Studium als Praktikum? Illusionen und Aussichten der Lehrerbildung
"Lehrerbildung" ist eine periodische Krisenerscheinung, die Kontinuität verrät, als Krise wie als Erscheinung. (...)
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Studium als "Praxisbezug" | |
Studium ohne "Praxisbezug" | |
Mittlere Linien | |
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Was also gibt Veranlassung, die Labilität und Unschärfe der Lehrerbildung sei veränderbar, ihre Effektprobleme seien lösbar und die Diskrepanzen könnten überwunden werden? Die Diskussion wiederholt oft nur Erwartungen, die schon mehrfach gescheitert sind, während immer Elan genug zu bestehen scheint, einen Neuanfang zu versuchen. Das ist aufgrund der mentalen Beschaffenheit des Feldes schwierig bis unmöglich. "Lehrerbildung" nämlich bezieht traditionell ihre Effekterwartungen
- auf Personen, nicht auf Standards;
- auf Gesinnung, nicht auf Wissen;
- auf Dogmen, nicht auf revisionsfähige Theorien;
- auf engagierte Sprache, nicht auf distanzierte Analyse;
- auf Methodenideale, nicht auf fallible Entwicklungen.
Diese Dualismen sind nur schwach karikierend. Untersucht man die Inhalte der Ausbildungsprogramme (Criblez u.a. 1996), dann wird sehr schnell deutlich, wie stark diese Erwartungen sind und wie selektiv sie wirken, quer zu den Typen oder Strukturen der Ausbildung. Ihr gemeinsames Band ist das "Pädagogische", mit dem die Präferenz für unmittelbareBeziehungen und Austauschprozesse festgelegt wird. Das Kind ist in dieser Einstellung weit wichtiger als der Schüler, das Umgangsideal ist Partnerschaft und die Verhaltensmodi sind Verstehen und Fördern. Schwache Themen sind die Ökonomie der Bildung, die Effizienz von Schulen oder die Dilemmata des Unterrichts. Sie treten zurück oder werden überlagert durch die Zielsprache des "pädagogisch Guten", das möglichst vom ersten Praktikum an erfahren werden soll.
Das Angebot spiegelt sich in den Abnehmern. Studierende entscheiden sich für die Ausbildung wesentlich aufgrund von Visionen ihres Engagements, also mit Projektionen von sich als "guten Lehrern" oder "guten Lehrerinnen". Damit verbunden ist ein Interesse für die praktische Seite des Unterrichtens. Studierende wollen wissen, what works (Wild-Naef 1999), ihr Basisproblem ist die Handlungsunsicherheit von Novizen in einem Feld, das mit der Idealisierung die Anfangsschwächen steigert. Geht man auf diese Erwartung ein und verhält sich kundengerecht, dann entstehen die folgenden Dilemmata:
- "What works" rechtfertigt kein universitäres Studium. Nur ein universitäres Studium sichert den professionellen status quo und so die Besoldungsstufe.
- Jede Lehrerbildung - Seminar, Hochschule, Universität - hat Transferlücken. Aber die Zielerwartung ist die des berufsfähigen Lehrers.
- "Berufsfähigkeit" als Ergebnis der Ausbildung ist individuelle Verknüpfung. Die Ausbildung selbst ist definiert als objektive Vorbereitung.
Niemand wird einfach mit seiner Persönlichkeit "Lehrer" oder "Lehrerin", aber die Ausbildung, wo sie als Lehrerbildung unterscheidbar ist, präferiert Persönlichkeitswerte. Die Effekte der Ausbildung beziehen sich nicht oder nur schwach auf Standards der beruflichen Praxis, doch genau die definieren den Erfolg von Schule und Unterricht (Oser 1999). "Guter Unterricht" ist ein pauschales Ideal der Ausbildung, wiesich Lehrkräfte entwickeln müssen, damit sie tatsächlich guten Unterricht geben, ist weitgehend ihre Sache. Die Berufsbiographie- Lernen unter Ernstfallbedingungen - entscheidet über die Qualität einer Lehrkraft, und zwar gleichermaßen über Steigerung und Schwankung. Niemand erfährt nach einem burned-out-Seminar auch gleich das Symptom, während mit dem Symptom ein Seminarbesuch vermutlich nicht sehr naheliegt.
Auf diese Situation kann man verschieden reagieren. Ich habe zwei Extreme und eine mittlere Linie. Der "Praxisbezug" kann so verstärkt werden, dass Studium von Praktikum nicht zu unterscheiden ist. Mit dieser Variante werde ich beginnen, "Lehrerbildung" als unaufhörliche Praxisreflexion (1). Eine zweite Variante verstärkt das andere Extrem, ein Studium unabhängig von Praxis oder Verwendbarkeit (2). Die mittlere Linie im letzten Teil des Vortrages ist schwierig, sie verlangt, obwohl ein Kompromiss, ziemlich viel Radikalität und Verzicht auf gewohnte Strukturen, so dass sie bestimmte Wahrscheinlichkeiten gegen sich hat. Aber Reformen wären keine, die einfach Gewohnheiten bestätigen (3).
Studium als "Praxisbezug"
Eine Grundüberzeugung engagierter Lehrerbildung geht dahin, dass es nicht genug "Praxisbezug" geben könne, sondern immer nur zuwenig. Die Abschätzung erfolgt ohne Maßeinheit, aber sie hat eine Intuition für sich, die schwer zu widerlegen ist: Die Lehrerbildung hat ihr Ziel in der Berufsfertigkeit von Lehrkräften, also muss der Beruf und so die Praxis für sie maßgebend sein. Berufserwartungen bilden den Mittelpunkt der Ausbildung. Diese Intuition wird mit der Formel "Praxisbezug" kommuniziert. Sie ist allgegenwärtig und überzeugt mit vager Dramatik, und dies in allen Phasen, aber wirkt auch nur, weil sie nicht definiert ist. Sie prägt den Erwartungskern, kann aber sehr verschiedenes heißen, nämlich mindestens das folgende:
- unmittelbare Verwendbarkeit von Ausbildungswissen oder Nutzen für den nächsten Tag,
- Verwendbarkeit nach der Ausbildung,
- Glaubwürdigkeit für die Akzeptanz von Wissen,
- Filter für die Auswahl von Ausbildungsangeboten und
- Test für die Gültigkeit von Theorie.
"Praxisbezug" als Erwartung ist eine riskante Größe, die leicht behauptet, aber nur schwer unter Beweis gestellt werden kann. Auch das gilt für alle Phasen, ein Kurs in der Lehrerfort- und -weiterbildung ist nicht deswegen im Vorteil, weil "Praktiker" anwesend sind. Eher steigertsich das Transferproblem, weil das Ausbildungsprogramm auf unmittelbare Verwendbarkeit eingestellt ist oder sein muss. Untersuchungen zur Ausbildung von Schulleitern zeigen etwa, dass auch starke Maßnahmen zur Sicherung des "Praxisbezuges" schwache oder flüchtige Effekte haben können, weil die alltägliche Praxis eine Ereignisdichte und Kontingenz hat, die von keiner Ausbildung antizipiert werden (Fischli-Hof/Wiederkehr 1999).
"Praxisbezug" kann als Norm kommuniziert werden und ist dabei auf merkwürdige Weise unstrittig. Aber Seminare oder Kurse, die "Praxisbezug" behaupten, sind für diese Behauptung nicht nachweispflichtig. Sie sorgen maximal für Kurszufriedenheit, von der nicht auf Lerntransfer geschlossen werden kann. Dieser Transfer bleibt unkontrolliert, während der Praxisbezug des Kurses nicht intensiv genug sein kann. Aber was in der Ausbildungals "Praxis" vorgestellt wird, ist fast immer die Idealisierungder Realität. "Praxis" ist Modell, nicht Alltag, weil "Ausbildung" verbessernsoll, also zwischen dem status quo und einem künftigen Zustand unterscheiden muss. Eigentümlich für Lehrerbildung ist, dass der status quo - immerhin ja wohl bewährte Verfahren und erprobte Routinen - nicht einfach bestätigt werden kann, was Modelldenken auch dann nahelegt, wenn unmittelbar Praxis angestrebt wird. Dabei steht nie flüchtiges Erleben vor Augen, nie gestresste Zeit, Missverhältnisse zwischen Aufwand und Ertrag, unvorhersehbare Effekte, dichte und kaum beherrschbare Ereignisfolgen, die Schwierigkeit, die Hauptsache zu definieren oder das Problem der ständig neuen oder der ständig gleichbleibenden Prioritäten. Wenn das Alltagserfahrungen der Berufsbiographie sind (Mueller 1998), dann kann die fortlaufende Rede vom "Praxisbezug" leicht wie ein Bumerang wirken. Sie kehrt dorthin zurück, wo sie in die Welt gesetzt wurde.
Die Ausbildung von Novizen übersetzt "Praxisbezug" in Praktikum. "Praktika" sind im Studium die Erfahrungssequenzen, mit denen auf Feldrealität verwiesen werden soll. Auch hier gilt im Prinzip, dass es nicht genuggeben kann, ohne zugleich eine Sättigungsgrenze kommunizieren zu müssen. In ihrer Idealform werden Praktika vorbereitet, erlebt und nachbereitet,ohne anders als individuell genutzt zu werden. Sie sind allenfalls schwach am Themenaufkommen der Ausbildung beteiligt, beeinflussen wenn, dann Studienbiographien, und stellen keinen Eignungsselektor dar, weil Defizite, wenn sie überhaupt festgestellt werden, immer auf die nachfolgenden Ausbildungserfahrungen verwiesen werden können. Anfänger haben einen natürlichen Defizitbonus, aber die Ausbildung reagiert darauf nie mit definitivem Ausschluss, so dass "Eignung" wiederum weitgehend Selbstdefinition ist. Praktika wenigstens geben ständig "erste Einblicke" und nicht tendenzielle Gewissheit, ob oder ob nichtTalent und Anforderung übereinstimmen. Beide, Talent und Anforderung, sind während der Ausbildung unklare Größen.
Aus den Praktikumserfahrungen erwachsen nicht zwingend auch die weiterführenden Themen, weil die Angebote nicht aufeinander bezogen sind. Die Verknüpfung ist zufällig oder folgt einer individuell definierten Notwendigkeit. Wer Disziplinprobleme im Praktikum erlebt, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Seminar über "Disziplinprobleme" besuchen, vermutlich ohne dabei zu lernen, wie später in der eigenen Ernstfallsituation diese Probleme gelöst werden können. Nicht nur ist diese Situation unbekannt, auch sind die Lösungen des Seminars fast immer Ideallösungen, die normativ fixiert sind. Die Lösungen der Praxis reagieren auf knappe Zeiten, dichte Ereignisse und den Vorrang der Ordnung, die "dialogisches Verständnis" - vermutlich der Rat des Seminars - oft nur strapazieren kann.
Generell steuern vermutete Notwendigkeiten die Studienbiographien. Weil "Praxis" fast immer mit Unterricht gleichgesetzt wird, also keineswegs mit Schule, ihrem Rahmen und ihrem Umfeld, besteht gegenüber Methodenkursen, Seminaren über Didaktik oder Vorlesungen in Lernpsychologieeine weit höhere Nachfrage als gegenüber - zum Beispiel - Themen der Bildungsökonomie oder der Reflexionsgeschichte des "Theorie:Praxis-Problems". Die Formel "Praxisbezug" bezieht sich auf die Erwartung summativer Erträge, die nach der Ausbildung besonders dringlich erscheinen und so als Ausrüstungsnotwendigkeit angesehen werden. Wer nicht scheitern will, muss Methoden beherrschen, und wer Sicherheit gewinnen will, muss die Didaktik kennen. Aber es sind Nachhaltigkeitsvermutungen, die einen Test auf den Ernstfall nicht bestehen müssen.
Das hängt auch mit der Paradoxie der Überwachung zusammen: Lehrerbildung ist dort, wo sie "praktisch" werden will, kontrollierte Simulation, mit der sich weit schwächere Effekte verbinden als mit dem unkontrollierten Ernstfall, der aber nicht Grundeinheit der Ausbildung sein kann, weil die Ausbildung ja auf den Ernstfall vorbereitenmuss, und dies möglichst gutartig. Sie muss daher idealisieren, also "Vorbereitung" auf den besten und mindestens nicht auf den schlechtestenFall beziehen. Die Ausbildung präferiert Gelingen und nicht Scheitern, anders könnte sie weder Interessen binden noch Nachfrage erzeugen. Wer ein Studium Lehrerbildung absolviert, geht davon aus, dass die Ausbildungnotwendige und zureichende Kompetenzen für den späteren Beruf erzeugt, mit denen sich am Ende eine umfassende Größe "Berufsfertigkeit" verbinden lässt. Aber offenbar ist Berufsarbeit zugleich Ausbildung, also entstehen die stärksten berufsbiographischen Effekte in der Tätigkeit selbst, dem fortlaufenden Problemlösen in einem stark gestressten Alltag, der sich nur dann ertragreich simulieren lässt, wenn verlässliche Erfahrungswerte vorhanden sind.
Die Rede vom "Praxisbezug" ist auf diese Misslichkeit nicht eingestellt, sie erweckt schwer einlösbare Transfererwartungen, die graduierte Enttäuschungen hervorbringen. Die Formel lässt sich an alles attachieren, was für den späteren Beruf wünschbar erscheint, ohne dass Novizen die Angebotsflut prüfen könnten oder für ihren Bedarf verlässliche Prioritäten bestünden. Die Ausbildung muss ständig auf Modernisierung reagieren,also Trends etwa der Motivationspsychologie, der Kommunikationstheorie, der Methodik oder der Lernpragmatik aufnehmen, weil bestimmte Themen und Aufgaben, die sich damit mehr oder weniger leicht verbinden lassen, unabdingbar erscheinen. Unterricht soll Lernen beeinflussen, die Beeinflussung folgt gewissen Effekterwartungen, also sind Methoden vorrangig, ohne dabei Postulat und Wirklichkeit sehr gut unterscheiden zu können. Oft regiert Slogankommunikation das Feld, und wieder übertreibe ich nur leicht: Der "unverschulte Kopf" kann zur attraktiven Paradoxie des Unterrichts werden, "emotionale Intelligenz" kann die alte Lehre des Gemüts wiederbeleben, "multiple Intelligenz" kann zur Schulkritik verwendet werden. "Schlüsselqualifikationen" können auf überraschend leichte Weise Bildung ersetzen, die "Gehirnhälften" können als das Grundgeheimnis des Unterrichts erscheinen, etc.
Die Slogans versprechen besondere Wirksamkeit, anders wären sie keine Ausbildungsfavoriten. Das gilt natürlich auch für angestammten Themen, also "Didaktik", "Bildung der Lehrerpersönlichkeit" oder "das dialogische Prinzip". Wer aber die bildungstheoretische von der lerntheoretischen Didaktik unterscheiden kann, mag Prüfungen bestehen können, aber hat keinen Gewinn für die spätere Praxis, weil diese Unterscheidung nicht anschlussfähig ist, und zwar weder pragmatisch noch reflexiv. "Praxisbezug" ist die Behauptung von Anschlussfähigkeit, aber wenn das ein ernstes Kriterium ein soll, dann sind vermutlich nennenswerte Teile des Ausbildungswissens folgenlos. Das ist seinerseits folgenlos, wenn ein Seminar "Praxisbezug" verspricht, aber nicht einhält, müssen keine negativen Folgen in Kauf genommen werden.
Das Ausbildungswissen, anders gesagt, kann sich hinter der Formel "Praxisbezug" verstecken, weil die Verwendbarkeit individualisiert wird. Zwischen Ausbildungs-und Verwendungswissen muss nicht ernsthaft unterschieden werden, so dass die unvermeidlichen Diskrepanzen verdeckt bleiben oder sich der Reflexion entziehen. Den Rest Schutz besorgt das Kollegialitätsideal. Wissen ist zudem nicht gewichtet, die Lehrerbildung in ihrer heutigen Verfassung bietet von statistischer Beschreibung bis poetischer Textualisierung alles an, was zwischen "Mensch" und "Welt" - die Formel für Bildung nach Humboldt - relevant erscheinen kann. Entsprechend ist "Praxisbezug" eine vielfach dehnbare Erwartung, die sich auf Konstruktionen wie "Maria Montessori" ebenso beziehen kann wie auf die empirische Detaillierung von Lernen oder den Zeitpfeil im "Neurolinguistischen Programmieren". Das Wissen wird auf vermuteten Verwendungsnutzen, nicht auf tatsächliche Verwendungen hin gefiltert. (...)
Wenn also "Praxisbezug" eine rhetorische Formel ist, die sich nicht in dem Sinne einlösen lässt, wie sie verwendet wird, was spricht dann dagegen, eine Ausbildung ohne "Praxisbezug" anzustreben? Sie könnte die genannten Dilemmata vermeiden und müsste nicht ständig behaupten, was sie unmöglich einlösen kann. Diese Frage wird mich in einem zweiten Schritt beschäftigen, wiederum so, dass mit Zuspitzungen möglichst viele Extreme sichtbar werden. Schliesslich will meine "mittlere Linie" aufgebaut sein.
Studium ohne "Praxisbezug"
Natürlich ist es unmittelbar unsinnig, eine Berufsausbildung ohne Bezug auf den Beruf durchzuführen. Man kann sich aber im Blick auf die Qualifizierung von Lehrkräften ein Studium von wissenschaftlichen Disziplinen vorstellen, das unabhängig von Verwendungsfragen erfolgt. Die Vorbereitung auf den Beruf erfolgt anschließend, mit dezidiert praktischer Zielsetzung und nicht mehr als nomineller Anschlussfähigkeit. Was vorausgesetzt wird, sind wissenschaftliche Diplome, die keine Berufsfertigkeit bescheinigen, sondern lediglich Fachkompetenz. Man würde dann nicht Erziehungswissenschaft studieren in der Erwartung, auf den Lehrberuf vorbereitet zu werden, sondern ein praktisches Seminar besuchen, das unabhängig von Universität und Wissenschaft zeigt, what works.
(...) Mein Szenario ist nicht Erfindung, sondern war historische Praxis, die auf Trennung setzte und für die Anschlussfähigkeit dezidiert kein Problem war. Erst der Ausbau der Erziehungswissenschaft hat die Idee der wissenschaftlichen Lehrerbildung nahegelegt, wobei Lösungen gefunden wurden, die Anschlussfähigkeit und Trennung gleichermaßenfavorisierten. Die Phasen der Lehrerbildung in Deutschland haben faktisch nichts miteinander zu tun, aber sollen nacheinander auf den Beruf vorbereiten, sind also auf Anschlüsse hin konzipiert, die allerdings weder gesucht noch kontrolliert werden. Faktisch existieren verschiedene Welten, die sich bestenfalls ignorieren, Üblicherweise aber gegenseitig entwerten und so für fatale Effektschwächen sorgen. (...)
Die heutige Diskussion betont im Prinzip drei Varianten, die alle auf eine übergewichtige und ungünstig organisierte Erstausbildung reagieren.
- Trennung zwischen Universitätsstudium und praktischer Vorbereitung (Diplom-Modell).
- Studium unter Gesichtspunkten der Anwendungspragmatik (Fachhochschul-Modell).
- Reduktion der Erstausbildung auf ein Training-on-the-Job (Seminarmodell).
Die Erziehungswissenschaft könnte sich im ersten Fall zur Berufswissenschaft der Lehrer entwickeln, ohne auf unangenehme Ausbildungsfragen reagieren zu müssen. Im zweiten Fall müsste sie an Fachhochschulen zeigen, dass die Rhetorik des "Praxisbezuges" einen realistischen Kern hat. Im dritten Fall würde direkt gezeigt, what works und könnte auf die paradoxen Beziehungen zwischen Ausbildungs- und Verwendungswissenverzichtet werden.
Allerdings wiederholt sich bei jeder dieser Lösungen das Problemkarussell. Das Diplom-Modell verzichtet auf ein Berufsstudium und soll aber auf einen Beruf vorbereiten. Die Wissensverknüpfungen sind nur getrennt, aber nicht entparadoxiert. Wer also ein Diplom in Erziehungswissenschaft - oder irgendeinDiplom - macht, muss nach der Verwendbarkeit fragen, wenn das letztendliche Ziel der Lehrerberuf ist. Die Idee der praktischen Vorbereitung löst kein Theorieproblem, während keine Vorbereitung ohne Reflexionswissen auskommt, das kritische Kontrollen verlangt und nicht lediglich "Praxisbezug". Ein enges Training-on-the-Job, das zeigen englische Erfahrungen, produziert nicht weniger Ungereimtheiten und Defizite als die wissenschaftliche Lehrerbildung. Und auch die Fachhochschullösung hätte keine anderen Literaturbestände oder Reflexionsformen zur Verfügung als die universitären Ausbildungen, nur wäre der Forschungsvorteil verspielt. Letztlich stehen alle diese Lösungen unter dem Bann des "Praxisbezuges", also unter Verwendbarkeitserwartungen, die sich nicht auf die Lösungdes Problems beziehen, sondern selbst das Problem darstellen.
Auf der anderen Seite sind offenbar die hohen Erwartungen an die wissenschaftlicheLehrerbildung nicht oder nicht gut genug erfüllt worden. Ein Grund dafür ist die nahezu vollständige Konzentration dieser Erwartungen auf die Grundausbildung, und hier wiederum auf die erste Phase, ohne dabei auf die Empfindlichkeiten der Absolventen und Abnehmer zu achten. "Wissenschaftliche Lehrerbildung" war Programm und als Programm überzeugend. In der Praxis ist offenbar der Verwendungsnutzen von wissenschaftlicher Literatur gering, sind Zugänge zur Forschung die Ausnahme, werden Abstraktionen entweder abgewehrt oder abgenutzt und kann also die Formel "wissenschaftlich" nur mühsam auf real existierende Lehrkräfte bezogen werden. Ihr Wissen ist, wie Joseph Schwab (1978; vgl. Messmer 1999) dargelegt hat, eklektisch, also mischt Ausbildungswissen mit Ratgeberliteratur, das Wissen der Lehrmittel mit dem der Handreichungen, Themen der Erziehungswissenschaft mit denen der Medien, usw. Nützlich sind eklektische Passungen, die auf den Tag reagieren können, ohne vom Sinn einzelner Theorien überzeugt sein zu müssen.
Auf diese Mischformen bereitet keine Ausbildung vor, insbesondere nicht auf die damit verbundenen Reflexionsverluste, die mit einem überzeugenden Programm wissenschaftlicher Lehrerbildung vielleicht vermeidbar wären. Das Problem lässt sich dort zeigen, wo zwar Theorie vehement abgewehrt wird, aber gleichzeitig vorhanden und wirksam ist, nämlich bei den Themen und Kausalitäten der Lehrerreflexion (Keller 1998). Hier sieht man, wie stark Erziehungswissenschaft steuert, auch wenn die Grundlagen schwach sind oder Wiederholungen dominieren. Aber keines der großen Themen, die die Problemkerne definieren, kommt einfach aus der praktischen Erfahrung zustande. Das Thema "Koedukation" ist mit Daten und Behauptungen der Erziehungswissenschaft plaziert worden, ähnlich die Themen "Gewalt an den Schulen", "multikulturelle Verschulung", "Öffnung der Schulen" oder "Effizienzprobleme des Unterrichts". Diese Themen werden dannakzeptiert, wenn sie sich mit Konflikten oder Wünschen verbinden lassen, Innovationen oder Problemlösungen versprechen und unterstützende Daten bereithalten. Außerdem sind oft bildungspolitische Entwicklungen betroffen, die sich mehr oder weniger direkt auf Schulen beziehen lassen. "Multikulturelle Erziehung" ist ein Reflexionsthema, ein gravierendes Problem und ein Politikum, das Aufmerksamkeit bindet und Lösungsdruck erzeugt, ohne dass dabei sehr viel passieren muss (Allemann-Ghionda 1998). Die Tatsache, dass Reflexion erzeugt und Einsicht gesteigert wird, muss nicht heißen, dass politische Lösungen erreicht werden, auch weil keine "politische Lösung" sein kann, was sie verspricht, nämlich Bereinigung des Problems.
Reale "Praxisbezüge" sind also immer vorhanden, aber oft anders als erwartet. Notlagen der Praxis werden oft in Ausbildung übersetzt, ohne irgendwie adäquat abgebildet zu werden, weil keine Ausbildung zulassen kann, dass der künftige Beruf wie eine Depression erscheint. Andererseits sind Defizite der Praxis immer auch wissenschaftlich definierteDefizite, mit Risiken, wie die Timss-Diskussion zeigt, die entweder die Wissenschaftlichkeit in Fragestellen lassen oder aber die Defizitvermutung über Gebühr ausdehnen. Mein dritter Weg schließt hier an: Wie kann es eine wissenschaftliche Lehrerbildung geben, wenn dafür nur ein diffuser oder stark eingeschränkter Verwendungsraum zur Verfügung steht? Und wie kann von "Wissenschaftlichkeit" die Rede sein, wenn Praxiserwartungen sämtliche Lösungen bestimmen?
Mittlere Linien
Meine bisherigen Ausführungen waren zugespitzt formuliert, um den Vorteil der polemischen Kontur nutzen zu können. Aber natürlich sind Wirklichkeiten nie so einfach, schon gar nicht in einem so hoch besetzten und zugleich so paradoxalen Feld wie dem der Lehrerbildung. Eine Schweizer Studie hat versucht, dieses Feld zu erfassen (...).
Die Schweizer Daten sind in verschiedener Hinsicht nicht vergleichbar (...)Gleichwohl sind einige Problemzonen durchaus verallgemeinerbar, also zwischen amerikanischen, deutschen oder schweizerischen Ausbildungssystemen nicht vollkommen divergent. Ich nenne fünf solcher Zonen, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu verfolgen.
- Die Ausbildung muss auf Ausbildungserwartungen reagieren. Wer die Erwartungen ignoriert, senkt die Qualität.
- Ausbildungserwartungen beziehen sich auf den Zuwachs persönlichen Könnens. Wer für kein Vorankommen sorgt, erhält schlechte Bewertungen.
- Das persönliche Können wird im Blick auf den späteren Beruf eingeschätzt, also bezogen auf den Anschluss.
- Anschlüsse sind sensibel und sorgen auch bei bester Ausbildungsqualität immer noch für Entwertungen.
- Bleibende Qualitäten verlangen bleibenden Nutzen, "Nutzen" bezogen auf das gesamte Berufsfeld.
Der naheliegende Einwand, Gymnasiallehrer haben in aller Regel keinen Beruf vor Augen und werden ohne Könnenserfahrung in der Ausbildung gute Lehrer, deckt sich nicht mit unseren Daten. Dort, wo klare Berufsziele gegeben sind, verhalten sich angehende Gymnasiallehrer nicht anders als Studierende anderer Kategorien. Sie sind oft deswegen eine Anomalie, weil Berufsziele gar nicht vorhanden sind, nicht weil ihre Ausbildung eine Besonderheit darstellen würde.
Was folgt aus diesen Einschätzungen für meine mittlere Linie der Revision? Ich werde abschließend sieben Postulate vertreten, die so angesetzt sind, dass einerseits die Vorteile der universitären Ausbildung genutzt, andererseits die erkennbaren Nachteile vermieden werden. Letztlich plädiere ich für eine Lehrerbildung als Kontinuum, das keine starren Zuschreibungen kennt und im Berufsfeldbezug eine Gemeinsamkeit formuliert.
Meine Postulate lassen sich in folgender Übersicht fassen:
- Verpflichtung der Ausbildung auf Standards.
- Nützlichkeit von Forschung im Kontinuum Lehrerbildung.
- Kreditierung der Ausbildungsleistungen.
- Neuorganisation der Phasen: Gemeinsames Curriculum, abgestimmtes Angebot.
- Entwicklung von Leitungsfunktionen.
- Prioritäten und Profile.
- Leistungsauftrag "Entwicklung der Lehrerbildung".
Die Ausbildung muss erreichbare Ziele formulieren, Erwartungen in Standards übersetzen und das Erreichen von Standards kontrollieren. Die Standards der Ausbildung beziehen sich auf Anforderungen des Berufsfeldes, also sind je nach Ausbildungsauftrag unterschiedlich. Gymnasium und Grundschule sind in diesem Sinne verschiedene Ausbildungsprogramme, die nicht einfach gemeinsambearbeitet werden können.
Der Sinn einer universitären Ausbildung ist von der Funktion und dem Nutzen der Forschung abhängig. Bezieht man diese Erwartung nicht auf die Erstausbildung, sondern auf das Kontinuum Lehrerbildung, dann lassen sich neue Nutzungsflächen definieren, die von der Beteiligung an Projekten während des Grundstudiums bis zur gezielten Qualifikation für das Berufsfeld reichen. Eine zentrale neue Aufgabe wird die fortlaufende Evaluationsowohl der Ausbildung als auch der Praxis sein. Über die entsprechenden Verfahren und ihre Kniffe müssen Lehrkräfte informiert sein, wenn die Schule Nutzen davon haben soll. Das gleiche gilt für die Entwicklung neuer Lehrmittel, die Einführung neuer Methoden oder das Ausprobieren neuer Sozialformen. Die bisherige Praxis der testfreien Implementation nach Neigung ist nur dann zu überwinden, wenn Innovationen empirisch überprüft werden.
Die Ausbildungsleistungen lassen sich kreditieren und dies mit Blick auf den Ausbildungszweck. Auf diese Weise kann auf lebenslange und unkorrigierbare Examina verzichtet werden, was dann auch Folgen hätte für die Personalentwicklung insgesamt. Eine fortlaufende Kreditierung macht nur Sinn, wenn obligatorische Weiterbildungsverpflichtungen bestehen, die nachprüfbar realisiert werden. Die Erstausbildung definiert dann den Berufseinstieg und ist keine abgeschlossene Qualifizierung, die im Prinzip auf nachfolgende Ausbildungen nicht angewiesen ist. Soll Lehrerbildung ein Ausbildungskontinuum werden, dann müssen die Zugänge und die Anstellungen neu geregelt werden.
Die Trennung von Ausbildungsphasen ist ein ziemliches Risiko, weil niemand Doppelspurigkeiten kontrolliert oder Entwertungen korrigiert. Denkbar aber sind mindestens abgestimmte Angebote und eine andere Verteilung der Auftragslasten. Auch wenn die Phasen unter den Rubriken "wissenschaftlich" und "berufseinführend" bestehen bleiben, lässt sich ein gemeinsames Curriculum denken, das die Ausbildungszeit durch transparenten Aufbau steuert und Vorankommen sichert. Das wird aber nur dann gelingen, wenn die Lehrerbildung eine Leitung bekommt, die über Entscheidungskompetenzen verfügt, also Angebote ( Personen wie Inhalte ) auch tatsächlich abstimmenkann. Das verlangt Sanktionsbefugnis und so eine im Vergleich zur heutigen Organisation scharfe Strukturrevision.
Die Ausbildung muss nicht überall gleich sein. Die Gewichtung der Standards ergibt das jeweilige Profil, so dass zwischen Frankfurt, Marburg und Gießen Konkurrenz möglich ist, die sich auf die Nachfrage auswirkt, ohne alles über ein definitives Gesetz regeln zu müssen. Was nötig ist, sind Rahmenvereinbarungen, die ich Leistungsauftrag "Entwicklung der Lehrerbildung" nenne. Es gibt keinen pauschalen und unbefristeten, sondern eine spezifischen und befristeten Auftrag, den auch nicht jede Universität annehmen muss. Aber wer "Lehrerbildung" übernimmt, darf diese Aufgabe nicht nebensächlich und minderrangig erfüllen können. Das spricht für einen Entwicklungsauftrag, der nach seinen Leistungen eingeschätzt wird. "Lehrerbildung", anders gesagt, muss mindestens alle zehn Jahre bilanziert werden, und zwar durch unabhängige Evaluationen, die nicht einer loyalen Kollegialität vor Ort verpflichtet sind.
Das ist keine konkrete, sondern eine notwendige Utopie. Sie hat die Strukturen gegen sich, deshalb entsteht der Eindruck des Utopischen; aber sie hat zugleich Notwendigkeiten für sich, weil Fragen der Effizienz, der Abstimmung und der Effektkontrolle auch hier unabdingbar geworden sind. Ein Ausbildungssystem, das nicht folgenreich miteinander kommuniziert, folglich nach Luhmann auch kein System ist, kann seine Aufgaben nicht erfüllen, auch wenn alle zufrieden sind und niemand sich beklagen würde. Das ist, zum Glück, in der unruhigen Lehrerbildung nicht der Fall, so dass eine Meinungsdichte für Wandel eigentlich vorhanden ist. Das Problem ist eher, die falschen Diskussionen zu vermeiden, also dort "Praxisbezüge" einzuklagen, wo sie erfolgreich gar nicht sein können, oder dort "Wissenschaftlichkeit", wo sie mit Sicherheit nur auf Abwehr stößt.
Intelligente Lösungen, die nicht immer wieder die alten Meinungsfronten wiederholen, sind möglich, wenn die Struktur unter Leistungsdruck gesetzt wird. Der Ausdruck "Leistungsdruck" ist in pädagogischen Kreisen verpönt, aber er ist ganz geeignet, um auf Nachweispflicht jenseits der Rhetorik zu kommen, auf echte Zielsetzungen, eine vernünftige Zeitökonomie, verpflichtende Standards und die Gewähr folgenreicher Prüfungen. Heute nämlich wiederholt die Lehrerbildung einfach eine Paradoxie der Schule, sie bescheinigt sich selbst die Leistungen, indem Noten vergeben werden, die nicht auf Kompetenzen schließen lassen und doch dafür gehalten werden. Das ist weder sehr ertragreich noch übermäßig effizient, neue Lösungen werden sich daran messen lassen, ob sie letztlich doch nur status-quo-Bestätigungen sind oder nicht. Sollte das erste der Fallsein, wird es in zehn Jahren einfach nur die gleiche Diskussion geben. Angesichts des Problemdrucks und der Ressourcen würde ich das nicht wagen.
Anmerkung
(1) Gekürzte, vom Verfasser autorisierte Fassung eines Vortrages in der Universität Frankfurt/Main am 16. Juni 1999.
Literatur
Allemann-Ghionda, Chr.: Schule, Bildung und Pluralität. Sechs Fallstudien im europäischen Vergleich. Bern u. a.1999. (= Explorationen. Studien zur Erziehungswissenschaft, hrsg. v. J. Oelkers, Bd. 23)
Criblez, L. u. a.: Die Ausbildung für Kindergarten- und Primarlehrkräfte im Seminar Liestal aus der Sicht der Studierenden. Evaluationsbericht 1. Bern/Fribourg 1996.
Fischli-Hof, E.M./Wiederkehr, R.: Evaluation von Schulleiterausbildungen. Ms. Bern 1999.
Keller, H.-J.: Gesellschaftliche und schulische Entwicklungen in der deutschsprachigen Schweiz, 1973-1997. Diss. phil. Universität Bern (Institut für Pädagogik). Ms. Bern 1998.
Mesmer, R.: Die Orte der Lehrerbildung. Diss. phil. Universität Bern (Institut für Pädagogik). Ms. Bern 1999.
Müller, Ch.: Denkstile im Schulalltag. Pädagogisches Handeln in der Grundschule. Weinheim 1998.
Oelkers, J.: Die historische Konstruktion "Lehrerbildung". Ms. Bern 1999.
Oser, F.: Standards: Kompetenzen von Lehrpersonen. Ms. Fribourg 1999.
Schwab, J.-J.: Science, Curriculum, and Liberal Education. Selected Essays. Ed. by I. Westbury/H.J. Wilkof. Chicago/London: University of Chicago Press 1978.
Wild-Näf, M.: Die Ausbildungen für Lehrkräfte der deutschen Schweiz im Urteil der Studierenden. Ms. Bern 1999.