Thomas Retzmann
- 1. Subjektives Vorspiel - Oder: Setzt das Bildungssytem falsche Restriktionen?
- 2. Ideologiekritisches Zwischenspiel - Oder: Hat die ökonomische Bildung die falschen Freunde?
- 3. Rationales Nachspiel - Oder: Braucht die ökonomische Bildung eine universitäre Fachdidaktik?
- Anmerkungen
- Literatur
1. Subjektives Vorspiel - Oder: Setzt das Bildungssystem falsche Restriktionen?
Ich möchte meine Ausführungen zu der im Titel genannten Fragestellung mit der Schilderung einer Episode aus meiner eigenen Bildungsbiographie beginnen. Als Absolvent einer staatlichen Realschule im Bundesland Rheinland-Pfalz stand ich im Schuljahr 1974/75 als gerade einmal elfjähriger Schüler der Klasse 6 vor der Entscheidung, ab Klasse 7 entweder meine ökonomische Bildung oder meine mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung oder meine sprachliche Bildung voranzutreiben. Die Fächer »Französisch, Mathematik / Naturwissenschaften und (Haus-)Wirtschaftslehre« standen als Wahlpflichtfächer nämlich nur alternativ zur Auswahl. Aus heutiger, ökonomisch geprägter Sicht eines Fachdidaktikers handelte es sich damals um ein Optimierungsproblem unter Knappheitsbedingungen: Die persönlichen Präferenzen sprachen für den parallelen Auf- und Ausbau der ökonomischen und der sprachlichen Bildung, die Restriktionen machten eine Entscheidung zwischen den beiden Alternativen erforderlich. Noch völlig unbeleckt von jedwedem humankapitaltheoretischen Denken traf ich diese Entscheidung - wie viele meiner Mitschülerinnen und Mitschüler auch - aufgrund von mehr oder weniger zufälligen Faktoren:
1. Mit welchem Lehrer wird man konfrontiert sein?
2. Wo liegen meine persönlichen Stärken und Schwächen?
3. Welche Wahl werden die seinerzeit "besten" Freunde in der Klasse treffen?
4. Wann findet der Unterricht statt?
5. Kommt nach dem angestrebten Erwerb des qualifizierten Sekundarabschlusses I (Mittlere Reife) ggf. noch der Erwerb der allgemeinen Hochschulreife in der Sekundarstufe II in Betracht?
Nach sorgfältiger Abwägung der möglichen Folgen der drei Entscheidungsalternativen fiel meine Entscheidung zugunsten des Faches "Französisch". Diese Entscheidung für Ausbau der sprachlichen Bildung, die unvermeidbar zu Lasten der ökonomischen Bildung ging, sollte sich schon vier Jahre später als nicht unerheblicher Wettbewerbsnachteil bei der Konkurrenz um die knappen Ausbildungsplätze herausstellen. Meine Berufswahl fiel nämlich auf einen kaufmännischen Beruf. Unter dem Vorzeichen eines seinerzeit angespannten Ausbildungsstellenmarktes bewarb ich mich u. a. auch beim größten Arbeitgeber der strukturschwachen Region - einem Industriebetrieb des Maschinenbaus. Hauptbestandteil des schriftlichen Auswahlverfahrens waren Multiple-Choice-Fragen zu ökonomischen, im engeren Sinne kaufmännischen Sachverhalten. Man hatte uns - wie ich später erfuhr - die letzte Zwischenprüfung des Ausbildungsberufs »Industriekaufmann« vorgelegt. Dieser Test dient im Allgemeinen dazu, den Lernstand von Auszubildenden in der Mitte der Ausbildungszeit zu erheben.
Betrachtet man diese Episode aus meiner individuellen Bildungsbiographie mitsamt ihren skurril anmutenden subjektiven Entscheidungskalkülen in der Retrospektive, so stellt sich für mich - angesichts der auch nach fast drei Jahrzehnten unverändert ungesicherten Lage der ökonomischen Bildung - die Frage, ob man die Zukunft der ökonomischen Bildung im allgemein bildenden Schulwesen weiterhin von derartigen Zufallsergebnissen abhängig machen sollte, oder ob man in die persönliche Freiheit der Schüler nicht derart eingreifen sollte, dass eine grundständige ökonomische Bildung für alle Absolventen jedweder Schulform der Sekundarstufe I zur Pflicht wird? Vielleicht ist es aber auch damit getan, dass die Wahlfreiheiten der Schülerinnen und Schüler dahingehend erweitert werden, dass sie nicht mehr gegen die ökonomische Bildung votieren müssen, wenn sie die sprachliche oder die mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung auch noch ausbauen möchten. Ist es nicht ein Treppenwitz der Geschichte, dass das staatliche Bildungssystem eines wirtschaftlich und kulturell so entwickelten Landes lernwilligen Schülern Optionen versperrt statt sie ihnen zu eröffnen?
Schließlich münden alle Absolventen der allgemein bildenden Schulen der Sekundarstufe I früher oder später in den Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt. Dort dürfte eine solide ökonomische Bildung zu einer höheren Bewertung ihres Humankapitals durch die Abnehmer führen, wenngleich der komparative Vorteil einiger Absolventen entfallen würde, wenn alle Absolventen über eine vergleichbare ökonomische Bildung verfügen würden. Wie mein Beispiel zeigt, sollte die ökonomische Bildung an allgemein bildenden Schulen jedoch keinesfalls die berufsqualifizierende, im engeren Sinne kaufmännische Bildung an berufsbildenden Schulen vorweg nehmen, sondern darauf lediglich - immerhin - als Teil der vorberuflichen Bildung vorbereiten.
Des Weiteren werden alle Schüler später einen eigenen Haushalt gründen und führen müssen. Eine solide ökonomische Bildung ist dabei von nicht zu überschätzender Bedeutung, wie uns unter anderem die Zahl von über 2,5 Millionen überschuldeten Haushalten drastisch vor Augen führt. Es sind - das ist statistisch belegt - gerade die jungen Familien, die bei der Haushaltsgründung - auch mangels Erfahrung - folgenreiche Fehlentscheidungen bei der (Fremd-)Finanzierung des Haushaltes treffen.
Und last but not least kann die ökonomische Bildung ggf. einen bedeutsamen Beitrag zur Mündigkeit des heranwachsenden Staatsbürgers leisten. Schließlich ist unsere Gegenwartsgesellschaft wie keine andere vor ihr durch wirtschaftliche "Sachzwänge" und Optionen gekennzeichnet. Die Wirtschaft ist im privaten Haushalt, im ausgeübten Beruf und im Staat so allgegenwärtig, dass Habermas (1985, S. 488) sich veranlasst sah von einer "Kolonialisierung der Lebenswelt" durch die instrumentell-strategische, letztlich die ökonomische Rationalität zu sprechen. Zum Menschsein gehört in der Moderne wesentlich auch das Dasein als Konsument, Erwerbstätiger (Arbeitnehmer oder Unternehmer) und Staatsbürger. Kann man infolge dessen überhaupt noch von einer allseits gebildeten Persönlichkeit sprechen, wenn es der Person an einer umfassenden ökonomischen Bildung mangelt?
Aufgrund dieser subjektiven und objektiven Bedeutsamkeit des Ökonomischen kann die Frage, ob es zur umfassenden Persönlichkeitsbildung auch der umfassenden ökonomischen Bildung in allen Schulen der Sekundarstufe I bedarf, nur mit einem eindeutigen "Ja!" beantwortet werden, dem kein einschränkendes "..., aber" folgt. Restriktionen, die das Bildungssystem den Bildungssubjekten diesbezüglich auferlegt, sind soweit wie möglich und vor allem so rasch wie möglich aufzuheben. Jedwede Bildung - auch die ökonomische - braucht Optionen, keine Restriktionen.
Die nicht zuletzt schulorganisatorisch zu verstehende Frage, in welchem curricularen Rahmen die ökonomische Bildung erworben werden sollte, ist mit dieser bildungstheoretisch begründeten Antwort jedoch noch nicht vorentschieden. Bei der Beantwortung der Frage, ob die ökonomische Bildung in einem eigenständigen (Pflicht-, Wahlpflicht-, Wahl-) Fach, in einem Integrationsfach (wie z. B. Sozialwissenschaften) oder gar als Prinzip aller Fächer (wie z. B. die Umweltbildung) vermittelt werden sollte, müssen weitere Faktoren berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden.
2. Ideologiekritisches Zwischenspiel - Oder: Hat die ökonomische Bildung die falschen Freunde?
Seit meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen der ökonomischen "Allgemeinbildung" und der kaufmännischen Berufsbildung habe ich auf zwei Fragen keine wirklich befriedigenden Antworten erhalten.
Die erste Frage lautet:
Wie kommt es, dass das gesellschaftliche Ansehen der (vor-)beruflichen Bildung im Vergleich zur so genannten "Allgemeinbildung" auch heute noch vielfach hintan steht?
Die zweite, davon nicht unabhängige Frage lautet:
Wie kommt es, dass die ökonomische Bildung nicht schon längst im Fächerkanon der allgemein bildenden Schulen der Sekundarstufe I mit einem eigenen Fach vertreten ist, obwohl doch - ansonsten so starke - gesellschaftliche Interessenverbände (pressure groups) wie die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände ihren Einfluss geltend zu machen versuchen?
Es ist noch vergleichsweise leicht zu erklären - und zu verschmerzen -, dass die Nachwirkungen eines falsch verstandenen Wilhelm von Humboldts noch heute zu einer nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in den Erziehungswissenschaften verbreiteten Abwertung der ökonomischen und der (vor-)beruflichen Bildung führen, weil beide sich nicht nur als bildsam, sondern überdies auch noch als nützlich erweisen können. Gegen dieses unhaltbare Vorurteil kann man als Fachdidaktiker wie als Berufs- und Wirtschaftspädagoge rational argumentieren (siehe z. B. die immer noch wegweisende Argumentation von Blankertz 1985). Mit Argumenten nicht zu erreichen ist jedoch die hinter vorgehaltener Hand gelegentlich zu hörende - für die öffentliche Verlautbarung gewiss wenig geeignete - Mutmaßung, dass eben jener Versuch der Einflussnahme auf das schulische Curriculum durch die genannten pressure groups (siehe BDA / DGB 2000) selbst der Durchsetzung der ökonomischen Bildung in den Schulen der Sekundarstufe I abträglich sei. Der beharrliche Widerstand, der der Forderung nach einem eigenständigen Fach "Ökonomie" entgegengebracht werde, resultiere auch daraus, dass "man" den ohnehin übermächtigen wirtschaftlichen Interessenverbänden nicht auch noch dieses pädagogische Feld (kampflos) überlassen wolle. Wenn demnach etwa das geschäftsführende Vorstandsmitglied des Deutschen Aktieninstituts e.V. v. Rosen ein "Plädoyer für ein Schulfach Ökonomie an allgemein bildenden Schulen" hält, so unterliegt er - ob seiner Position - der Gefahr, dass nicht seine bildungstheoretisch möglicherweise anerkennungswürdigen Argumente gehört werden, sondern dass vor allem über seine Partikularinteressen spekuliert wird.
Zwar wäre eine unverblümte Indienstnahme der öffentlichen Schulen zur Förderung der Aktienkultur oder der "Gründermentalität" (v. Rosen 2000, S. 12) oder zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts als bildungstheoretisch unangemessen zurück zu weisen, weil die Bildung der heranwachsenden Generation sträflich instrumentalisiert würde und weil die Bildung als Selbstzweck offenbar nicht mehr als argumentativ ausreichend betrachtet würde. Jedoch ist die bei manchen Kritikern eines eigenständigen Faches mutmaßlich handlungsleitende Vorstellung, die Schule zum (letzten) Bollwerk gegen die scheinbar übermächtige Wirtschaft werden zu lassen, nicht weniger unangemessen. Wenn diese gelegentlich zu hörende Mutmaßung auch nur einen Funken von Wahrheit enthielte, so würde auf dem Rücken der heranwachsenden Jugend ein "Kampf der gesellschaftlichen Mächte" (E. Weniger) um den Fächerkanon der Schulen ausgetragen, wo ein "Kampf der geistigen Mächte" angemessener wäre. Der vorgebliche Selbstzweck der Bildung, die doch nur dem einen Zweck dienen sollte: der Bildung der Individuen selbst, würde auf die selbe Weise, nämlich durch Instrumentalisierung, negiert. Es wäre fatal, wenn ein bildungstheoretisch gut zu legitimierender Bildungsinhalt nur deshalb zurück gewiesen würde, weil sich Interessenverbände, gegen die man unzeitgemäße ideologische Ressentiments hegt, dafür stark machen. Umgekehrt müssen sich die wirtschaftlichen Interessenverbände gewiss keine Sorgen um die Sicherung der personalen Bedingungen des Wirtschaftsstandorts Deutschlands machen, wenn die Schule allseits gebildete Persönlichkeiten entlässt. Auch bei einer "zweckfreien" Bildung fällt - sozusagen als nicht-intendiertes, aber unvermeidbares Nebenprodukt - ein wirtschaftlich höchst bedeutsames Humankapital an. Bildung war, ist und bleibt "Standortfaktor" (BDA 1997). Somit könnte beiden Ansprüchen Genüge getan werden: der Humanität und der - allerdings lexikalisch nachgeordneten - Utilität.
Dieser ideologische Streit um die Institutionalisierung der ökonomischen Bildung im Fächerkanon der allgemein bildenden Schulen ist in der Vergangenheit mindestens fruchtlos, wenn nicht gar schädlich gewesen. Er sollte - aus Achtung vor dem ethisch gut begründbaren Recht der heranwachsenden Jugend auf eine umfassende, zur Selbstbestimmung in sozialer Verantwortung führenden Bildung - so rasch wie möglich in eine rationale Debatte überführt werden.
3. Rationales Nachspiel - Oder: Braucht die ökonomische Bildung eine universitäre Fachdidaktik?
Grundlage einer rationalen Bildungsdebatte müssen in erster Linie wissenschaftliche Theorien und empirische Befunde zur ökonomischen Bildung sein. Hier stehen neben den erziehungswissenschaftlichen Disziplinen, der Entwicklungspsychologie und der Wirtschaftssoziologie vor allem die einschlägigen Fachdidaktiken in der Pflicht. Die fachdidaktische Forschung müsste sich zukünftig m. E. allerdings einem bislang nicht oder jedenfalls nur wenig beackerten pädagogischen Feld zuwenden: der empirischen Lehr-/Lern-Forschung. Die Fachdidaktiker in den Wirtschaftswissenschaften haben in der Vergangenheit - durchaus gemäß den jeweils dringlichen Herausforderungen - ihre Forschungskapazitäten mehr auf die Analyse, Kritik und Konstruktion von Richtlinien, Lehrplänen, Curricula (zuletzt Schlösser / Weber 1999) sowie der darauf Bezug nehmenden Schulbücher konzentriert, um auf diese Weise zu einer zeitgemäßen und adressatengerechten ökonomischen Bildung beizutragen. Sie haben zudem sehr beachtliche komplexe Lehr-/Lern-Arrangements entworfen, denen eine Umsetzung im ökonomisch-sozialwissenschaftlichen Unterricht nur zu wünschen ist. (1) Sie haben es jedoch m. E. bislang versäumt bzw. aufgrund ihrer sehr begrenzten Forschungskapazitäten gar nicht leisten können, deren Einsatz und deren Erfolg im konkreten Unterrichtsgeschehen auch noch durch quantitative und qualitative empirische Studien zu evaluieren.
Die z. B. von Kahsnitz (2000) vorgetragene Behauptung, dass eine angemessene und / oder hinreichende, systematische sozioökonomische Bildung "nur in einem eigenständigen Fach für Wirtschaft vermittelt werden kann", kann daher ebenso wie die von Hartwich (2000, S. 25, 32, passim) vertretene gegenteilige Behauptung, dass sie nur in einem sozialwissenschaftlichen Kontext herstellbar sei, zurzeit nur mit guten Argumenten plausibilisiert werden. Empirische Belege gibt es weder für die eine noch für die andere Behauptung. Es ist von daher kein Zufall, dass die Argumente der Kontrahenten in beiden Fällen ausschließlich Bezug auf Sachverhalte und Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat oder auf Entwicklungen in den Wissenschaften nehmen - mit den bekanntermaßen unterschiedlichen Interpretationen und Schlussfolgerungen. Es mangelt beiden Begründungsrichtungen an systematischen und umfassenden Bezügen zu konkreten Lehr- und Lernprozessen im schulischen Kontext. Um die aber geht es doch letztlich in der Bildungsdebatte. Allenfalls werden persönliche "schulpraktische Erfahrungen" bemüht. Ökonomische Bildung wird folglich viel zu sehr als Inhaltskanon konzipiert, rezipiert und diskutiert. Der Prozesscharakter des Erwerbs von ökonomischer Bildung bleibt systematisch unterbelichtet. Die zurzeit wieder einmal heiß diskutierte Frage, ob es zur ökonomischen Bildung der heranwachsenden Jugend eines eigenen Faches im Fächerkanon der allgemein bildenden Schulen bedarf oder ob der Ausbau der zeitlichen Anteile sowie eine Modernisierung der Inhalte im Rahmen von Integrationsfächern ausreicht, muss demnach mindestens um die Frage ergänzt werden, welche (komplexen) Lehr-/Lern-Arrangements überhaupt nachweislich geeignet sein können, die unverzichtbaren Kompetenzen des mündigen Wirtschaftsbürgers herbeizuführen. Einer so verstandenen empirischen Lehr-/Lern-Forschung müsste m. E. zukünftig sogar die höchste Priorität im fachdidaktischen Forschungsprogramm eingeräumt werden.
Die empirische Lehr-/Lern-Forschung ist bis dato weitgehend ein Desiderat der fachdidaktischen Forschung zur ökonomischen Bildung geblieben. In den Didaktiken der Naturwissenschaften wie auch in der Didaktik der Mathematik wurde der Weg der empirischen Erforschung der Effektivität alternativer Lehr- / Lernarrangements bereits vor Jahr(zehnt)en beschritten. (2) Der Bedeutung der ökonomischen Bildung für die autonome Lebensbewältigung der Heranwachsenden kann die ökonomisch-fachdidaktische Forschung m. E. nur durch umfangreiche qualitative und quantitative empirische Studien entsprechen, die konkrete Lehr-/Lern-Prozesse in verschiedenen Schulformen und -stufen zu verschiedenen Unterrichtsinhalten untersuchen. Dabei sind auch vergleichende Studien vorstellbar, die die Konstruktion, den Verlauf und das Ergebnis von Lehr-/Lern-Prozessen im eigenständigen Fach "Ökonomie" oder im Integrationsfach "Sozialwissenschaften" oder in anderen Fächern der ökonomisch-politischen Bildung abzubilden vermögen.
Gemäß eines einfachen Prozessmodells des intentionalen Lernens (siehe Abb. 1, in Anlehnung an Jongebloed / Twardy 1983, S. 267) müsste diese fachdidaktische "Lehr-/Lern-Forschung" im Wesentlichen fünf Teilgebiete abdecken:
1. Die Bestimmung und Begründung der Lernziele des Unterrichts, m. a. W. des angestrebten Lernstands der Lernenden nach dem Lernprozess, unter bildungstheoretischem Anspruch.
2. Die Erhebung des Lernstands der Lernenden vor dem Lernprozess mit den Methoden, Instrumenten und Verfahren der pädagogischen Diagnostik. (3)
3. Die Entwicklung (komplexer) Lehr-/Lern-Arrangements zur zielführenden (= effektiven) Gestaltung des Lernprozesses, welche insbesondere fachwissenschaftlich zu fundieren und lernpsychologisch zu begründen sind.
4. Die Erfassung des tatsächlichen Lehr-/Lern-Prozesses, der für die Veränderung des Lernstandes ursächlich ist, mit den Methoden, Instrumenten und Verfahren der empirischen Sozialforschung (qualitativ und quantitativ).
5. Die Erhebung des tatsächlichen Lernstands der Lernenden nach dem Lernprozess mit den Methoden, Instrumenten und Verfahren der pädagogischen Diagnostik, die schon zur Erhebung des Lernstandes vor Beginn des Lehr-/Lernprozesses eingesetzt wurden (Pre-/Post-Test-Design).
Abb. 1: Ein Modell fachdidaktischer Lehr-/Lern-Forschung - (vergrössern - 50 KB) |
Aus dem Vergleich der angestrebten, in den Lernzielen zum Ausdruck kommenden Lernstände mit den tatsächlichen Lernständen vor dem Lernprozess wäre die Notwendigkeit von Lehr-/Lern-Arrangements, die der ökonomischen Bildung dienen sollen, zu ermitteln. Aus dem Vergleich der angestrebten, in den Lernzielen zum Ausdruck kommenden Lernstände mit den tatsächlichen Lernständen nach dem Lernprozess wäre der (Miss-)Erfolg des konkreten Lehr-/Lern-Arrangements zu ermitteln. Die Ursachen für etwaige Abweichungen des geplanten von dem erreichten Lernstand, die insbesondere in dem Lehr-/Lern-Arrangement und im Lehr-/Lern-Prozess zu suchen sind, wären zu ermitteln. Wenngleich man von solchen empirischen Studien keine (quasi-)naturgesetzlichen Theorien oder Theoreme erwarten darf, so würden sie doch dazu beitragen, die zurzeit ohne hinreichenden empirischen Unterbau - z. T. sogar stark ideologisch - geführte Debatte über die Notwendigkeit, die Möglichkeiten aber auch die Grenzen der ökonomischen Bildung unter verschiedenen schulorganisatorischen Rahmenbedingungen zu versachlichen. Ich habe an anderer Stelle (Retzmann 1999) selbst demonstriert, dass und wie der in der ökonomischen Theorie und der ökonomischen Bildung vollzogene Wandel vom (alten) Systemvergleich zum (neuen) Standortvergleich zum Gegenstand empirischer Lehr-/Lern-Forschung gemacht werden könnte. Freilich habe auch ich nur - in Ermangelung zureichender Ressourcen - empirisch überprüfbare Hypothesen über den damit einhergehenden Wandel der Lernchancen generiert, ohne selbst die empirische Prüfung vornehmen zu können.
Abb. 2: Ein Modell vergleichender fachdidaktischer Lehr-/Lern-Forschung - (vergrössern - 50 KB) |
Die in der bildungspolitischen Debatte vorrangige Frage: "Braucht die ökonomische Bildung ein eigenständiges Fach?" ist angesichts des zuvor skizzierten wissenschaftlichen Forschungsprogramms in die hochschulpolitische Frage zu transformieren: "Braucht die ökonomische Bildung eine universitäre Fachdidaktik?" Die Erwartung, dass eine Fachdidaktik »Wirtschaftswissenschaften« bzw. eine universitäre Didaktik der ökonomischen Bildung auch zukünftig einen wesentlichen Beitrag zur Rationalisierung der Bildungsdebatte liefern könnte, verliert nämlich in dem Maße an Berechtigung, in dem die Fachdidaktik selbst aus den Universitäten verschwindet. Der zu befürchtende allmähliche Niedergang der für die ökonomische Bildung einschlägigen Fachdidaktiken kann hier nicht umfassend nachgezeichnet werden, sondern wird als hinlänglich bekannt vorausgesetzt (siehe z. B. Kruber 1999, S. 13 ff.). Die anhaltende Ausdünnung fachdidaktischer Forschungs- und Lehrkapazitäten an den lehrerausbildenden Universitäten hat unmittelbare Auswirkungen auf die Praxis der ökonomischen Bildung in den allgemein bildenden Schulen. Denn fachdidaktische Forschung und Lehre ist - wie Kruber 1999 treffend bemerkt - der "Schlüssel zur ökonomischen Bildung". Mindestens zeitgleich, besser noch im zeitlichen Vorfeld zu der angezeigten Stärkung der ökonomischen Bildung im Curriculum der allgemein bildenden Schulen müssten die fachdidaktischen Kapazitäten an den Universitäten nicht nur aufrecht erhalten, sondern auch ausgebaut werden. Denn wie soll ohne die wissenschaftlichen Leistungen der fachdidaktischen Forschung eine Modernisierung der ökonomischen Bildung gelingen? Mit einer Unterrichtsmethodik aus dem "Pferdekutschenzeitalter" kann die heranwachsende Jugend gewiss nicht auf die autonome Bewältigung der Anforderungen einer globalen, vernetzten und dynamischen Wirtschaftswelt vorbereitet werden. In Anbetracht der angespannten Haushaltslage der für die Personalausstattung der Hochschulen zuständigen Bundesländer sowie in Anbetracht des angestrebten Ausbaus der Hochschulautonomie (Stichwort: "Budgetierung") stehen die Zeichen dafür zurzeit eher schlecht. Die Fakultäten müssten sich die - z. T. mit kw-Vermerk versehenen - fachdidaktischen Forschungskapazitäten zusätzlich zu den bereits beschlossenen Stellenkürzungen (Stichwort: "Qualitätspakt") metaphorisch gesprochen "aus dem eigenen Fleisch schneiden". Damit ist jedoch vorerst nicht zu rechnen. Hartwich (2000, S. 35) weist zu Recht darauf hin, dass "der Kreis wirtschaftswissenschaftlicher Professoren, - außerhalb der Handelslehrerausbildung -, die sich bislang für eine Schule als Einrichtung ökonomischer Bildung interessiert, klein ist" und dass das Engagement der Wirtschaftswissenschaften in der Lehrerbildung "zurückhaltend" (S. 24) war. Zu fragen ist allerdings, warum die Handelslehrerausbildung - obwohl doch auch Lehrerausbildung - überhaupt eine solche Ausnahme ist. Meine Vermutung ist: Sie schließt an den meisten Universitäten mit einem Diplom und nicht "nur" mit einem Staatsexamen ab. Dies bringt ihr entsprechende fachliche Anerkennung ein. Und: Die wirtschaftswissenschaftlichen Studienanteile sind bei den Handelslehrern ungleich größer als bei den "Politik-/Sowi-Lehrern", selbst wenn im Hauptstudium keine spezielle Betriebswirtschaftslehre, sondern ein allgemeines Unterrichtsfach studiert wird. Zu der Ausdünnung der fachdidaktischen Forschungs- und Lehrkapazitäten trägt in Nordrhein-Westfalen aktuell ein Erlass des Kultusministeriums bei, wonach Stellen, die überwiegend der Lehrerbildung zugeordnet werden, vorerst nicht wieder besetzt werden. Davon betroffen sind natürlich in erster Linie die fachdidaktischen Professuren. Nicht zuletzt erweist sich auch die Verortung der ökonomischen Bildung im Integrationsfach "Sozialwissenschaften" auf universitärer Ebene als nachteilig für die Fachdidaktik der ökonomischen Bildung. So wird an der Universität Bielefeld von vielen Fachvertretern eine eigenständige Professur für die Fachdidaktik Wirtschaftswissenschaften als entbehrlich erachtet, weil die Fachdidaktik mit einer didaktisch akzentuierten Professur in der Fakultät für Soziologie bereits hinreichend für die Lehre im interdisziplinären Studiengang Sozialwissenschaften vertreten sei. Wenn aber - wie sich hier beispielhaft andeutet - die Fachdidaktik der ökonomischen Bildung in integrierten Studiengängen auf die eine oder andere Weise keinen Platz mehr hat und systematisch ausgemerzt wird, dann stellt sich auch die Überlebensfrage für die ökonomische Bildung unter dem Dach eines Integrationsfaches. Ökonomische Bildung im Integrationsfach steht dann mehr oder weniger nur noch auf dem Papier, welches bekanntlich geduldig ist.
So notwendig auf der einen Seite die Entpolitisierung und Rationalisierung der gesellschaftlichen Debatte um die ökonomische Bildung also ist, so notwendig ist auf der anderen Seite offenbar doch die Politisierung der Hochschulentwicklung in punkto Fachdidaktik auf der anderen Seite. Ohne fachdidaktische Lehrstühle / Professuren an den Universitäten, die sich um die Erforschung der ökonomischen Bildung in der Schule bemühen, ist jeder Versuch einer Antwort auf die bildungstheoretisch motivierte Frage, ob es eines eigenständigen Faches bedarf, müßig. Schon mittelfristig könnte nicht einmal der bisherige Stand der ökonomischen Bildung in den Integrationsfächern aufrecht erhalten werden, denn ohne eine institutionell abgesicherte fachdidaktische Forschung kann auch die - weithin nur noch über Lehraufträge mehr schlecht als recht aufrecht erhaltene - fachdidaktische Ausbildung angehender LehrerInnen in den Universitäten schon bald nur noch die fachdidaktischen Erkenntnisse von (vor-)gestern vermitteln. Es besteht demnach aller Anlass, sich um die Zukunft der ökonomischen Bildung der heranwachsenden Jugend im 21. Jahrhundert ernsthafte Sorgen zu machen.
Anmerkungen:
(1) Aus der Vielzahl dieser Beiträge möchte ich lediglich exemplarisch die Sammelbände von Aff/Wagner 1997 und Steinmann/Weber 1995 hervorheben sowie wegen der Vielzahl verschiedener Lehr-/Lern-Arrangements Weber 1997.
(2) Um nur ein Beispiel aus der naturwissenschaftlich-didaktischen Lehr-/Lern-Forschung zu nennen, das sogar deutliche Bezüge zur ökonomischen Bildung aufweist, sei auf das experimentelle Simulationsspiel zur Umwelterziehung - Verhalten in Situationen vom Typ des Gefangenendilemmas - von Spada-Schweizer aus dem Jahre 1977 (!) verwiesen. Auch in der wirtschaftspädagogischen Forschung zur kaufmännisch-beruflichen Bildung hat man bereits seit Anfang / Mitte der 90er Jahre eine beachtenswerte empirische Lehr-/Lernforschung betrieben. Für die kaufmännische Berufsschule wurden komplexe Lehr-/Lern-Arrangements nicht nur entworfen, sondern u. a. im DFG-Schwerpunktprogramm 191 "Lehr-/Lern-Prozesse in der kaufmännischen Erstausbildung" auch einer empirischen Evaluation hinsichtlich ihrer Lehr-/Lern-Erfolge unterworfen.
(3) Ein Beispiel für solche Methoden, Instrumente und Verfahren der pädagogischen Diagnostik im Bereich der ökonomischen Bildung stellt z. B. der Wirtschaftskundliche Bildungstest (WBT) von Beck/Krumm 1998 dar.
Literatur:
Aff, J./ Wagner, M. (Hrsg.)(1997): Methodische Bausteine der Wirtschaftsdidaktik. Wien
Beck, K./ Krumm, V. (1998): Wirtschaftskundlicher Bildungs-Test (WBT). Göttingen
Beirat für ökonomische Bildung des Deutschen Aktieninstituts e.V. (1999): Memorandum zur ökonomischen Bildung. Ein Ansatz zur Einführung des Schulfaches Ökonomie an allgemein bildenden Schulen. Hrsg. v. R. v. Rosen, 2. Aufl., Frankfurt
BDA - Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (1997): Bildung ist Standortfaktor. Mit der Hauptschule in die Zukunft. Köln, Juni
Habermas, J. (1985): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde., 3. Aufl., Frankfurt a. M.
Hartwich, H. (2000): Kein neues Fach Ökonomie, aber modernere Wirtschaftslehre in der schulischen politischen Bildung. In: Gegenwartskunde 49. Jg., Heft 1, S. 23-36
Jongebloed, H.-C./ Twardy, M.: (1983) Lernzielformulierung und -präzisierung. In: Kompendium Fachdidaktik Wirtschaftswissenschaften. Hrsg. v. M. Twardy, Bd. 3, Teil II, S. 255-349
Kahsnitz, D. (2000): Brief vom 30.08.2000 an die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK). In: Denkschrift der BDA und des DGB zum Unterrichtsfach Wirtschaft, überreicht an die KMK am 21.08.2000
Kruber, K.-P. (1999): Fachdidaktische Forschung und Lehre - der Schlüssel zur ökonomischen Bildung. In: Deutsche Gesellschaft für ökonomische Bildung: Die Marktwirtschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert - Neue Aufgaben für die ökonomische Bildung? Hrsg. v. G. J. Krol/ K.-P. Kruber. Wirtschafts- und Berufspädagogische Schriften Bd. 19, Bergisch Gladbach, S. 1-20
Retzmann, Th. (1999): Vom Systemvergleich zum Standortvergleich. Hypothesen über den Wandel der Lernchancen in der ökonomischen Bildung. In: Deutsche Gesellschaft für ökonomische Bildung: Die Marktwirtschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert - Neue Aufgaben für die ökonomische Bildung? Hrsg. v. G. J. Krol/ K.-P. Kruber. Wirtschafts- und Berufspädagogische Schriften Bd. 19, Bergisch Gladbach, S. 67-91
Rosen, R. v. (2000): Wirtschaft in die Schule! Plädoyer für ein Schulfach Ökonomie an allgemein bildenden Schulen. In: Gegenwartskunde, 49. Jg., Heft 1, S. 11-22
Spada-Schweizer, V. (1977): Ein experimentelles Simulationsspiel zur Umwelterziehung. Theorie und Anwendung eines Nicht-Nullsummenspiels. IPN-Arbeitsberichte Nr. 28, Kiel
Steinmann, B./ Weber, B. (Hrsg.)(1995): Handlungsorientierte Methoden in der Ökonomie. Neusäß
Schlösser, H.-J./ Weber, B. (1999): Wirtschaft in der Schule. Eine umfassende Analyse der Lehrpläne für Gymnasien. Hrsg. v. Bertelsmann-Stiftung, Heinz Nixdorf Stiftung, Ludwig-Erhard-Stiftung. Gütersloh
Weber, B. (1997): Nachhaltige Entwicklung und Weltwirtschaftsordnung. Neusäß
Weber, B. (2000): Die Bedeutung der Ökonomie in der Lehrerausbildung. Eine Analyse der ökonomisch relevanten Schulfächer des allgemeinen Schulwesens. Gütersloh