Hermann Giesecke
- 1. Dominanz der traditionellen Bildungsidee
- 2. Dominanz des Politischen
- 3. Die Moralisierung der Politik und der Wirtschaft
- 4. Die Subjektwendung der Schulpädagogik
- 5. Fachliche Qualifikation der Lehrer
- 6. Didaktische Überanstrengung
- 7. Fazit: Chancen einer auch ökonomisch fundierten Allgemeinbildung
Wer einen Mangel an wirtschaftlichen Kenntnissen bei den Absolventen allgemein bildender Schulen zu erkennen glaubt, hat sicher Recht. Diese Feststellung wird auch nicht dadurch relativiert, dass es in anderen Wissensbereichen nicht besser aussieht. Die Forderung, deswegen an den Gymnasien ein spezifisches Schulfach einzuführen, ist jedoch nicht nur politisch unrealistisch, sondern verspricht auch nicht unbedingt eine Lösung des Problems, wie das Schicksal des Faches "Politische Bildung" - unter welchem Namen es auch geführt wird - zeigt. Obwohl seit Jahrzehnten dafür fachlich-didaktisch ausgebildet wird, ist es über weite Strecken zu einem "Laberfach" verkommen.
Wenn es Sinn der Allgemeinbildung ist, zur optimalem Partizipation an den gesellschaftlichen Möglichkeiten zu befähigen, dann gehören wirtschaftliche Grundkenntnisse zweifellos dazu. Der fachliche Ort zum Erwerb solcher Kenntnisse ist in erster Linie die Politische Bildung. Tatsächlich jedoch haben ökonomische Probleme und Themen in der bisherigen politischen Bildung eine eher randständige Bedeutung gehabt. Die Gründe dafür sollen im Folgenden durch eine knappe historischen Skizze angedeutet werden.
1. Dominanz der traditionellen Bildungsidee
Bis etwa 1960 dominierte den Kanon der Schulfächer, die Ausbildung der Lehrer und deren Bewusstsein eine bildungsbürgerliche Tradition und Vorstellungswelt, in der Politik, Wirtschaft und Technik keinen rechten Ort hatten. Demnach konnte der Bildung des Menschen nur dienen, was in hinreichender Distanz zur Unmittelbarkeit des Lebens stand und deshalb der sittlichen Entfaltung der individuell gedachten, von den konkreten sozialen Kontexten abstrahierten Persönlichkeit zugute kommen konnte. Schon die seit Beginn des 20. Jahrhunderts geführte umfangreiche Diskussion darüber, ob den Naturwissenschaften überhaupt ein Bildungswert zugesprochen werden könne, ist dafür ein deutliches Zeugnis. Das heißt nicht, dass die Probleme von Wirtschaft und Technik ignoriert worden wären, aber man ging davon aus, dass der sittlich Gebildete sein Verhältnis zu diesen Aspekten seines realen Lebens in rechter Weise gestalten könnte, wenn er sich vom Standpunkt seiner erworbenen (allgemeinen) Bildung aus damit beschäftigte. Wirtschaft und Technik galten als Thema einer spezifischen Berufsausbildung, nicht der Allgemeinbildung. Selbst als eine besondere politische Bildung we-gen der "sozialen Frage", also der Eingliederung der Arbeiterschaft in den bürgerlichen Staat, auch für Volks- und Berufsschüler unübersehbar zur Debatte stand und in Georg Kerschensteiner 1901 ihren ersten Didaktiker fand, diente als didaktisches Zentrum lediglich die "Arbeit", während das Wirtschaftsleben ausgeklammert blieb; es gehörte nach der damals herrschenden Auffassung der Sphäre der privaten Verträge und ihrer gesetzlichen Rahmenbedingungen an, wurde nicht der lediglich auf das staatliche Handeln bezogenen Politik zuge-rechnet. Das führte zum Beispiel zu der paradoxen Situation, dass vor dem Ersten Weltkrieg Lehrlinge nicht an Versammlungen politischer Parteien teilnehmen, wohl aber ihre Meister öffentlich angreifen durften, wenn sie sich von diesen ausgebeutet glaubten.
Spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts empfand das Bildungsbürgertum die durch Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft bestimmte Moderne als Bedrohung seines sozialen Status und seiner kulturellen Führerschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die bildungsbürgerliche Vorstellungswelt noch einmal von ihrer Unterdrückung durch den Nationalsozialismus erholen und bis etwa Mitte der Fünfzigerjahre wieder tonangebend werden. Das zeigte sich im Widerstand gegen die Phänomene der technisch bedingten und ermöglichten "Massengesellschaft" und vor allem gegen die aufkommende "Freizeit- und Konsumgesellschaft". Deren ökonomische Propagandisten erklärten den möglichst hohen privaten Konsum zu einer Art von wirtschaftlicher Bürgerpflicht, was ökonomische Argumente und Sachverhalte vollends als per se bildungsfeindlich verdächtig machte. In den Fünfzigerjahren gab es vor allem in Pädagogenkreisen einen regelrechten Kulturkampf zu den Stichworten "Freizeit" und "Konsum". Die Kernfrage war nicht, wie Wirtschaft funktioniert, sondern wie der Gebildete seine sittliche Innerlichkeit gegen ihre Auswirkungen verteidigen könnte. Wegen dieser Grundeinstellung konnte "Wirtschaft" kaum in den Kanon des Gymnasiums eindringen. Die kulturelle Dominanz des Bildungsbürgertums zerbrach zwar gegen Ende der Fünfzigerjahre, aber zumindest die nachfolgende Lehrergeneration war davon noch stark geprägt.
Für die Volksschule bzw. Hauptschule war schon eher Verständnis dafür aufzubringen, dass deren Absolventen auf den Eintritt in den Beruf nicht zuletzt auch durch grundlegende Wirtschaftskenntnisse vorbereitet werden müssten. Das sollte 1969 durch die Einführung des Faches "Arbeitslehre" geschehen - dessen wechselnde Bezeichnung jedoch schon inhaltliche Unsicherheit verrät und dessen Konturen zwischen Handwerkelei, politischer Kritik und sachlicher Information schwankten.
2. Dominanz des Politischen
Eigentlich sollte man annehmen, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und angesichts der ökonomischen Verwüstung, die er auch in Deutschland hinterlassen hatte, gerade wirtschaftliche Probleme in der politischen Bildung jener Zeit besondere Beachtung erfahren hätten. Das war jedoch nur in einem vordergründigen Sinne der Fall, insofern jedem klar war, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau enorme Kräfte beanspruchen werde. Ein Defizit an wirtschaftlicher Bildung in der Bevölkerung schien dabei kein nennenswertes Problem zu sein; gefragt waren eine ordentliche Berufsausbildung und die Verinnerlichung der benötigten Arbeitstugenden - und dafür sollte die mit der erforderlichen Autorität ausgestattete Volksschule sorgen. Überhaupt war die überlieferte Struktur des Bildungswesens und der Kanon der Schulfächer wenig strittig, so dass Versuche der Alliierten, vor allem der Amerikaner, scheiterten, das deutsche Schulsystem etwa in Richtung auf eine Gesamtschule hin zu reformieren.
Die Entstehung und Entwicklung der politischen Bildung nach 1945 verdankte sich denn auch einem nachdrücklichen politischen Impuls: Sie war eine Reaktion auf die NS-Verbrechen und den verlorenen Krieg. Ihre ersten Anschübe erhielt sie vom Umerziehungskonzept ("reeducation") der alliierten Sieger. Sie stand also von vornherein unter einer politischen Zielvorgabe: Mit pädagogischen Mitteln - Lernen und Bildung - sollte das politische Ziel erreicht werden, Denazifizierung, Demilitarisierung und Demokratisierung in den Köpfen und Herzen der Deutschen - vor allem der jungen - zu verankern. Von diesem Ausgangspunkt her erschien sie nicht wenigen Deutschen damals als Teil des Siegerhandelns - im Zusammenhang mit anderen, zweifellos als repressiv gedachten Maßnahmen wie Entnazifizierung, Kriegsverbrecherprozesse und Demontage. Die politische Bildung begann also bei uns unter der Voraussetzung, dass es demokratische Strukturen und Normen noch gar nicht bzw. erst in Anfängen gab, deren Existenz sie eigentlich hätte voraussetzen müssen. Daraus ergab sich die pädagogische Paradoxie, dass die Erwachsenen, die traditionell für die Bildung und Erziehung der Jungen zuständig sind und dabei diesen gegenüber die normativen Prinzipien der Gesellschaft zur Geltung zu bringen haben, selbst erst einmal einer demokratischen Erziehung bedurften: die potentiellen Erzieher waren selbst zu Erziehende; denn schließlich waren sie in das undemokratische und dazu noch hochgradig kriminelle System des Nationalsozialismus irgendwie verwickelt gewesen, das sich in einem hohen Maße auf antidemokratische deutsche Traditionen stützen konnte. Es ging darum, diese Traditionen aufzuklären, Fundamente für eine demokratische Erneuerung zu legen und vor allem darüber nachzudenken, warum die Nationalsozialisten überhaupt die Macht erringen konnten und wie eine Wiederholung dieses Schreckens zu vermeiden sei. Von daher waren auch die grundlegenden Themen der politischen Bildung bestimmt.
Eine Folge dieses politischen Ausgangspunktes war, dass die politische Bildung von vornherein in die innenpolitische Diskussion über die Werte und Strukturen der neuen demokratischen Staats- und Gesellschaftsverfassung involviert wurde bzw. diese mit veranlasste. In diesem Sinne war sie von Anfang an notwendigerweise parteilich und konnte keineswegs wie in anderen westlichen Demokratien selbstverständlich von einem breiten Konsens ausgehen. In dem Bemühen, ihre pädagogischen Maximen und Praktiken zu finden, geriet sie unausweichlich in die innenpolitischen Debatten, die sich nach dem Krieg etwa über bestimmte Aspekte der Verfassung, über das ihr entsprechende Menschenbild und über die politische Kultur angesichts der unmittelbar zurückliegenden NS-Vergangenheit folgerichtig ergaben. Eine solche Grundsatzfrage war z.B.: Ist unsere demokratische Verfassung lediglich als ein formelles Regelsystem anzusehen, das Mehrheiten und Minderheiten auf der Grundlage von Wahlen zustande bringen soll, um so Regierungen zu legitimieren? Oder müssen mit dem Begriff "Demokratie" inhaltliche Entscheidungen verbunden werden, die dieser Staats- und Gesellschaftsverfassung erst ihren spezifischen Sinn im Unterschied zu den totalitären politischen Systemen des Nationalsozialismus und des Stalinismus geben? Und: Sollen außer dem Staat nur die Parteien und Verbände demokratisch verfasst sein oder auch die Kirchen, Familien, Schulen? Hat Demokratie also auch etwas mit einer bestimmten Kultur des öffentlichen Umgangs zu tun, ist sie so etwas wie eine Lebensform?
Das etwa waren die beherrschenden Themen, als in einigen Bundesländern das Fach politische Bildung eingeführt wurde - 1946 in Berlin, Schleswig-Holstein und Hessen, 1948 in Württemberg-Hohenzollern, 1950 in Württemberg-Baden, 1953 in Bayern und Rheinland-Pfalz. Die Kultusministerkonferenz beschloss 1950, Politische Bildung an den Schulen einzurichten, überließ den einzelnen Ländern aber, ob dies in einem besonderen Fach erfolgen sollte.
In Westdeutschland spielten dabei wirtschaftliche Fragen im fachlichen Sinne keine besondere Rolle, auch die Wirtschaft wurde vielmehr unter politischen Gesichtspunkten gesehen, was sich etwa in den Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung zeigte. Abgesehen davon gingen die westlichen Alliierten nicht davon aus, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem zu den Ursachen der Naziverbrechen zu rechnen sei. In der SBZ wurde jedoch gerade darin der eigentliche Grund für die Machtergreifung der Nationalsozialisten und ihrer kriminellen Politik gesehen. Der Primat des ökonomischen Denkens im Rahmen des Marxismus-Leninismus führte trotz aller ideologischer Einschränkungen in der SBZ bzw. DDR zu einem durch das Schulwesen vermittelten breiten Verständnis ökonomischer Grundbegriffe in der Bevölkerung, wenn dies auch auf das eigene Wirtschaftssystem beschränkt blieb. Seit 1990 ist aber auch diese Tradition versiegt.
3. Die Moralisierung der Politik und der Wirtschaft
Wegen der NS-Verbrechen war eine bloß sachlich-nüchterne Fundierung der Politischen Bildung in der Bundesrepublik von Anfang an nicht möglich. Diejenigen Lehrer, die wie beschädigt auch immer die NS-Zeit überstanden hatten und nun nach einem geistigen Neuanfang suchten, flüchteten sich meist in eine bildungsbürgerliche Innerlichkeit - das hatten sie gelernt - und versuchten das moralische Desaster durch mehr oder weniger allgemeine normative Reflexionen darüber zu überwinden, wie man generell den Menschen vorm Bösen bewahren und zum Guten führen könne. Die Lehrer, die den neuen Unterricht erteilen sollten, waren dafür nicht ausgebildet und erledigten diese Aufgabe überwiegend eher unwillig, verunsichert oder im Rahmen der erwähnten traditionellen bildungsbürgerlichen Vorstellungen.
Hinzu kam, dass nach dem Kriege im Wesentlichen dieselben Eliten wieder die Führung in Politik, Wirtschaft und Kultur übernommen hatten, die auch während der Zeit des Nationalsozialismus maßgeblich waren. Alternativen dazu waren nicht vorhanden. Die Emigranten, die den Nationalsozialisten entkommen waren und nun zurückkehrten, waren nicht zahlreich genug und fanden in den etablierten Führungsschichten meist wenig Resonanz. Die alten Eliten hatten sich nun zwar überwiegend moralisch vom Nationalsozialismus distanziert und erkannten wohl auch das neue parlamentarische System zumindest formell an, aber ihre grundlegenden politisch-kulturellen Einstellungen und Haltungen blieben - was biografisch gesehen nicht verwundern kann - oft bewusst oder unbewusst noch jenen konservativen, autoritären, anti-westlichen und antipluralistischen Maximen verhaftet, die die nationalsozialistische Bewegung für ihre Zwecke hatte mobilisieren können. Dieser geistige Zusammenhang war damals kaum bewusst, er prägte aber gerade die Erziehungseinrichtungen nachhaltig und führte später zur massiven Konfrontation mit der studentischen Protestbewegung. Jedenfalls blieb das öffentliche Interesse an einer sachbezogenen Politischen Bildung verständlicherweise in den Fünfzigerjahren eher gering, nachdem die westlichen Alliierten sich von dieser Aufgabe zurückgezogen hatten. Es stieg erst wieder, als Ende der 50er Jahre antisemitische Schmierereien das Ansehen der Bundesrepublik und damit auch ihrer Führungseliten im Ausland beschädigten, und als eine massive Propagandakampagne der DDR gegenüber westdeutschen Jugendlichen einsetzte, die z.B. zu preiswerten Ferienlagern eingeladen und dort in ideologische Debatten verwickelt wurden, denen sie nicht gewachsen und auf die sie nicht vorbereitet wa-ren. Ähnlich erging es westdeutschen Studenten und Oberschülern bei entsprechenden Einladungen. Das Gespenst einer unkontrollierbaren kommunistischen Infiltration tauchte auf und sorgte für Aufregung bei der politischen Administration. Nun war der Boden dafür bereitet, die politische Bildung besser als vorher zu fördern, und davon profitierte nun neben der Schule auch die außerschulische Jugendbildung; in deren Einrichtungen wurde politische Bildung fortan verhältnismäßig großzügig vor allem durch den Bundesjugendplan finanziert.
Auf diesem Hintergrund bekam in den Fünfzigerjahren der moralische Impetus, der von den NS-Verbrechen ausging, auf dem Vehikel des "kalten Krieges" unter dem Stichwort des "Totalitarismus" einen neuen Akzent, der sich gegen den östlichen Kommunismus richtete - der auf diese Weise dem Nationalsozialismus moralisch-politisch gleichgestellt wurde. Diese moralische Umdefinition kam verständlicherweise den eben erwähnten alten - und wieder neuen - Eliten entgegen, die zum großen Teil selbst Grund genug hatten, ihre NS-Vergangenheit unter die Lupe zu nehmen, was ihnen weitgehend erspart blieb durch die Blickwendung nach Osten.
Die Auseinandersetzung mit den kommunistischen Staaten des Ostens, vor allem natürlich mit der DDR, forderte nun zu Systemvergleichen heraus. Dabei spielten die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme eine herausragende Rolle. Man konnte die DDR nicht ohne ihr Wirtschaftssystem verstehen, und dieses nicht, ohne über das eigene nicht wenigstens grundlegende Kenntnisse zu erwerben. Abgesehen davon jedoch, dass in den fünfziger und den frühen Sechzigerjahren vor allem die außerschulische Bildungsarbeit hier Vorreiter war, hat diese Auseinandersetzung allenfalls an den Gymnasien und Realschulen, kaum an den Hauptschulen stattgefunden. Zudem ging es dabei wiederum mehr um politisch-moralische, weniger um im fachlichen Sinne wirtschaftliche Aspekte: Im Mittelpunkt standen vielmehr Leitmotive wie "Freiheit" und "Demokratie", allenfalls sekundär wirtschaftliche Grundbegriffe wie "Markt", "Haushalt" oder "Investition".
Eine neue politisch-ideologische Qualität erreichte die Moralisierung der Politik durch den "antikapitalistischen" Affekt der Achtundsechziger und ihrer diversen Folgeorganisationen. Die Wirtschaft wurde nun zum innenpolitischen Hauptfeind, wirtschaftliche Einzelheiten oder spezifisches Fachwissen waren dabei nicht mehr von Belang, vielmehr genügte eine grundsätzliche ideologiekritische Positionierung. Dieser Zeitgeist hat die Einstellung der gegenwärtigen älteren Lehrergeneration zu wirtschaftlichen Themen und Problemen nachhaltig geprägt. Er hat auch schon die seinerzeitige pädagogische Diskussion um die Einführung der Arbeitslehre mit bestimmt und mit dazu beigetragen, dass dieses Fach sich in der Schulpraxis zunächst nur schwer entfalten konnte.
4. Die Subjektwendung der Schulpädagogik
Der moralistische Tenor hat nicht nur die öffentliche politische Diskussion in Westdeutschland nachhaltig bestimmt, sondern auch die politische Bildung. Sie hat dieser eine "erzieherische" Attitüde angeheftet, die der Aufklärung, die Bildung eigentlich erstreben soll, von Anfang an immer wieder im Wege stand. Die Schüler sollen demnach z.B. nicht nur etwas erkennen und Einsichten gewinnen, sondern darüber hinaus auch ein erwünschtes Verhalten daraus erwerben, z.B. bestimmte politische Gruppen oder Ziele für moralisch verwerflich halten und andere für gut befinden. Sie sollen nicht nur begreifen, warum die Nazis an die Macht gekommen sind, sondern diese Erkenntnis auch mit dem gebührenden Widerwillen gewinnen, so dass sie zeitlebens einen großen Bogen um Neonazis machen oder wen sie dafür halten (sollen). Einer Aufklärung ohne erzieherische Direktion wird immer noch zutiefst misstraut, weil ihr keine eigenständige pädagogische Wirkung zugestanden wird, so dass nicht wenige Schüler die politische Bildung in den Schulen als ein "Laberfach" erleben.
Zudem vollzog die Schulpädagogik schon Ende der siebziger und verstärkt in den Achtzigerjahren eine subjektivistische Wende; der Blick richtete sich nun auf die subjektive Befindlichkeit des Kindes, Politik wurde verstanden als Rohmaterial für das Drama der jeweiligen Subjektivität. Hatten die Neomarxisten die politischen Institutionen immerhin noch anerkannt - wenn auch mit dem Ziel, sie abzuschaffen oder umzukrempeln - so wurden diese nun intimisiert, nämlich auf unmittelbare menschliche Beziehungen reduziert. Hatten die Neomarxisten mit dem Klassenbegriff das gesellschaftlich Böse immerhin dingfest zu machen versucht, so verschwand es nun ins ungreifbar Allgemeine. "Irgendwie" liege es immer auch an der Gesellschaft, wenn Kinder und Jugendliche Probleme hätten und machten.
Der politischen Bildung ist im Verlaufe dieser Entwicklung das Politische als etwas Objektives, in das durch Lernen einzudringen ist, weitgehend abhanden gekommen. Eine Kultivierung des Ich machte sich breit, ins Zentrum der didaktisch-methodischen Reflexion drängte sich die Frage, was ein politisches Thema mit diesem Ich zu tun habe; die gegenwärtig immer wieder meist zustimmend zitierte Politikverdrossenheit der Jugend, die in der Regel vor allem auf sachlicher Ignoranz beruht, ist eine Konsequenz dieser Tendenz. Die menschlichen Beziehungen, gerade auch zwischen Lehrern und Schülern, wurden wichtiger als die Inhalte; menschliche Nähe wurde zum Kult und Selbstzweck. Die objektiven, nämlich außersubjektiven Strukturen von Gesellschaft und Politik verflüchtigten sich und alles Kognitive wurde entwertet oder zumindest als nachrangig angesehen. In dieser Form ist die politische Bildung durch fast beliebige andere Fächer substituierbar geworden, haben auch spezifische wirtschaftliche Kenntnisse keinen pädagogischen Ort mehr.
5. Fachliche Qualifikation der Lehrer
Lehrer können nur unterrichten, was sie selbst verstehen. Die eben beschriebene Verlagerung von der inhaltlichen zur kommunikativen Kompetenz wertet auch deren fachliche Qualifikation ab. Diese war von Anfang an ein zentrales Problem für die politische Bildung. Nach dem Kriege fehlten die von den Nazis weitgehend verdrängten Politik- und Sozialwissenschaften, die der politischen Bildung einen realistischen wissenschaftsorientierten Bezug und damit eine eigentümliche fachliche Professionalität hätten verschaffen können; deren emigrierte Vertreter kamen erst zögernd im Laufe der Fünfzigerjahre zurück. Sie vor allem schufen dann die wissenschaftlichen Grundlagen für einen an den politisch-gesellschaftlichen Realitäten orientierten politischen Unterricht in den Schulen, der sich vor allem an den Gymnasien im Laufe der Sechzigerjahre langsam durchzusetzen begann. Publizistischer Mittelpunkt der darum kreisenden Debatten war die Zeitschrift "Gesellschaft-Staat-Erziehung", deren grundlegende Beiträge zur politischen Bildung in den Schulen in der Regel ebenso praxisnah wie theoretisch durchdacht waren; es lohnt sich auch heute noch, sie zu studieren.
Die sachbezogenen Bezugswissenschaften Soziologie und Politikwissenschaft konnten aber das Terrain der politischen Bildung keineswegs kampflos übernehmen, weil im überlieferten deutschen Bildungsdenken ein hinreichendes Verständnis für soziale und politische Strukturen gar nicht vorgesehen war. Mit dem Perspektivenwechsel auf die soziopolitischen Realitäten verband sich also zwangsläufig eine kritische Distanz zum Bildungsverständnis der bisherigen politischen Bildung, wie sich überhaupt die Erziehungswissenschaft hinsichtlich ihres Weltverständnisses wie ihrer anthropologischen Grundannahmen einer grundsätzlichen Kritik durch diese Wissenschaften ausgesetzt sah; ich erinnere nur an ihre einschlägigen Auseinandersetzungen mit Helmut Schelsky. Volkswirtschaft oder Betriebswirtschaft spielten als mögliche Bezugswissenshaften bei der Konstituierung des Schulfaches politische Bildung keine Rolle, weshalb wirtschaftliche Themen jedenfalls in der Lehrerbildung auch nur marginal blieben.
Die weitere Entwicklung lässt sich vereinfachend auf den Nenner bringen, dass die Erziehungswissenschaft - vor allem in Gestalt der allgemeinen Didaktik und der Fachdidaktik - sich gegen die beiden Realwissenschaften wieder durchsetzte und zum wichtigsten Legitimator und Transporteur der moralisierenden und subjektorientierten Wende geworden ist. Sie expandierte zudem Anfang der Siebzigerjahre - im Gefolge der Bildungsreformbewegung - an den Hochschulen und Universitäten, wovon nicht zuletzt auch die Fachdidaktiken profitierten. Nun gab es an den Universitäten neben der Professur für Politikwissenschaft eine solche für Didaktik der Politik, an den Pädagogischen Hochschulen in der Regel kombiniert und in Per-sonalunion als "Politik und ihre Didaktik" oder in ähnlichen Formulierungen. Insbesondere die Politikwissenschaft übernahm die fachliche und didaktische Ausbildung der Lehrer für das neue Fach. Aber obwohl es inzwischen wenn auch unter verschiedenen Bezeichnungen - und meistens mit anderen Fächern zu einem "Lernbereich" zusammengelegt - an den Schulen fest etabliert ist, wird ein großer Teil des Unterrichts vor allem in den Haupt- und Realschulen immer noch fachfremd erteilt. In diesen Fällen unterrichtet ein Lehrer das, was er auch zu verstehen glaubt, oder er agiert nur noch als Moderator für das, was die Schüler sich selbst ausdenken. Auf einem solchen Hintergrund ergäbe die Forderung nach der Vermittlung wirtschaftlicher Grundkenntnisse keinen Sinn.
6. Didaktische Überanstrengung
Die Fachdidaktiken als Vermittler zwischen Wissenschaft und Schule entstanden als eigenständige Disziplinen überhaupt erst in den fünfziger und Sechzigerjahren. An den Volksschulen, die erst seit 1964 in Hauptschulen umgewandelt wurden, gab es keine Fächer im heutigen Sinne. Im Unterschied zu den seit langem fest etablierten wissenschaftlichen Disziplinen konnten also die Fachdidaktiker auf keine vergleichbare akademische Tradition zurückblicken. Eine Folge davon war, dass in vielen Fällen die Didaktik, vor allem wenn sie sich gegenüber der Bezugswissenschaft verselbstständigte, ihre Profilierung dadurch betrieb, dass sie die Pädagogisierung der Fächer forcierte und somit auch zum bedeutsamen Träger des erwähnten Wechsels von der fachbezogenen zur kommunikativen Kompetenz avancierte.
Hinzu kam gerade für die Politische Bildung ein weiteres Problem. Die ersten didaktisch-methodischen Entwürfe Anfang der Sechzigerjahre, die sich auf die politischen und sozialen Wissenschaften stützten, wurden von Praktikern aus der Schule, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung vorgelegt, also von solchen Personen, die selbst politischen Unterricht erteilten und die Probleme, auf die sie dabei stießen, den anderen Kollegen in gleicher Lage mit dem Ziel präsentierten wollten, von ihnen Rückmeldungen zur Verbesserung ihrer eigenen Praxis zu erhalten. Hatten also zunächst die Didaktiker als Praktiker ihre Texte für andere Praktiker geschrieben, so mussten sie nun als Hochschulangehörige Rücksicht nehmen auf die wissenschaftlichen Erwartungen, die dem neuen Fach entgegen traten. Immer weniger für die pädagogische Praxis und immer mehr für die Akzeptanz an den Hochschulen wurden nun didaktische Konzepte entworfen. Diese Tendenz führte nicht nur zu einer Überproduktion didakti-scher Entwürfe und Gegenentwürfe, sondern auch zu immer praxisferneren Konstruktionen. Hochschullehrer präsentieren ja ihr Fach und damit auch sich selbst nicht zuletzt dadurch, dass sie für andere Professoren darüber schreiben. Hinzu kommt die Notwendigkeit für den wissenschaftlichen Nachwuchs, sich durch einschlägige Veröffentlichungen zu profilieren. Wenn nun aber der Gegenstand - Didaktik - dafür nur einen begrenzten Stoff hergibt, muss er eben immer weiter ausgedehnt werden, z.B. in historische, empirische, soziologische, psychologische bzw. psychoanalytische Dimensionen oder sich gar auf modische gesellschaftliche Trends berufen. Anstatt die pädagogische Praxis als Handlungszusammenhang aufzuklären, wurden ihr überdimensionierte Postulate gegenübergestellt. Diese Tendenz ist auch in den gegenwärtig vorgetragenen fachdidaktischen Entwürfen und Begründungen für ein Fach "Wirtschaft" zu erkennen, wie sie im Reader von sowi-online vorgestellt wurden; schließlich kann es sich dabei im besten Falle um ein bis zwei Stunden Unterricht pro Woche handeln. Diese Texte sind offensichtlich nicht an Lehrer, die das Fach unterrichten sollen, sondern an universitäre Fachkollegen gerichtet, oder sie sollen mit dem Schwergewicht der vorgebrachten Argumentationen der Politik und der Öffentlichkeit imponieren.
Insofern die Fachdidaktik sich mit der einseitig schülerzentrierten neuen Reformpädagogik in den Schulen verbündet hat, hat sie der politischen Bildung eher geschadet. In den tonangebenden schulpädagogischen Konzepten, die die Schulfächer am liebsten abschaffen wollen, findet weder das Fach Politische Bildung noch eines, das sich besonders auf wirtschaftliche Themen konzentrieren würde, eine nennenswerte Unterstützung. Das Politische verschwindet hier in allgemeinen, von möglichst allen Fächern zu bearbeitenden "Lerndimensionen", "Lernbereichen" und "Schlüsselproblemen".
7. Fazit: Chancen einer auch ökonomisch fundierten Allgemeinbildung
Die hier nur kurz skizzierten Aspekte der Entwicklung der politischen Bildung sind einer Vertiefung der ökonomischen Bildung im Rahmen der Allgemeinbildung nicht gerade förderlich. Dass ein eigenständiges Schulfach keine Patentlösung ist, zeigt das Schicksal der politischen Bildung und auch der Arbeitslehre. Vielmehr kommt es darauf an, was dort eigentlich unterrichtet wird. Wenn es Ziel des allgemein bildenden schulischen Unterrichts ist, die Partizipationschancen der Schüler an den gesellschaftlichen Möglichkeiten zu optimieren, dann gehören wirtschaftliche Grundkenntnisse zweifellos dazu. Nach meinem Eindruck gibt es im Augenblick vor allem zwei pragmatische Möglichkeiten, in dieser Frage zügig voran zu kommen:
Weil Lehrer nur lehren können, was sie selbst auch wissen, und weil sie im Allgemeinen auch lehren, wessen sie sich in der Sache sicher sind, ist eine spezifische Lehrerfortbildung zu diesem Komplex angesagt, die zumindest zunächst einmal auf die fachdidaktische Überanstrengung verzichtet und möglichst von den einschlägigen Einrichtungen der Wirtschaft selbst nach ihren eigenen Einschätzungen angeboten wird. Es kommt zunächst einmal darauf an, die Lehrer fachlich weiterzubilden, wie sie das im Unterricht ihres jeweiligen Faches umsetzen können, werden sie selbst herausfinden, wenn sie über genügend Unterrichtserfahrungen verfügen.
Partizipation heißt in diesem Falle, sich am öffentlichen Diskurs über wirtschaftliche Fragen beteiligen zu können. Der findet in den Medien statt. Folglich ließe sich zweitens eine didaktische Struktur des Unterrichts dadurch gewinnen, dass man ermittelt, was man zum Verständnis einschlägiger Texte oder anderer medialer Darstellungsformen wissen und deshalb lernen muss. Das ist nicht wenig, selbst wenn man sich zunächst auf relativ einfach strukturierte Beiträge etwa in der Boulevardpresse beschränken würde. Da solche Beiträge sich auf aktuell bedeutsame Probleme beziehen und nicht für ein Schulbuch verfasst und auch nicht von Pädagogen erfunden wurden, dürfte die Arbeit daran auch eine gewisse Motivation auslösen. Aus derartigen Sachanalysen ließen sich gewiss grundlegende Verständnismodelle herausbilden, die - auch für die Schüler einsichtig - relativ abstrakt und systematisch gelernt werden müssen.