- Zur Einsicht in den Geist republikanischer Ordnung
- Die Bedeutung der politischen Theorie für die politische Bildung
- Anmerkungen
Eine Republik braucht Bürger In jüngster Zeit wird zunehmend beklagt, dass die neue politische Ordnung zu wenig im Bewusstsein vieler neuer Bundesbürger verankert sei. "Politiklehrer berichten über Aufsätze, in denen Schüler die Vorzüge von Diktaturen preisen." (1)
Offensichtlich erleben sehr viele Ostdeutsche - und in erschreckendem Maße Heranwachsende unter ihnen - die neue Ordnung überhaupt nicht als die Ihrige. Allenfalls wird die politische Ordung als äußerlich wahrgenommen. Jedoch als schätzenswertes und zu pflegendes Gut kommt die neue freiheitliche Verfassung samt der sie ermöglichenden Lebensweise viel zu wenig in Betracht. (2)
"Die 'neue Ordnung'? Sie ist bisher eine äußerliche der Institutionen, nicht eine innere des Denkens der Bürger." (3) Was Karl Jaspers noch in den sechziger Jahren der ursprünglichen Bundesrepublik attestierte, scheint heute die innere Befindlichkeit insbesondere eines Großteils der neuen Bundesbürger widerzuspiegeln. Die Einsicht, Freiheit als eine liebens- und schützenswerte Lebensweise zu begreifen, die hohe Ansprüche an die Bürger stellt, ihnen unter Umständen Anstrengungen abverlangt, gleichwohl aber das Glück einer humanen Existenz zu bescheren vermag, dürfte auch in der alten Bundesrepublik noch nicht zur sozialdominanten Bewusstseinslage gehören.
Wie groß auch immer die Kenntnisse über die bundesrepublikanische Ordnung sein mögen, für sich allein genommen bieten sie keine hinreichende Gewähr dafür, dass Heranwachsende in West und Ost die politische Ordnung, der sie angehören, auch innerlich als die Ihre erfahren und annehmen. Sosehr sie daher auch die Institutionenkunde beherrschen mögen und sosehr sie in Politik-Prüfungen ihr angelerntes Wissen über Felder, Inhalte und Prozesse der Politik zum besten geben mögen, eine Republik benötigt Bürger, die ihre institutionelle Ordnung als schätzenswertes und daher sorgsam zu pflegendes Gut begreifen.
"Das Wichtigste aber für die Dauerhaftigkeit einer politischen Ordnung [...] ist die der Verfassung angemessene Erziehung" (4) , formuliert Aristoteles in pointierender Klarheit. Die Frage ist: Worauf kann sich eine politische Bildung stützen, wenn sie bei der Einbürgerung der Heranwachsenden in ihre Republik behilflich sein will?
Sie kann "oben" ansetzen, bei dem Staat und "seinen" Institutionen, oder sie kann "unten" ansetzen, bei den Individuen und ihren Interessen. Auf der einen Seite besteht die Gefahr, dass politische Bildung in etatistischer Institutionenkunde aufgeht und darauf hinausläuft, womöglich obertanenmäßig von "Staatsraison" zu reden. Auf der anderen Seite läuft die politische Bildung Gefahr, sich in der Abwehr staatlicher Zugriffs- und Repressionszumutungen zu erschöpfen und zu sehr das Eigeninteresse der Privatleute zu hofieren.
Beide Varianten sogenannter politischer Bildung sind problematisch; denn das Verbindende, das gemeinsam Politische kommt nicht in den Blick. Im ersten Fall wird der einzelne Bürger, dem allenfalls etwas widerfährt, verleugnet.
"Der Einzelne kommt in ihr nicht vor, es sei denn als ein durch das Wahlrecht an der Willensbildung beteiligtes Partikelchen [...]. Die Entsprechung dieser Staatslehre ist die Staatsbürgerkunde im Stil der Weimarer Zeit." (5)
In der zweiten Version hingegen wird der Einzelne allein gelassen. Politische Bildung in dieser magersten Variante begreift "Politik als Raubtierhaltung". (6)
Dreh- und Angelpunkt dieser Argumentation "ist die natürliche und negative Freiheit von Männern und Frauen, die von ihren eigennützigen Interessen atomisiert werden und weder soziale Beziehungen eingehen, noch in die Welt der anderen eindringen dürfen, ohne dafür eine Entschuldigung, eine Legitimation und Rechtfertigung anbieten zu müssen." (7)
Als Bürger jedoch, die selbst gestalten, sich wechselseitig mit anderen in Bezug setzen und ihre gemeinsame Gestaltungsmacht womöglich über eine bürgerorientierte politische Bildung erst entdecken lernen, kommen sie weder in der etatistisch noch in der privatistisch ausgelegten politischen Bildung zur Sprache. Doch diesen Prozess, ein Bewusstsein der eigenen Zugehörigkeit zur gemeinsamen politischen Ordnung zu entwickeln, muss eine republikorientierte politische Bildung unterstützen und begleiten.
Eine gelungene politische Bildung erweist sich daran, dass es ihr gelingt, einen Beitrag zur Bürgerbildung zu leisten. Kennzeichen erfolgreicher politischer Bildung ist es, eine erweiterte und vertiefte Erfahrung der Zugehörigkeit zur eigenen Republik anzubahnen und zu befördern. Um diese Hilfestellung bei der Einbürgerung insbesondere der Heranwachsenden in ihre politische Ordnung, die ihnen zur eigenen politischen Ordnung werden soll, leisten zu können, muss sich die politische Bildung in kognitiver, affektiver und wertbezogener Hinsicht an ihre Adressaten wenden. Denn - bei aller Verantwortlichkeit von Amtsinhabern - eine repräsentative politische Ordnung lebt von der Urteilskraft und dem Engagement der Bürger und sie ist daher keine
"Einrichtung, die es öffentlichen Wachhunden ermöglicht, die meiste Zeit mit eigenen Geschäften zuzubringen, während Funktionäre und 'Mietlinge' (Delegierte und Repräsentanten) die öffentlichen Angelegenheiten erledigen." (8)
Eben darin besteht die große Kunst und die Herausforderung einer repräsentativ verfassten Republik, nämlich gerade keine bornierten Funktionäre mit öffentlichen Ämtern zu betrauen und keinen bloß interessefixierten Mietlingen das republikanische Heiligtum, die "öffentliche Treuhänderschaft" (9), anzuvertrauen. Dafür ist die öffentliche Angelegenheit viel zu ernst, als dass man sie Postenjägern übertragen könnte, die - obwohl sie als Amtsinhaber dem öffentlichen Wohl verpflichtet sind - womöglich einzig und allein ihr privates Wohlergehen im Auge haben.
Zur Verankerung eines freiheitlichen Ethos
"In der republikanischen Regierungsform ist man auf die ganze Stärke der Erziehung angewiesen" (10), schreibt Montesquieu im vierten Buch seiner Untersuchungen Vom Geist der Gesetze und im fünften Buch fährt er fort:
"Die Tugend in einer Republik ist etwas sehr Einfaches, nämlich die Liebe zur Republik. Sie ist ein Gefühl, nicht Folge von Kenntnissen; der geringste Mann im Staat kann dieses Gefühl ebensogut haben wie der erste. Hat das Volk einmal gute Grundsätze, so hält es länger daran fest als die sogenannte gute Gesellschaft. Selten beginnt der Verfall (orig. 'corruption', K.-H. B.) bei ihm." (11)
Von Kenntnissen (1), vom Gefühl (2), von Grundsätzen (3) ist die Rede, ebenso von der Bedeutung einer korruptionsresistenten politischen Elite (4) sowie vom Beharrungsvermögen weit verbreiteter und tief verankerter Werthaltungen unter den Bürgern (5).
Im abschließenden Kapitel seiner Einführung in die Politikwissenschaft umreißt Theo Stammen das Verhältnis der Politikwissenschaft zur politischen Bildung. Demzufolge kann die "Mithilfe der Politikwissenschaft bei der Bemühung der Politischen Bildung auf verschiedenen Ebenen liegen: 1. Auf der kognitiven Ebene (...) 2. Auf der affektiven Ebene (...) 3. Auf der werthaften Ebene". (12)
Wie wir deutlich sehen, entsprechen diese drei Ebenen, auf denen sich politische Bildung vollzieht, den Dimensionen, aus denen sich nach Montesquieu die Wertschätzung zur Republik speist: Die Kenntnisse liegen auf der kognitiven Ebene, das Gefühl macht die affektive Ebene aus, und die Grundsätze sind eindeutig auf der werthaften Ebene angesiedelt. Auf allen drei Ebenen vollzieht sich politische Bildung, und auf allen drei Ebenen artikuliert sich jener esprit général, aus dem sich nach Montesquieu der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft und der sie belebende Geist speist.
"Was hält die Gesellschaft zusammen?" (13) ist die moderne Version der Frage nach dem esprit général Montesquieuscher Prägung. Beiden Fragen ist die Zielrichtung gemeinsam, nach dem bewusstseinsmäßig Einenden Ausschau zu halten, sprich nach dem gemeinsamen Band, das die Bürger im Alltagsleben miteinander verbindet. Indirekt knüpft diese Frage nach dem Verbindenden und Gemeinsamen an die bereits in der Antike diskutierte Frage nach der homonoia (14) an. Die Eintracht - und gemeint ist damit die den inneren Zusammenhalt der Bürger fördernde Eintracht im Verfassungsleben - gilt als das höchste Gut. Dieses hohe Gut zu hegen und zu pflegen - und nichts anderes meint Dolf Sternberger ja mit Verfassungspatriotismus -, ist daher eine der wichtigsten Aufgaben aller Bürger, insbesondere jedoch der im öffentlichen Rampenlicht stehenden Amtsinhaber. Karl Jaspers greift diesen Gedanken auf:
"Die Regierenden umwittert keine Art von Heiligkeit. Es ist umgekehrt erwünscht, daß sie der schärfsten Kritik ausgesetzt werden. Wer es wagt, solche Stellungen zu übernehmen, muß sich bewußt sein, daß hohe politische und sittliche Anforderungen an ihn gestellt werden, daß er sich der hellen Belichtung all seines Tuns aussetzt und darin bestehen muß, daß von ihm mehr verlangt wird als von anderen, nicht aber daß er in einen geschützten Raum eintritt." (15)
Wir sehen, der politischen Elite kommt die Aufgabe zu, dem Selbstverständnis der politischen Ordnung öffentlich Ausdruck zu verleihen, weswegen als die geeignetsten Repräsentanten offensichtlich jene angesehen werden müssen, die im wörtlichen Sinne den geistigen Gehalt ihrer Ordnung verkörpern. In dieser Hinsicht ist - wie auch Montesquieu betont - eine korruptionsresistente Elite unabdingbar. Die Stabilität einer Freiheitsordnung hängt offenbar von der Qualität der Amtsinhaber ab und ebenso von der Urteils- und Auswahlfähigkeit derjenigen, die den Amtsinhabern ihr Vertrauen aussprechen und sie in die Ämter wählen.
Zur Einsicht in den Geist republikanischer Ordnung
In seiner Frankfurter Antrittsvorlesung zum Thema Amtsgedanke und Demokratiebegriff (16) betont Wilhelm Hennis die große Bedeutung des Amtsbegriffes für ein angemessenes Verständnis politischer Praxis. Wer infolge einer identitären Demokratievorstellung allein das Problem der Willensbildung ins Zentrum seiner Überlegungen rückt und gleichsam schablonenhaft politische Repräsentanten zu exekutierenden Funktionären des Wählerwillens degradiert, versperrt sich nach Hennis einen originären Zugang zum Verständnis moderner repräsentativer Demokratie. Als vielstufig verfasste Ämterordnung, die in der Vielzahl der öffentlichen Ämter die Vielzahl politischer Verantwortlichkeiten und Verantwortungsbereiche widerspiegelt, kann die politische Ordnung aller erst in den Blick kommen, wenn das Amt die Mitte des politischen Denkens ausmacht und die Amtsführung im Mittelpunkt des politischen Urteilens steht.
Amtsinhaber in einer Republik, denen mit ihrem Amt von ihren Mitbürgern Amtskompetenzen sowie damit verbundene Rechte und Pflichten übertragen worden sind, müssen Rechenschaft ablegen und sind ihren Mitbürgern gegenüber für die Art und Weise ihrer Amtsführung verantwortlich. So hängt es entscheidend von den Qualitäten der Amtsinhaber ab, ob sie das Vertrauen in die gemeinsamen Institutionen stärken oder ob sie zu Misstrauen gegenüber "denen da oben" Anlass geben. In den Federalist Papers wird daher auf den Punkt gebracht, welch hoher Stellenwert den Repräsentanten in einer intakten Republik zukommt:
"Die Annahme, alle Menschen seien käuflich, ist in der Politik kein sehr viel kleinerer Irrtum als die Annahme, alle Menschen seien redlich. Das Prinzip der Delegation von Macht setzt voraus, daß unter den Menschen ein gewisses Maß an Tugend und Ehre zu finden ist, das eine vernünftige Grundlage für Vertrauen bildet." (17)
Versuchen die Repräsentanten über sachbezogene und aufrichtige Debatten ihren Mitbürgern die politischen Kontroversen vor Augen zu führen oder aber versuchen sie durch unernstes Gerede, durch Bemäntelung oder gar Täuschung das Publikum hinters Licht zu führen? Laden sie in aufklärender Rede und Gegenrede zum Nachvollzug der politischen Alternativen ein oder schwadronieren sie in Allgemeinplätzen und reden in ihrer Sorge um Machterwerb und Machterhalt gar die drängendsten Probleme herunter?
In Art. 39 der Federalist Papers erläutert James Madison die mit einer Ämterordnung verbundenen "charakteristischen Züge der republikanischen Regierungsform":
"Wenn wir bei der Suche nach einem Kriterium auf die verschiedenen Prinzipien zurückgreifen, auf denen die verschiedenen Regierungsformen basieren, können wir die Regierung als Republik definieren oder zumindest mit dem Namen versehen, die all ihre Befugnisse direkt oder indirekt vom gesamten Volk herleitet und von Personen geführt wird, welche ihre Ämter nach Ermessen für begrenzte Zeit innehaben oder solange sie ihr Amt korrekt ausüben." (18)
Entscheidend ist offensichtlich, daß die verfassungsmäßig gebundene Macht der Repräsentanten sich nicht etwa aus einer in sich abgeschlossenen, privilegierten Schicht herleitet, sondern vielmehr aus der gesamten Bürgerschaft. (19) Darüber hinaus ist es für die republikanische Form bürgerlicher Selbstregierung kennzeichnend, dass die Bürger ihre Macht nicht basisdemokratisch und direkt ausüben, sondern dass sie ihre Macht ausgewählten Mitbürgern auf Zeit übertragen.
"Die beiden großen Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Republik sind erstens: die Übertragung der Regierungsverantwortung in der Republik auf eine kleine Anzahl von Bürgern, die von den übrigen gewählt werden, zweitens: die größere Anzahl von Bürgern und das größere Gebiet, über die die republikanische Regierung ausgeübt werden kann." (20)
Indem das von den Federalists verfochtene Paradigma einer föderalen Republik "die Idee der Repräsentation zum Leitprinzip der republikanischen Ordnung erhebt" (21), treten die Autoren der überlieferten - noch von Montesquieu vertretenen - Auffassung entgegen, wonach eine Republik sich allein auf ein kleines Territorium erstrecken solle und die Zahl der Bürger ein überschaubares Maß nicht überschreiten dürfe. (22) Im Gegenteil, die Federalists preisen geradezu die Vorzüge einer großen Bürgerschaft und insbesondere die in ihrem Verfassungsplädoyer
"angelegte Konzeption der künftigen amerikanischen Republik: ein großräumiges, an ökonomischem Fortschritt orientiertes, geopolitisch mächtiges System. Im Gegensatz dazu hatten viele Antifederalists sich einen Verbund kleiner, agrarisch orientierter, selbstgenügsamer Gemeinwesen vorgestellt." (23)
Es mag seltsam erscheinen, daß die Federalists gerade in der Großflächigkeit einer Republik, in dem - wie sie es nennen - "Experiment einer Großrepublik" (24) den günstigsten Nährboden für das Gedeihen von Bürgerqualitäten und Amtsgesinnung ausmachen. Und doch - so Hartmut Wasser - spricht einiges dafür:
"Die Gründerväter propagieren gewiß kein radikaldemokratisches Bild vom 'Bürger'. Sie wissen um die komplexe Natur des Menschen, werten politische Betätigung nicht als conditio sine qua non eines voll entwickelten Menschseins, sie glauben, daß 'Bürgertugend' nicht gleichmäßig gestreut, sondern in der Gesellschaft unterschiedlich verteilt ist, manche mehr davon, manche weniger besitzen..." (25)
Die Federalists sind Realisten. Sie wissen und vor allen Dingen akzeptieren sie es, dass - wie Platon bereits betont - jede Gesellschaft, was die Ausprägung der Qualitäten und Tugenden der einzelnen Menschen anbelangt, in sich geschichtet ist. Die Erfahrung zeigt, dass die Menschen weder hinsichtlich ihrer Begabungen noch hinsichtlich ihrer aktualisierten Tüchtigkeiten gleich sind, weswegen ja seit Platon die Frage nach der Politeia als Frage nach Gerechtigkeit auf der Tagesordnung steht. Wie werden die zwar Wesensgleichen aber in ihren Qualitäten so Unterschiedlichen sich in ihrem Zusammenleben wechselseitig gerecht?
Ämterordnungsmäßig gesprochen heißt dies: Wer gelangt in die Ämter, und wie ist es zu gewährleisten, dass möglichst die geeignetsten Amtsinhaber Zugang zur Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten finden? Denn darauf scheint doch der berühmt-berüchtigte Philosophen-Königssatz Platons (26) hinauszulaufen, daß nicht eher Gerechtigkeit in der Polis herrschen werde, bevor nicht diejenigen die Ämter innehaben, denen aufgrund ihrer maßstäblichen Einsicht die Ämter angetragen werden sollten.
Die Frage ist: Wie ist es um die Bürger und ihre politische Bildung bestellt? Wählen sie Repräsentanten aus, die sie in ihrer Durchschnittlichkeit repräsentieren oder gar welche, die sie zum Spielball ihres Amusements oder zum Gegenstand ihrer Häme machen? Oder aber gelingt es urteilsstarken Bürgern, jene in die höchsten Ämter zu bringen, die die Vorzugswürdigkeit der eigenen politischen Ordnung repräsentieren und damit stärken? Das ist auf der einen Seite ein institutionelles Ordnungsproblem, eines der innerparteilichen Demokratie, des Wahlrechts, der "checks and balances", kurzum der Verfassung. Auf der anderen Seite jedoch geht es um die Verfasstheit der Bürger, um die Frage, wie sie von ihrer Verfassung Gebrauch machen und in welcher Verfasstheit sie sich befinden. (27)
"Die innere und die äußere Republik bedingen sich gegenseitig - aber erste Voraussetzung und letzter Rückzugsort der äußeren Republik ist stets die innere Republik." Diese - wie Werner Kremp es nennt - "innere Republik" (28)
in uns Bürgern gilt es zu stärken. Denn ohne ein Inneres, das sich der vorzugswürdigen Qualitäten von Freiheit als einer zerbrechlichen aber Menschen eben würdigen Lebensweise bewusst ist, ist jede noch so ausgeklügelte Institutionentechnik auf Sand gebaut. Eric Voegelin spricht in diesem Zusammenhang vom "anthropologischen Prinzip" (29), das im sokratisch-platonischen Nachdenken über Politik seine Fundierung erfährt.
"Denn aus der Eiche oder aus dem Felsen erwachsen doch die Verfassungen nicht, sondern aus den Charakteren. Sie ziehen die Polis wie ein Gewicht in der Waagschale mit sich." (30)
Offensichtlich spielt die Wohlgeordnetheit der Bürger für die Gründung, den Erhalt und den Fortbestand einer intakten Republik eine entscheidende Rolle.
Die Bedeutung der politischen Theorie für die politische Bildung
Bürger zu werden und die innere Republik in sich zu entwickeln und zu verankern, ist daher höchst anspruchsvoll, und Bürger zu sein, heißt demnach:
1) sich auf der kognitiven Ebene die Zusammenhänge bewusst zu machen, die eine institutionell verankerte Lebensweise der Freiheit abstützen, bzw. gefährden können,
2) emotional ein den öffentlichen Angelegenheiten zugewandtes Bürgerselbst zu entwickeln und
3) eine wertbezogene Haltung zu gewinnen, die einer freien Lebensweise förderlich ist und die sich an dem ihr innewohnenden Geist orientiert.
Die Aufgabe der politischen Bildung besteht somit darin, Lernprozesse zu initiieren, anzuleiten und zu begleiten, in denen Bürger ihr Bürgerselbst festigen oder in denen sie überhaupt erst beginnen, ein Selbstverständnis als Bürger zu entwickeln. Das heißt, es ist zu klären, welche Ansprüche mit dem eigenen Bürgersein verbunden sind und welcher Anstrengungen es bedarf, Bürgerfreiheit zu praktizieren und damit zu wahren.
Da - wie Eric Voegelin es ausdrückt - "jede Gesellschaft in ihrer Ordnung den Typus des Menschen reflektiert, aus denen sie sich zusammensetzt" (31), ist es Aufgabe einer republikbezogenen politischen Bildung, diesen Reflexionsprozess anzustoßen und voranzutreiben. Anders ausgedrückt: In einer Republik hat die politische Bildung die Aufgabe, unter Freien zur Sprache zu bringen, welche Qualitäten eine Lebensweise der Freiheit kennzeichnen und welcher politischen Ordnung es bedarf, um sich wechselseitig ein Leben als Bürger zu ermöglichen. Denn:
"Republik [...] ist mehr als nur das Organisationsprinzip des Institutionenkomplexes öffentlicher Herrschaft oder des Staates als Inhaber des Monopols legitimer physischer Gewaltsamkeit, sie ist eine Lebensform der Gesellschaft, sie umfaßt die Gesamtexistenz des Menschen in Gesellschaft" (32)
Für diese anspruchsvolle Aufgabe, zur Erhellung eines freiheitlichen Selbstverständnisses beizutragen, ist es unverzichtbar, die politische Theorie als Teildisziplin der politischen Wissenschaft zu befragen und gewinnend in Dienst zu nehmen.
In diesem Sinne handelt es sich also nicht - wie oft geschehen und noch öfter gemutmaßt - um eine belanglose schöngeistig-ideengeschichtliche Spielerei. Es kommt nicht darauf an, in unverbindlicher Aneinanderreihung die überaus interessanten, aber womöglich längst überholten Gedanken "der ganz Großen" zusammenzutragen. Zu Recht würde sich ein solches Unternehmen dem Vorwurf praxisloser Theorie aussetzen.
Eine auf gelungene menschliche Praxis bezogene politische Wissenschaft (33), die sich ihrer Verantwortung für die Etablierung und Stabilisierung einer menschenwürdigen politischen Ordnung bewusst ist, muss vielmehr darauf abzielen, aus den großen Denkern unserer Tradition jenen Nektar zu saugen, dessen die politische Bildung zu ihrer Stärkung bedarf. Politisches Ordnungswissen ist gefragt, und nichts Anderes fordert Karl Jaspers ein, wenn er auf die maßgebliche Bedeutung der politischen Theorie für die politische Bildung verweist:
"Ohne die Kenntnis und Übung im Studium der großen politischen Denker bleibt der eigene Horizont eng. Um die Weite in der gegenwärtigen Weltsituation zu erfassen als etwas in der Tat Neues, das unser aller Schicksal wird, ist die Weite des überlieferten politischen Denkens, wie es in den wenigen politischen Denkern sich zeigt, unerläßlich." (34)
Wie jede Fachdidaktik ihre inhaltlichen Einsichten ihrer fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplin verdankt (35), so kommt es auch für die politische Bildung darauf an, ihre zentralen Einsichten der politischen Wissenschaft zu entnehmen und diese in ihrer leitbildhaften Orientierung zu Rate zu ziehen. Das heißt, "wir sollten politische Bildung auf den Boden der politischen Philosophie zurückholen" (36) und insbesondere die angehenden Politiklehrer mit den unverzichtbaren Grundlagen ihrer Einbürgerungsdisziplin vertraut machen.
Anmerkungen
(1) Meinhardt, B.: Wenn die Graswurzeln braun werden, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. 11. 1998, S. 3.
(2) Vgl. Simon, A.: Fremd im eigenen Land. Ostdeutsche zwischen Trauer, Ressentiment und Ankunft in der Bundesrepublik, in: DIE ZEIT, 17. 6. 1999, Nr. 25, S. 7 f.
(3) Jaspers, K.: Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1988 (10. Aufl.), S. 128.
(4) Aristoteles: Politik, 1310 a 12 f.
(5) Hennis, W.: Regieren im modernen Staat. Politikwissenschaftliche Abhandlungen I, Tübingen 1999, S. 25.
(6) Barber, B.: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994, S. 31 ff.
(8) Barber, B.: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994, S. 216.
(9) Hamilton, A./Madison, J./Jay, J.: Die Federalist Papers, hrsg. u. übers. von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, Art. 57, S. 347.
(10) Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, übers. u. hrsg. von E. Forsthoff, Tübingen 1992 (2.Aufl.), Buch IV, Kap. 5, S. 53.
(11) Ebd., Buch V, Kap. 2, S. 62 f.
(12) Berg-Schlosser, D./ Maier, H./Stammen, T.: Einführung in die Politikwissenschaft, München 1977 (2. Aufl.), S. 293 ff.
(13) Vgl. Heitmeyer, W. (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt/Main 1997.
(14) Moulakis, A.: Homonoia. Eintracht und die Entwicklung eines politischen Bewusstseins, München 1973, S. 27.
(15) Jaspers, K.: Wohin treibt die Bundesrepublik?, S. 147.
(16) Vgl. Hennis, W.: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: Matz, U. (Hrsg.): Grundprobleme der Demokratie, Darmstadt 1973, S. 323 ff.
(17) Hamilton, A./Madison, J./Jay, J.: Die Federalist Papers, hrsg. u. übers. von B. Zehnpfennig, Art. 76, S. 448 f.
(21 )Gebhardt, J.: Selbstregulierung und republikanische Ordnung in der politischen Wissenschaft der Federalist Papers, in: Göhler, G. u. a. (Hrsg.): Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen 1990, S. 327.
(22) Vgl. Hamilton, A./Madison, J./Jay, J.: Die Federalist Papers, hrsg. u. übers. von B. Zehnpfennig, Art. 14, S. 114 ff.
(23) Zehnpfennig, B.: Die Federalists zwischen Gemeinwohl und Partikularinteresse, in: Münkler, H.: (Hrsg.): Bürgerreligion und Bürgertugend. Debatten über die vorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung, Baden-Baden 1996, S. 304.
(24) Hamilton, A./Madison, J./Jay, J.: Die Federalist Papers, hrsg. u. übers. von B. Zehnpfennig, Art. 14, S. 118.
(26) Vgl. Platon: Politeia, 473 d.
(27) Vgl. Breier, K.-H.: Bürgersinn und Ordnungsrahmen. Überlegungen zur individualethischen Verankerung von Ordnungsethik, in: Kruber, K.-P. (Hrsg.): Konzeptionelle Ansätze ökonomischer Bildung, Bergisch Gladbach 1997, S. 161 ff.
(28) Kremp. W.: Die Republik der Erwachsenen oder Wege in der Höhle. Ein Versuch zur politischen Bildung, Göttingen 1985, S. 104.
(29) Voegelin, E.: Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, Freiburg/München 1991 (4. Aufl.), S. 96 ff.
(31) Voegelin, E.: Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 97.
(32) Gebhardt, J.: Selbstregulierung und republikanische Ordnung in der politischen Wissenschaft der Federalist Papers, in: Göhler, G. u. a. (Hrsg.): Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen 1990, S. 311.
(33) Vgl. Breier, K.-H.: Politische Wissenschaft als Bürgerwissenschaft. Hannah Arendt über Bürgerfreiheit in der Republik, in: Berg-Schlosser, D./Riescher, G./Waschkuhn, A. (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Spiegelungen. Ideendiskurs - Institutionelle Fragen - Politische Kultur und Sprache. Festschrift für Theo Stammen zum 65. Geburtstag, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 160 ff.
(34) Jaspers, K.: Wohin treibt die Bundesrepublik?, S. 207.
(35) Vgl. Kammertöns, A.: Politische Theorie - politische Didaktik. Über den Zusammenhang von Fachwissenschaft und Fachdidaktik, Bochum 1981.
(36) Brumlik, M.: Braucht politische Bildung eine normative Theorie?, in: kursiv. Journal für politische Bildung, 4/1997, S. 12.
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