht die Gewährsinstanz einer freiheitlichen Gesellschaft sein? Das zentrale Problem liegt eben darin, dass dann die gesamten gesellschaftlichen Beziehungen der normativen Logik des Marktes unterworfen würden, und das heißt: der Logik des Vorteilstausches. Homines oeconomici als die idealtypisch gedachten Marktakteure gehen miteinander immer nur instrumentell um, und das bedeutet: Sie lassen sich auf die Interaktion mit anderen Menschen überhaupt nur ein, sofern ihnen das je individuell nützlich erscheint. Nicht die unbedingte (kategorische) wechselseitige Achtung und Anerkennung als Personen in ihrer Menschenwürde und ihren unantastbaren Grundrechten, sondern immer nur der eigene Vorteil ist dann die bedingte Basis der Vergesellschaftung. Als Personen sind sich Homines oeconomici wechselseitig gleichgültig. Dem Sozialzusammenhang zwischen den Menschen wird kein humaner Eigenwert zugesprochen; dementsprechend spielen Gesichtspunkte der Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Solidarität der Starken mit den Schwächeren oder der Gewinner mit den Verlierern keine Rolle. Ein solcher purer Marktliberalismus widerspricht jedoch fundamental dem Leitbild einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger, wie es der philosophisch-ethisch tragfähigere politische Liberalismus (Rawls 1998) vertritt. Nicht der Vorteilstausch am Markt, sondern der allgemeine Status vollwertiger Bürgerinnen und Bürger ist die Grundlage einer wohlverstandenen freiheitlichen Gesellschaft. Diese ist mit anderen Worten primär als ein Rechts- und Solidarzusammenhang, nicht als ein bloßer Marktzusammenhang zu denken. Denn wohlverstandene 'Freiheit' ist nicht einfach das Recht der Starken, zu tun und zu lassen was ihnen beliebt, sondern die allgemeine Bürgerfreiheit, d.h. die gleiche größtmögliche Freiheit aller. Freie Bürger kommen vor dem "freien" Markt (Ulrich 2001: 293ff.).
Was als ökonomisch rational gilt, ist deshalb aus umfassenderer gesellschaftlicher Sicht noch nicht unbedingt vernünftig. Ein Horizont lebenspraktisch vernünftigen Wirtschaftens oder eine nicht-reduktionistische Idee ökonomischer Vernunft ist nur zu gewinnen im Lichte von regulativen Ideen des guten Lebens, das wir als Personen führen möchten und dem unser Wirtschaften dienlich sein soll (Sinnfrage), und einer wohlgeordneten Gesellschaft, in die das marktwirtschaftliche System eingebunden werden soll (Legitimationsfrage). Das setzt zuallererst die kritische Reflexion des "Eigensinns" und der "Binnenmoral" des ökonomischen Rationalismus (d.h. der entgrenzten und verabsolutierten normativen Logik des Marktes) und seine Hinterfragung aus dem Blickwinkel der Lebenswelt voraus. Nur von dort her ist letztlich ein reflektierter und "gebildeter" Umgang mit ökonomischen Fragen denkbar.
Wer demgegenüber die ganze soziale Welt nur noch aus der Perspektive der Funktionslogik des marktwirtschaftlichen Systems betrachtet oder gar sein Leben wie ein Homo oeconomicus zu führen trachtet, wer mit andern Worten dem ökonomischen Rationalismus erliegt, der ist weniger ökonomisch gebildet als vielmehr ökonomistisch verbildet. Das fällt heute nur deshalb kaum mehr auf, weil der Zeitgeist als Ganzer derzeit in erstaunlichem Maß von ökonomistischem Denken geprägt ist. Die Mainstream Economics tut - gelinde gesagt - wenig, um dem entgegenzuwirken, da ihr Selbstverständnis dahin geht, die normative Logik des Marktes konsequent zu entfalten und in allen möglichen (und unmöglichen) Zusammenhängen zur Geltung zu bringen, kaum aber dahin, sie auch ethisch-kritisch zu reflektieren und in Schranken zu verweisen. Daraus ergibt sich für eine Wirtschaftslehre, die dem Zeitgeist nicht unkritisch erliegen will, eine große pädagogische Herausforderung.
2. Zur pädagogischen Herausforderung: Worauf es für einen vernünftigen Umgang mit ökonomischen Kategorien ankommt
Folgt man der aufklärerischen Bildungsidee Kants, so besteht das grundsätzliche Ziel in der Fähigkeit, sich autonom im ethisch-politisch-ökonomischen Denken orientieren zu können, und zwar ohne Reflexionsabbruch vor irgendwelchen "gegebenen" wirtschaftlichen Bedingungen, Sachzwangargumenten und Gemeinwohlbehauptungen (Ulrich 2001: 11ff.). "Sich im Denken orientieren" meint das methodisch disziplinierte Bemühen um die voraussetzungslose, vernunftgeleitete Begründung von Geltungsansprüchen theoretischer (erklärender) oder praktischer (normativer) Art. Souverän zu den lebenspraktischen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen des ökonomischen Rationalisierungsprozesses Stellung nehmen und wirtschaftliche Vorgänge oder Fragen dahingehend beurteilen zu können, ob und wieweit sie nicht nur in "rein" ökonomischer Perspektive (d.h. jener der marktwirtschaftlichen System- oder Sachlogik) rational, sondern in einem umfassenden Sinn (d.h. aus der Perspektive der humanen Lebenswelt) vernünftig sind, wird immer mehr zu einem zentralen Prüfstein der Allgemeinbildung - einfach weil ökonomisches Denken zunehmend alle Lebensbereiche durchdringt. Es geht dabei darum, nicht bloß die eigensinnige ökonomische "Sachlogik" (nämlich die Funktionslogik des Marktes) unkritisch wiedergeben zu können, sondern sie im Kontext persönlicher Sinnorientierungen und gesellschaftlicher Legitimitätsansprüche kritisch zu reflektieren.
Dies ist keine triviale Sache. Zwar spüren heute viele Menschen intuitiv, dass mit der ökonomistischen Sachzwang- und Gemeinwohlrhetorik ("Der globale Standortwettbewerb zwingt uns, 3000 Leute zu entlassen, aber es ist letztlich zum Vorteil aller") irgendetwas nicht ganz stimmen kann. Sie fühlen sich jedoch meistens ohnmächtig, den "Sachverständigen" der reinen ökonomischen Sachlichkeit argumentativ präzis entgegenzutreten. Allzu rasch sehen sie sich, wenn sie sich aus ihrer alltäglichen Lebenserfahrung heraus kritisch gegen das Hohelied vom freien Markt zu äußern wagen und nicht schon von vornherein vom Jargon der Fachökonomen eingeschüchtert sind, dem entmutigenden Vorwurf ausgeliefert, die Sachlogik des Marktes nicht zu verstehen. Es ist unter diesen Umständen die spezifische Aufgabe wirtschaftsbürgerlicher Bildung, die Schüler oder Studierenden zu befähigen, ihre staatsbürgerliche Mitverantwortung auch im Wirtschaftsleben und im Zusammenhang wirtschaftspolitischer Entscheidungen wahrzunehmen, oder kurz: zur Bildung mündiger Wirtschaftsbürgerinnen und Wirtschaftsbürger beizutragen (Ulrich 1993b).
Worauf es dabei vor allem ankommt, ist der angemessene Umgang mit Werturteilen, insbesondere mit dem impliziten normativen Gehalt der vermeintlich "rein" ökonomischen Sachlogik. Hier ist zunächst die moderne Wirtschaftsethik gefordert. Die Experten des (nicht ganz) reinen ökonomischen Sachverstands treten nämlich, ihrem szientistischen Vorverständnis von Wirtschaftswissenschaft als Quasinaturwissenschaft entsprechend, regelmäßig mit dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität und Wertfreiheit auf. So sehen sich kritische Bürger, die die Human-, Sozial- oder Umweltverträglichkeit bestimmter ökonomischer Entwicklungen bezweifeln und aus ethisch-moralischen Gründen dagegen ihr Wort erheben, von Fachökonomen rasch einmal unter den Generalverdacht gestellt, eine "unsachliche", rein subjektive Werthaltung zu vertreten, die jeglicher ökonomischer Sachkompetenz ermangele.
Das Entscheidende, was es diesbezüglich auf allen Stufen der wirtschaftlichen Bildung klarzustellen gilt, ist Folgendes: In wirtschaftsethischen und -politischen Fragen stehen sich nicht auf der einen Seite "die Ethik" und auf der anderen Seite eine außerethische, wertfreie ökonomische Sachlogik gegenüber, vielmehr geht es immer um Konflikte zwischen beidseits normativen Positionen. Nur versteckt sich die eine davon, die übrigens wesentlich vom calvinistischen Ethos (Weber 1988) und vom bürgerlichen Menschenbild des possessiven Individualismus (Macpherson 1980) geprägt ist, eben hinter dem Jargon der wertfreien ökonomischen "Sachlogik"! Es ist gerade die ideologische Funktion dieser ganzen Sachzwang- und Gemeinwohlrhetorik, die seit über 200 Jahren in Gang befindliche ökonomische Rationalisierungsdynamik von ethisch-politischen Einwänden "frei" zu halten, indem das, was real vor sich geht, nämlich die fortschreitende Entfesselung der in jedem Sinne grenzensprengenden Kapitalverwertungslogik, pauschal als notwendig und gut ausgegeben wird. Genau in dieser Zwei-Welten-Konzeption von wertfreier ökonomischer Sachlogik einerseits und ökonomisch "sachfremder" Ethik andererseits wurzelt die Ideologie des Ökonomismus, wie schon der Kölner Sozialökonom Gerhard Weisser (1956: 974) klar gesehen hat, als er diesen folgendermaßen definierte: "Hiermit ist die Ansicht gemeint, dass es eine selbständige Sphäre des 'Wirtschaftlichen' neben der Sphäre des 'Sozialen' und 'Kulturellen' geben könne. (...) Dies aber trifft nicht zu." Mit anderen Worten: Es gibt keinen rein ökonomischen Standpunkt! Nur Menschen haben Standpunkte...
Wir haben also nicht die Wahl zwischen einer "wertfreien" und einer ethischen Perspektive des Wirtschaftens, sondern nur die Wahl zwischen einem reflektierten und einem nicht reflektierten Umgang mit der unausweichlichen Normativität jeder Stellungnahme zu Fragen rationalen Wirtschaftens. Jeder denkbare Begriff ökonomischer Rationalität hat das Normative immer schon in sich. "Rationalität" bezeichnet ja stets eine Leitidee dahingehend, wie wir als vernünftige Personen urteilen und handeln sollen. Der oberste normative Gesichtspunkt der neoklassisch geprägten Mainstream Economics ist die Effizienz. Es ist aber nicht möglich, alle anderen normativen Gesichtspunkte, die für das gute Leben und Zusammenleben zählen, so insbesondere den der Gerechtigkeit, auf Effizienz reduzieren zu wollen. Vielmehr kommt es gerade darauf an, die kategoriale Differenz solcher normativer Kriterien und ihre (generell und situativ) angemessene Rangordnung zu reflektieren.
Eine Verabsolutierung des ökonomischen Effizienzgesichtspunkts zum obersten Prinzip oder gar einzigen Kriterium vernünftigen Wirtschaftens wäre demgegenüber nur noch einmal ein symptomatischer Ausdruck des ökonomistischen Zeitgeistes. Auf der akademischen Ebene wird dieser Geist heute im Wissenschaftsprogramm des ökonomischen Imperialismus (Homann/Suchanek 2000: 437ff.) zur Geltung gebracht. Dieser zielt darauf, die reine Ökonomik zur Grundlage einer allgemeinen ökonomischen Theorie menschlichen Verhaltens und der Gesellschaft im Ganzen zu machen (Becker 1982). Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, solange man sich erstens des aspekthaften Charakters einer solchen ökonomischen Theorie bewusst ist und sie zweitens nicht normativ wendet und so - als normative Ökonomik - zur alleinigen Grundlage "rationalen" wirtschaftlichen Handelns bzw. "rationaler" Wirtschaftspolitik macht. Die Bewusstmachung und Vermeidung der hier lauernden Gefahren einer ökonomistischen Übersteigerung der ökonomischen Rationalitätsperspektive zu einer Weltanschauung macht m.E. das unverzichtbare wirtschaftsethische Minimalmoment einer zeitgemäßen ökonomischen Bildung für mündige Wirtschaftsbürger aus.
3. Umrisse eines wirtschaftspädagogischen Leitbilds: Ökonomische Allgemeinbildung für mündige Wirtschaftsbürger
Zwei grundlegenden systematischen Anforderungen sollte eine Wirtschaftslehre, die den skizzierten Überlegungen Rechnung tragen will, m.E. genügen: Zum einen sollte zwischen einer konventionellen Bereichslehre der Wirtschaft und einer Aspektlehre der ökonomischen (Rationalitäts-) Perspektive unterschieden werden (3.1). Zum andern gilt es innerhalb der Bereichslehre der Wirtschaft wiederum zwischen Wirtschaftssystem (Systemökonomie) und dem gesellschaftlichen Wirtschaftsleben (Sozialökonomie) zu unterscheiden (3.2). Kurze programmatische Hinweise müssen nachfolgend genügen; die fachdidaktische Ausarbeitung der vorgeschlagenen Systematik ist, soweit ich sehe, eine noch weitgehend brachliegende wirtschaftspädagogische Aufgabe.
3.1 Aspektlehre der ökonomischen Perspektive versus Bereichslehre der Wirtschaft
Die herkömmliche Wirtschaftskunde oder Wirtschaftslehre, wie sie üblicherweise etwa auf der Sekundarstufe II in (schweizerischen) kaufmännischen Schulen und Wirtschaftsgymnasien unterrichtet wird, wird m.W. noch immer fast ausschließlich als Bereichslehre der Wirtschaft gelehrt. "Die Wirtschaft" wird dabei als ein spezieller, klar abgrenzbarer Gesellschaftsbereich dargestellt, in dem eigene (eben ökonomische) "Gesetzmäßigkeiten" gelten. Dass im Zuge des fortschreitenden ökonomischen Rationalisierungsprozesses immer größere Bereiche der Lebenswelt diesen "Gesetzmäßigkeitein" unterworfen werden und damit die einst problemlose Unterscheidung von Wirtschaft und Gesellschaft ebenso verschwimmt wie ihr angemessenes Verhältnis (Primat der Politik vor der Logik des Marktes), kommt kaum in den Blick. Dementsprechend wird vermutlich auch der universalistische Geltungsanspruch der ökonomischen Rationalitätsperspektive (ökonomischer Imperialismus) und sein Erfahrungshintergrund nur selten thematisiert oder gar kritisch reflektiert. Doch genau dies ist in allgemeinbildender Absicht auf die Orientierung im ethisch-politisch-ökonomischen Denken angezeigt.
Es geht nicht darum, die konventionelle Bereichslehre der Wirtschaft abzuwerten - diese ist in ihren bewährten systematischen Unterteilungen nach wie vor unverzichtbar -, sondern nur darum, den Lernenden bewusst und verständlich zu machen, dass im Zuge des geschichtlichen Rationalisierungs- und Modernisierungsprozesses der Markt zum eigentlichen Paradigma eines ökonomischen Rationalitätsmusters geworden ist, das inzwischen fast alle Lebensbereiche durchdringt und insofern in durchaus realistischer Weise von der heutigen Wirtschaftstheorie bereichsunabhängig als allgemeines Konzept rationalen Verhaltens betrachtet wird, sei es zum Zwecke der Erklärung nahezu aller gesellschaftlichen Realitäten oder in normativ-praktischer Absicht. Nur wenn der aspekthafte Charakter der ökonomischen Rationalitätsperspektive klar gemacht wird, kann jeweils einem naheliegenden ökonomistischen Fehlschluss vorgebeugt werden.
In der theoretischen Anwendung droht der Irrtum, der disziplinäre Aspekt der ökonomischen Theorie erkläre die ganze Realität menschlichen Verhaltens (ökonomische Theorie als vermeintlich hinreichende Sozialwissenschaft). Das trifft in keiner Weise zu: Indem eine disziplinäre Aspektlehre quasi wie durch einen Polarisationsfilter ein monoperspektivisches Licht auf ihren Gegenstand wirft, dunkelt sie alle anderen Aspekte wesensgemäß ab. Mehr noch: Die "reine" ökonomische Theorie hat unmittelbar überhaupt keinen empirischen Gehalt; vielmehr ist sie eine Idealtheorie ökonomisch rationalen Handelns. Sie modelliert dieses, als ob die Menschen pure Homines oeconomici wären, ohne aber damit behaupten zu wollen, sie seien das tatsächlich. Erst der Vergleich empirischen Verhaltens mit diesem rein idealtypischen Verhaltensmuster hat einen (aspekthaften) Erklärungswert bezüglich realer Prozesse. Der Realität als Ganzer kann man sich jedoch bestenfalls in einer Vielzahl von sich ergänzenden Perspektiven annähern, also multiperspektivisch und somit interdisziplinär.
In der normativen Anwendung (normative Ökonomik) kommt der drohende ökonomistische Reduktionismus im fatalen Missverständnis zum Ausdruck, die ökonomische Rationalität sei schon die ganze praktische Vernunft und liefere damit - gleichsam als eine "Ethik ohne Moral" (so in kritischer Absicht Cortina 1992) - aus sich alleine heraus eine hinreichende Begründung von individuellen Handlungsabsichten bzw. von wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Gestaltungsvorschlägen. Doch die ökonomische Rationalität "begründet", wie wir gesehen haben, nur die (interessen-) bedingte Interaktion mit anderen um des je eigenen Vorteils willen und verfehlt so den philosophisch-ethischen Vernunftstandpunkt der Moral, der auf der unbedingten (kategorischen) wechselseitigen Achtung und Anerkennung der Menschen als gleicher Würde um ihrer selbst willen beruht. Die daraus begründbare "normative Logik der Zwischenmenschlichkeit" (Ulrich 2001: 23ff.) lässt sich nicht auf die normative Logik des Vorteilstausches reduzieren - und damit lebenspraktisch vernünftiges Wirtschaften nicht auf "reine" ökonomische Rationalität, Ethik nicht auf Ökonomik, Gerechtigkeit nicht auf (Pareto-) Effizienz.
Rational mit der ökonomischen Rationalitätsperspektive umzugehen heißt daher, ihre Aspekthaftigkeit zu verstehen und sich bewusst zu sein, dass sie menschliches Handeln bzw. gesellschaftliche Institutionen weder in empirisch-analytischer noch in normativ-praktischer Absicht als rational schlechthin (d.h. vernünftig) ausweisen kann. Nur wer diese kategorialen Differenzen beherrscht, kann ökonomistisch-ideologische Rhetorik durchschauen und sich mit ihr - als mündiger Wirtschaftsbürger - kritisch auseinander setzen, statt ihr argumentativ ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Darin besteht wesentlich die pädagogische Idee der "integrativen Wirtschaftsethik" (Ulrich 2001; vgl. aus wirtschaftspädagogischer Sicht dazu Retzmann 2000).
3.2 Sozialökonomie versus Systemökonomie
Die postulierte Multiperspektivität hat nun auch innerhalb einer Bereichslehre der Wirtschaft spezifische Konsequenzen. Üblicherweise analysiert die Volkswirtschaftslehre ihren Gegenstand, das marktwirtschaftliche System, nur in funktionaler Perspektive. Und analog betrachtet die Betriebswirtschaftslehre ihren Gegenstand, die Unternehmung, nur als Subsystem der Marktwirtschaft hinsichtlich seiner funktionalen Erfolgsvoraussetzungen. Eine solche Systemökonomie blendet aus, dass Marktwirtschaft und Unternehmungen zugleich auch gesellschaftliche Institutionen sind und als solche von den Menschen hinsichtlich ihrer Lebens- und Gesellschaftsdienlichkeit beurteilt werden. Dann aber interessieren die weiter oben (Abschn. 2) erwähnten Sinn- und Legitimitätsfragen. Diesen gegenüber bleibt eine rein funktionale Systemperspektive buchstäblich verständnis- und ratlos.
In dem Maß, wie die öffentlich als relevant betrachteten politisch-ökonomischen Fragen sich um das im Kontext der Globalisierung wachsende Spannungsfeld zwischen funktionaler Systemlogik einerseits und normativen Leitideen einer lebensdienlichen Wirtschaftsweise und Wirtschaftsordnung andererseits drehen, verliert eine einseitige Systemökonomie ihren Erklärungs- und Praxisorientierungswert. Sie bedarf daher zunehmend der Ergänzung um eine Sozialökonomie, welche die Probleme des Wirtschaftens aus dem Blickwinkel der Lebenswelt erhellt. Ihr kommt sogar der Primat zu, denn das Wirtschaftssystem ist ja letztlich Mittel im Dienste der Gesellschaft - nicht umgekehrt. Eine Wirtschaftslehre, die diesen instrumentalen Sinn des wirtschaftlichen Systems ausblendet und dieses nur noch in seinem "Eigensinn" behandelt, verdoppelt unkritisch die tendenzielle Realität eines zu weitgehend verselbständigten Wirtschaftssystems. Im Hinblick auf die "sachliche" Sensibilisierung der Lernenden für diese Problematik geht es m.E. darum, zunächst in einer historisch-genetischen (kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen) Perspektive die Herausbildung eines relativ autonomen marktwirtschaftlichen Systems aufzuzeigen, um es danach gedanklich in Beziehung zu setzen zu den umfassenderen Fragen einer wohlgeordneten Gesellschaft.
Worauf es ankommt, ist also - kurz gesagt - eine Perspektive der Wirtschaft in der Gesellschaft. Die Spannung zwischen sozial- und systemökonomischer Perspektive ist dabei didaktisch auszuhalten; eine eindimensionale Betonung der sozialökonomischen Perspektive wäre nicht weniger defizitär als eine eindimensionale Systemökonomie. Gerade indem die Wirtschaftsbürgerkunde mittels des vorgeschlagenen Perspektivendualismus diese reale Spannung widerspiegelt und einfache harmonistische Kurzschlüsse vermeidet, ermöglicht sie ein realistisches Verständnis der modernen Wirtschaftsdynamik und damit auch einen ausgewogenen kritischen Umgang mit ihr (Ulrich 1993a: 341ff.).
Eine auf diese Weise rekontextualisierte Lehre von der Wirtschaft bedarf neben der Bewusstmachung der skizzierten übergreifenden Zusammenhänge wohl auch der Veranschaulichung anhand exemplarischer Lehr-/Lernfelder. Diese können und sollen schülerzentriert und lehrstufengerecht ausgewählt werden, so dass sich die Lernenden in lebensweltlichen Alltagskontexten angesprochen fühlen, die ihren Erfahrungen und Interessen entsprechen. (Als entsprechend konzipiertes, modulartig aufgebautes Lehrmittel für die Sekundarstufe II vgl. Ulrich et al. 1996). Thematisieren lassen sich in diesem Rahmen beispielsweise das aus der Systemökonomie meistens ausgeblendete, fraglos vorausgesetzte Komplementärverhältnis von (systemökonomischer) Erwerbswirtschaft und (sozialökonomischer) Versorgungswirtschaft der Haushalte (Biesecker 1998) und von da aus das Vorverständnis der Geschlechterrollen in der Wirtschaft (Filli et al. 1994) ebenso wie entwicklungspolitische und -ökonomische Fragen (Ulrich 1999).
Gewiss stellt das entworfene Konzept einer zeitgemäßen Wirtschaftsbürgerkunde hohe didaktische Anforderungen. Den abschließenden Gesichtspunkt dazu hat Albert Einstein formuliert, und er gilt gerade im Hinblick auf das Ziel der Befähigung der Schüler und Studierenden zur selbständigen Orientierung im ethisch-politisch-ökonomischen Denken: Man soll die Dinge zwar möglichst einfach, aber nicht einfacher als möglich darlegen.
Literatur
Albert, H. (1972): Ökonomische Ideologie und politische Theorie. 2. Auflage. Göttingen.
Becker, G.S. (1982): Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Tübingen.
Biesecker, A. (1998): Vom Eigennutz zur Vorsorge. Zukunftsfähiges Wirtschaften in der Weltgemeinschaft aus der Sicht einer feministischen Ökonomik. In: Maak, Th./ Lunau, Y. (Hg.): Weltwirtschaftsethik. Globalisierung auf dem Prüfstand der Lebensdienlichkeit. Bern/Stuttgart/Wien. Seite 261-290.
Cortina, A. (1992): Ethik ohne Moral. Grenzen einer postkantianischen Prinzipienethik? In: Apel, K.-O./Kettner, M. (Hg.): Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft. Frankfurt am Main. Seite 278-295.
Filli, B., et al. (1994): Weiberwirtschaft. Ausgeblendete Grundlagen der Ökonomie. Luzern.
Homann, K./ Suchanek, A. (2000): Ökonomik: Eine Einführung. Tübingen.
Macpherson, C.B. (1980): Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke. 2. Auflage. Frankfurt am Main.
Meyer-Faje, A./Ulrich, P. (1991): Der andere Adam Smith. Beiträge zur Neubestimmung von Ökonomie als Politischer Ökonomie. Bern/Stuttgart/Wien.
Polanyi, K. (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a.M. (engl. 1944).
Rawls, J. (1998): Politischer Liberalismus. Frankfurt a.M.
Retzmann, Th. (2000): Zur politisch-moralischen Bildung des mündigen Wirtschaftsbürgers im Medium des Berufs. In: Ethik und Sozialwissenschaften. 11. Jahrgang, Seite 614-617. (Kritik zum Hauptartikel "Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagenreflexion der ökonomischen Vernunft" von Ulrich, P. im selben Heft, Seite 555-567).
Ulrich, P. (1993a): Transformation der ökonomischen Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft. 3. rev. Auflage. Bern/Stuttgart/Wien.
Ulrich, P. (1993b): Wirtschaftsethik als Beitrag zur Bildung mündiger Wirtschaftsbürger. In: Ethica - Wissenschaft und Verantwortung, 1. Jahrgang. Seite 227-250.
Ulrich, P., et al. (1996): Ethik in Wirtschaft und Gesellschaft. 24 Lehreinheiten zu Grundfragen des Wirtschaftens, Lebens und Arbeitens. Aarau.
Ulrich, P. (1999): Grundrechte und Grundfähigkeiten. Gedanken zu einem Leitbild sozioökonomischer Entwicklung aus der Perspektive der integrativen Wirtschaftsethik. In: Peter, H.-B. (Hg.): Globalisierung, Ethik und Entwicklung. Bern/Stuttgart/Wien. Seite 55-76.
Ulrich, P. (2001): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. 3. rev. Auflage, Bern/Stuttgart/Wien.
Weber, M. (1988): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (sowie Vorbemerkung). In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. 9. Aufl., Tübingen. Download der Potsdamer Internet-Ausgabe
Weisser, G. (1956): Wirtschaft. In: Ziegenfuß, W. (Hg.): Handbuch der Soziologie. Stuttgart. Seite 970-1098 (Neugedruckt als selbständige Veröffentlichung. Göttingen 1989.)
Weisser, G. (1978): Die Überwindung des Ökonomismus in der Wirtschaftswissenschaft. In: ders., Beiträge zur Gesellschaftspolitik. Göttingen. Seite 573-601.