Professionalisierung der Lehrerbildung durch Autonomisierung, Entstaatlichung, Modularisierung
Frank-Olaf Radtke
1.
Die Aufgabe der Lehrerbildung besteht - darin sind sich alle einig - in der Professionalisierung künftiger Lehrer und Lehrerinnen. Was aber meint Professionalisierung, von welcher Professionalitätist die Rede und wie wird sie zuverlässig erreicht? Um zu vermeiden, daß weiter aneinander vorbei geredet und vorschnell Einigkeit erzielt wird, ist in der weiteren Debatte ein strenger und präzise gefaßter Begriff von Professionalität anzulegen. Er müßte gegen ein Konzept der einfachen Berufsvorbereitung, bzw. der Vermittlung von Berufsfertigkeiten strikt abzugrenzen sein, wenn er trennscharf Ausbildungskonzepte unterscheidbar machen soll.
In der Begriffstrias Arbeit, Beruf, Profession wird letztere durch drei entscheidende Merkmale, die gleichzeitig erfüllt sein müssen, gegen die beiden anderen Tätigkeitsformen abgegrenzt: (a) Wissenschaftliche Fundierung der Tätigkeit in (b) gesellschaftlich relevanten, ethisch normierten Bereichen der Gesellschaft wie Gesundheit, Recht, auch Erziehung und (c) ein besonders lizenziertes Interventions- und Eingriffsrecht in die Lebenspraxis von Individuen (2). In diesem Verständnis fallen also Betriebswirte oder Ingenieure, deren Bezugsfeld die Wirtschaft der Gesellschaft ist und deren Erfolgskriterium am Markt orientierte Effizienz ist, nicht in diese Kategorie, auch Wissenschaftler/Forscher übrigens nicht, wohl aber Ärzte und Juristen, die als die klassischen Professionen gelten, neuerdings auch Psychotherapeuten oder Sozialpädagogen u. a. m. Auch Lehrer und Lehrerinnen gehören zu dieser Gruppe der people processing professions (3). Das sind alle Berufsgruppen, deren Vertreter folgenreiche Eingriffe in das Leben von Menschen vornehmen können und die deshalb einer besonderen (Selbst-)Kontrolle unterliegen. Das gilt erkennbar für die klassischen Professionen mit ihren Berufswissenschaften Medizin und Rechtswissenschaften; dazu gehören aber unverkennbar auch Pädagoginnen und Pädagogen, Lehrerinnen und Lehrer - alle. Es sind im bundesdeutschen, gegliederten und dreistufigen Schulsystem gerade Grundschullehrerinnen, in deren Zuständigkeit alle wichtigen Entscheidungen über die Bildungskarrieren von Schülern fallen. Das fängt an bei der Einschulung und der Möglichkeit, jemanden als nicht schulfähig zu etikettieren, das setzt sich fort über die Möglichkeit des Sitzenlassens bzw., wie man heute bevorzugt zu sagen, der 'freiwilligen Wiederholung'; das betrifft die Möglichkeit der Überweisung auf eine Sonderschule für Lernbehinderte ohne realistische Chance auf Rückkehr; und es endet mit den Empfehlungen für eine weiterführende Schule, gegen die trotz einer Stärkung des Elternwillens kaum anzukommen und die im späteren Verlauf der Schullaufbahn nur sehr bedingt zu korrigieren sind.
Über die pädagogischen Aufgaben, die sich in den Sekundarstufen im Kontext von Wissensvermittlung und Bildung, aber auch Identitätsfindung und Reifung stellen, besteht ebenso wenig Streit wie über die Professionalisierungsbedürftigkeit (4) derjenigen, die mit diesen Aufgaben in schwieriger Zeit umzugehen haben. Die Einigkeit endet, wenn entschieden werden soll, wie die gewünschte Professionalität erzeugt werden kann. Um über Studiengänge und ihre Gestaltung entscheiden zu können, braucht man einen spezifischen Begriff der Professionalität des Lehrers.
2.
Professionelle in dem angedeuteten Verständnis nehmen ihre Aufgaben in einer besonderen, doppelt verankerten Handlungslogik vor: Sie müssen (a) situativ (und intuitiv) in der Lage sein zu individuellem Fallverstehen und können dies (b) in hermeneutischer Haltung auf der Basis universellen Regelwissens, also wissenschaftlicher Theorien. Sie applizieren ihr theoretisches, situationsunabhängiges Wissen bei der Interpretation von Situationen, bei der stellvertretenden Deutung von Problemen ihrer Klienten und bei der Formulierung des Angebots von Therapie/Lösungsstrategien in einer "klinisch" zu nennenden Weise (5). "Klinisch" meint die fall- und personenbezogene Adressierung des Wissens mit dem Ziel, dem Klienten Entscheidungs- und Handlungsoptionen zu eröffnen. Professionelle, die wie Ärzte bei Patientinnen, Richter/Anwälte bei Delinquenten, Lehrerinnen bei Schülern durch stellvertretende Deutung und lizensierte Eingriffsrechte die Integrität der Person zeitweise durchbrechen und damit Schicksale beeinflussen, müssen - zum Schutz ihrer Klienten (!) - jederzeit wissen, was sie tun. Sie müssen sich einer besonderen berufsethischen Verantwortlichkeit unterwerfen, weil ihre Klienten entweder noch nicht, zeitweise nicht oder nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu entscheiden, wenn es darum geht, die beeinträchtigte Gesundheit und Lebensfähigkeit, das verletzte Recht wiederherzustellen oder unüberwindbar scheinende Sozialisations- und Lernprobleme zu lösen. Professionelle müssen die Folgen ihrer Handlungen/Eingriffe abschätzen und sie zu verantworten wissen. Dazu bedarf es neben ethischer Selbstbindungen und institutionell gestützter Handlungssicherheit in erster Linie eines besonderen Beobachtungs-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsvermögens, aber auch eines systematisierten Reflexionswissens, daß die eigenen Entscheidungen zu begründen und zu legitimieren, zu kontrollieren und gegebenenfalls zu korrigieren vermag.
Beobachten, Wahrnehmen und Beurteilen, Reflektieren sind an die Grundoperation des Unterscheidens gebunden. Man muß Unterscheidungen und gegebenenfalls auch Entscheidungen treffen, um etwas beobachten und bezeichngn, beurteilen und einordnen zu können. Sonst bleibt alles im Nebel und man hört nur Rauschen. Man muß mit einer Unterscheidung beginnen, um feststellen zu können, was der Fall ist. Unterscheiden setzt voraus, das Relevantes von Irrelevantem getrennt, also entschieden wird, was beobachtet und bezeichnet und was nicht beobachtet werden soll. Dazu braucht man Theorien: über den Zusammenhang von Symptomen, Befindlichkeiten und Krankheitsbildern, Verhaltensweisen und Verhaltensursachen, Lernproblemen und Entwicklungsstufen zum Beispiel. Und man muß wissen, daß man immer schon, wenn man beobachtet und bezeichnet, d. h. Bedeutung zuweist, Theorien benutzt - oft allerdings, ohne sich dessen bewußt zu sein oder zu wissen, auf welchen Prämissen sie beruhen.
Künftige Professionelle bedürfen einer wissenschaftlichen Bildung, einer weit reichenden Kenntnis von Theorien, weil sie sonst nichts sehen, nicht unterscheiden und dann auch nicht entscheiden können; sie brauchen Theorien, weil sie sonst nicht wissen, warum sie etwas sehen und etwas anderes nicht. Professionelle sollten die Prämissen ihrer Deutungen und die Implikationen ihrer Handlungen kennen. Deshalb steht in der ersten Phase der Vorbereitung auf eine professionelle Tätigkeit ein Bildungsprozeß im strikten Sinne, die Auseinandersetzung mit Theorien, auch mit Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien, mit den Denkweisen und Denkstilen moderner Wissenschaft, und eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der erstaunlichen Tatsache, daß die Wahrnehmung der Wirklichkeit abhängt von der jeweils angelegten Theorie. Theorien funktionieren wie Brillen, die jeweils etwas sichtbar machen und etwas anderes ausblenden. Das gilt für die Beobachtung des Falles in der Praxis des Arztes, des Anwaltes oder im Unterricht der Lehrerin, aber auch für die reflexive Selbstbeobachtung der eigenen Praxis des situativen Fallverstehens.
Theorieerwerb auf dem jeweiligen Stand der Diskussion wird in einem Studium an der Universität organisiert, in der die wissenschaftlichen Disziplinen nicht nur in Lehre und Forschung vertreten sind, sondern selbst Gegenstand wissenschaftstheoretischer Betrachtung und methodologischer Analyse werden. Die Verbindung von Forschung und Lehre soll gewährleisten, daß nicht nur der Theoriebestand, d. h. zurückliegende Systematisierungen und Kanonisierungen eines Wissensgebietes im Unterricht vermittelt werden, sondern daß der Theoriestand, d. h. die Art und Weise, wie aktuell über ein Problem gedacht werden kann, zur Verfügung steht. Methodologische Reflexionen explizieren die Prämissen und bestimmen Reichweite und Grenzen der theoretischen Konstruktionen.
Professionalität als die hermeneutische Fähigkeit zu individuellem Fallverstehen ist entscheidend an umfassende, methodologisch fundierte Theoriekenntnisse gebunden, will sie den Patienten, Klienten, Schülern in ihrer Besonderheit gerecht werden und Subsumption, Stereotypisierung und Verdinglichung vermeiden. Je mehr Wissen verfügbar ist, um so reichhaltiger und reflektierter können die Deutungen der vorgefundenen Probleme sein. Deshalb wirkt nicht jede Lockerung des Berufsfeldbezuges, bzw. eine Verminderung direkten Praxisbezuges von Studienangeboten zu Gunsten der Betonung theoretischer Grundlegungen entprofessionalisierend - im Gegenteil. Deshalb wirkt umgekehrt die institutionelle Anbindung des Studienangebotes an die Selbstbeschreibungen der Praktiker, seien es abgeordnete Lehrerinnen, routinierte Schulleiter als Lehrbeauftragte oder Hochschullehrerinnen mit Unterrichtserfahrungen, nicht schon von selbst professionalisierend. Als praxisrelevant gilt unter Praktikern, was alle denken. Es gibt in Krankenhäusern, Gerichten und Schulen ein institutionelles Wissen und davon abhängig Arten und Weisen, Dinge zu tun und über sie zu reden. Aufgabe der wissenschaftlichen Ausbildung ist nicht die Einübung in dieses, in der Berufskultur gepflegte Denken, das leicht in einer "Harmonie der Täuschungen" enden kann, sondern dessen Irritation, die eine Voraussetzung von Innovationist. Die geht nicht von praktischen Erfahrungen oder den Bedürfnissen der Praxis aus, sondern von wissenschaftlicher Disziplin und methodologischer Reflexion. Dazu leisten Gesellschaften sich Universitäten, deshalb sollen angehende Professionelle studieren und nicht ein trainee-Programm besuchen oder eine Lehre machen.
Und: Die Professionalisierung ist mit dem Studium nicht beendet, sondern nur vorbereitet. Alle Professionen im hier gemeinten Sinn kennen eine zweite Ausbildungsphase, die auf das Studium folgt, in der der Prozess der Professionalisierung fortführt und den Übergang in eine routinierte Berufstätigkeit organisiert werden soll. Die Zweite Phase wird von den Organisationen des Berufsfeldes veranstaltet, die auf diese Weise Kompetenzen für in Krankenhäusern oder Arztpraxen, Gerichten oder Anwaltskanzleien, Schulen oder Beratungsstellen benötigtes Personal erzeugen wollen. In dieser Phase werden die Novizen mit der Berufskultur vertraut gemacht, wird in die bewährten Praktiken und Routinen der Organisationen eingewiesen, wird ihr institutionelles Wissen als know-how weitergegeben und ansatzweise jene Handlungssicherheit, das "Können", vermittelt, das man braucht, will man eigenverantwortlich das riskante Geschäft des Fallverstehens und der Beschaffung von Therapie/Lösungen im Interesse des Klienten und der Organisation/Gesellschaft beherrschen - und doch erst nach Jahren eigenverantwortlicher Praxis erreicht.
Was man im Referendariat lernen soll, kann man nicht in der Universität vorweg nehmen. Jede Phase muß tun, was sie kann. Ohne die universitäre Grundlegung theoretischen Wissens und wissenschaftlichen Denkens wären das Praktische Jahr der angehenden Mediziner, das Referendariat der Juristen und Lehrerinnen nur Anlernphasen, die sich auf Allgemeinbildung, common sense und Betriebswissen berufen müßten, nicht jedoch Teil einer Strategie einer Professionalisierung.
3.
Lehrerinnen unterscheiden sich von den anderen klassischen Professionen durch ihren Umgang mit dem Wissen. So unterscheidet sich auch die Lehrerbildung von den anderen Studiengängen, die auf eine Profession, z. B. in der Medizin oder im Bereich des Rechts, vorbereiten wollen, durch das besondere Verhältnis, das die Studierende zum Gegenstand des Studiums, dem Wissen, eingehen müssen. Systematisch gibt es drei Möglichkeiten: Man kann sich zur Wissenschaft in ein Verhältnis setzen, in dem man die Wissenschaft als Beruf betreibt, dann handelt es sich um Forschung, Erkenntnis- und Wissensproduktion; man kann sich zweitens die Wissenschaft/wissenschaftliches Denken aneignen als Qualifikation für einen technischen oder einen klinischen Beruf, dann handelt es sich um Anwendung, wie sie von Ingenieuren in Automobilfabriken oder um Applikation, wie sie von Ärzten am Krankenbett verausgabt wird; oder man kann schließlich drittens Wissenschaft zum Inhalt eines Berufs machen: Dann handelt es sich um Vermittlung und Lehre, wie sie von Lehrern und Hochschullehrern, erbracht werden muß. Die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen kommen in allen drei Verhältnissen vor, wenn auch in unterschiedlicher Häufung. Forschen kann man über alles, vermitteln und lehren auch, zur technischen Anwendung eignen sich eher die Natur- zur klinischen eher die Sozialwissenschaften. Nicht die Disziplinen geben das Verhältnis vor, sondern derjenige, der sich Wissenschaft in einer bestimmten Einstellung, Haltung und Absicht aneignet. Den verschiedenen Aneignungshaltungen kann die universitäre Lehre in Inhalt und Form entgegen kommen. Strittig ist die Frage, ob sie angehenden Forschern etwas anderes bieten muß als künftigen Anwendern von Wissen und Vermittlern/Lehrern wieder etwas anderes? Wenn zu entscheiden sein wird, welche Studiengänge an der Universität bleiben sollen, können die jeweiligen Relationsbegriffe Forschung/Wissensproduktion, technische oder klinische Anwendung, Vermittlung/Lehre/Erziehung als Unterscheidungen benutzt werden. Der Beruf des Lehrers ist nicht zuletzt deshalb immer wieder als ein "unmöglicher" beschrieben worden, der in Paradoxien und Antinomien führt, weil in ihm "klinische Anwendung" erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Wissens und die Vermittlung fachwissenschaftlichen Wissens amalgamiert sind.
In der Lehrerbildung wird nicht nur zwischen der Fach- und der Erziehungswissenschaft unterschieden, sondern es hat sich in den vergangenen dreißig Jahren zusätzlich eine Vermittlungswissenschaft ausdifferenziert. Die Absicht, Wissenschaft in der Lehre zum Gegenstand von Vermittlungs- bzw. Transformationsanstrengungen zu machen, bedarf einer eigenen theoretischen Kompetenz, die als Didaktik beschrieben wird. In der Didaktik geht es um die Auseinandersetzung mit den Disziplinen, die zum Gegenstand der Vermittlung gemacht werden und um die Fragen, was, wann, wie gelehrt werden soll. Zu den Vermittlungswissenschaften gehören im engeren Sinn Berufs- bzw. Betreuungswissenschaften, in denen das Transformations- und Vermittlungsproblem selbst zum Thema gemacht wird. Im Kern ist dies eine Aufgabe der Didaktik im Allgemeinen und der Fachdidaktik im Besonderen, die die wissenschaftlichen Disziplinen auf ihre Bildungsgehalte untersuchen und eine Lehrbarkeit durch Systematisierung herstellen sollen.
4.
Die Frage lautet nicht, ob die Universität der geeignete Ort für die Lehrerbildung werden kann. Das war die bisher vom Kultusminister verfolgte Strategie, die manchmal daran gemahnt, daß hier der Schwanz versuchte mit dem Hund zu wackeln. Die Frage lautet vielmehr, was kann eine Universität in ihrer jetzigen Gestalt als Massenuniversität zu der für die Lehrerausbildung in besonderer Weise gestellten Professionalisierungsaufgabe beitragen. Dabei ist von der derzeitigen empirischen Realität der Universität und ihrer Fachbereiche und Institute auszugehen, dabei ist mit dem derzeitigen Personal der Universität und ihren Fähigkeiten und Interessen zu rechnen, was nicht heißen kann, daß nicht organisatorische konzeptionelle Veränderungen bedacht werden können und müssen, um die Aufgabenerfüllung zu optimieren.
In der Diskussion um die Hochschulreform bzw. Studienreform tauchen in jüngster Zeit an verschiedenen Stellen neue Begriffe auf - Autonomie, Entstaatlichung, Modularisierung - die auch in der festgefahrenen, zirkulären Diskussion über die Lehrerbildung lösende Wirkungen haben können. Das Stichwort Autonomie bzw. Autonomisierung, als neuer Steuerungsmodus ernst genommen, könnte nicht nur eine Umkehrung der bislang verfolgten zentral-bürokratischen Strategie meinen, die im Kontext der neoliberalen Deregulierungs- und Entstaatlichungsdiskussion ohnehin wie ein Anachronismus gewirkt hat. Jetzt käme es darauf an, der Universität als eigenständiger Organisation zuzugestehen, daß sie die Aufgabe der Professionalisierung für den Lehrberuf, die man z. B. im Rahmen einer Zielvereinbarung formulieren könnte, in ihrer eigenen Logik behandeln kann, wie dies auch die anderen an der Ausbildung der zweiten und dritten Phase beteiligten Institutionen und Organisationen in ihrer eigenen Logik tun müssen. Wie überall sonst definiert der Abnehmer der Qualifikation/der Arbeitgeber die Voraussetzungen für eine Bewerbung für ein Lehramt. Im Zuge der Autonomisierung der Schulen und ihrer Profilbildung können die Anforderungen sogar "schulscharf" auf die besonderen Erfordernisse der jeweiligen Schule ausgerichtet sein.
Die Lehrerausbildung ist derzeit auf zwei Phasen verteilt, Reformkonzepte z. B. aus Nordrhein-Westfalen fügen der Abfolge Studium, Referendariat eine eigenständige Dritte Phase der beruflichen Weiterbildung (training on the job) hinzu. Das Studium an der Universität, das Referendariat an einem Studienseminar und an einer Schule sowie die Fort- und Weiterbildung nach Eintritt in den Beruf sind einander ergänzende Phasen in einem Professionalisierungsprozess, der nicht in einer Phase allein abgeschlossen werden kann - schon gar nicht in grundständigen wissenschaftlichen Ausbildung an der Universität, aber auch nicht in der zweiten Phase, in der Novizen in die Organisationslogik der Schule eingeführt werden,. Erst wenn eigenverantwortliche Erfahrungen vorliegen, kann der Prozeß einsetzen, der als Reflexion der eigenen Praxis sich dem Ziel nähert zu wissen, was man tut und es verantworten zu können. Die drei Phasen der Lehrerbildung wären also in ihrer Autonomie zu respektieren (dies ist de facto auch bisher der Fall. Sie machen, was sie können und wollen und scheren sich nicht um die anderen, weswegen sie Gegenstand andauernder Kooperations- und Koordinationsansinnen werden) und in ihrer je besonderen Leistungsfähigkeit zu profilieren.
Das zweite Stichwort, das die gesamte Diskussion maßgeblich beeinflussen und bisherige Denksperren auflösen kann, ist von der Hochschulrektorenkonferenz in ihrer Stellungnahme vom 2. November 1998 in die Debatte eingeführt worden: Entstaatlichung der Lehrerbildung. Hier ist nicht nur eine Aufhebung der oben genannten bürokratischen Reglementierungsversuche gemeint, sondern die Abschaffung des 1. Staatsexamens selbst. Mit der vom Ende her gedachten Aufhebung der direkten staatlichen Direktion des Lehramtsstudiums würde schon bei Studienbeginn ein deutliches Signal gesetzt. Auch für Studierende, die den Lehrberuf anstreben, ginge es dann nicht mehr darum, sich für ein Amt ausbilden zu lassen, sondern ein Studium in einem oder mehreren Fächern aufzunehmen.
Die Universität bietet ein Studium - als Grundlage von Professionalisierungsprozessen - an. Sie sollte weiterhin offengehalten werden für alle die, die studierenwollen, um auf dieser Basis einen Beruf in der Forschung, der Anwendung von Wissen oder der Lehre anzustreben. Wer allerdings nicht studieren will, sondern eine unmittelbare und unmittelbar verwertbare Berufsausbildung sucht, sollte an andere berufsausbildende Einrichtungen verwiesen werden. Mit der Betonung des Studiencharakters wird am Ziel der Professionalisierung festgehalten und auf die altmodische Idee der Bildung durch Wissenschaft verwiesen. Die Entscheidung darüber, welches Verhältnis zur Wissenschaft man eingehen will: Forschung, Anwendung oder Vermittlung, kann so bis in das Hauptstudium verschoben werden, wo dann die Entscheidung fällt, welches Qualifikationsprofil man erwerben will und welchen Typ eines universitären Abschlusses man anstrebt.
5.
An dieser Stelle kommt der dritte Begriff ins Spiel: Modularisierung. Das Wort Modul bzw. Modularisierung hat in der Reformdiskussion eine überraschende Attraktivität erlangt. Es scheint ein geradezu unwiderstehliches appeal zu haben, das genau damit zu erklären ist, daß es eigentlich leer ist und erst von denjenigen, die es aufgreifen, mit Bedeutung gefüllt werden muß. Module, so sagen die enthusiastischen Verfechter, stellten ein neues "Paradigma" in der Hochschulreformdiskussion dar. Das ist vielleicht etwas übertrieben, eine wissenschaftliche Revolution ist das nun doch nicht.
Modularisierung beschreibt ein neues Organisationsprinzip, das Studiengänge in einzelne Studiengangselemente zerlegt, mit denen eine definierte Teilqualifikation erworben werden kann. Die verschiedenen Module sollen in unterschiedlicher Form kombinationsfähig gehalten werden und sich zu einem individuell zusammengestellten Studiengang mit einem individuellen Qualifikationsprofil zusammenfügen. Die Absolventen können ihr Studienverhalten und die gewählten Schwerpunkte damit flexibler an eigenen Interessen, aber auch an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes bzw. andere Abnehmer ausrichten.
Module werden zugleich mit einem System von Credit Points verbunden. Sie werden im Zusammenhang mit konsekutiven Studiengängen gedacht, also auch mit der Diskussion um Bachelor- und Masterabschlüsse in Verbindung gebracht. Ihr Ziel ist, in Europa eine universitäts-, aber auch länderübergreifende wechselseitige Anerkennung von Studiengangselementen zu erreichen, um damit die Mobilität und die Flexibilität der Studierenden zu erhöhen.
Module scheinen in besonderer Weise geeignet zu sein, die Zersplitterung und Fragmentierung von Studiengängen, die derzeit nach Semesterwochenstunden eingeteilt sind, durch sachbezogenen und gegenstandsbezogene Organisationsformen zu ersetzen und die Studierbarkeit zu erhöhen aber auch Interdisziplinarität und damit einen verstärkten Gegenstandsbezug zu ermöglichen. Das gilt in ganz besonderer Weise für die immer wieder als "ortlos" beschriebene, über die verschiedensten Fachbereiche verteilte, an ganz unterschiedlichen Wissenskulturen orientierte Lehrerbildung.
Module sind zudem operative Einheiten, die die beteiligten Lehrenden jenseits leerlaufender Koordinationsgremien zu Kooperation und gegebenenfalls auch zu gemeinsamer Weiterentwicklung des Lehrangebotes ermuntern. Sie stellen insofern ein Instrument der inhaltlich gebundenen, projektförmigen Reorganisation und Verbesserung der Lehre dar.
6.
Mit den Stichworten Autonomisierung, Entstaatlichung und Modularisierung gewinnt die Lehrerbildungsdiskussion Anschluß an die allgemeine Reformdiskussion in den Hochschulen. Die Verbesserung der Lehre durch neue interne Steuerungsinstrumente, die in Richtung auf mehr Studien- und Innovationsmanagement weisen, könnte verfahrene Kontroversen erledigen. Da sie nicht länger auf der Ebene von Gremiensteuerung, sondern von Projektsteuerung agieren, scheinen die neuen Denkansätze geeignet zu sein, vieles von dem, was derzeit am Zustand der Lehrerbildung beklagt wird, mit Aussicht bearbeitbar zu machen.
Zum anderen kann die Lehrerbildungsdiskussion in die Studienreformdebatte mit einem streng gefaßten, wenn man so will starken Professionsbegriff, der auf die Aneignung hermeneutischer Kompetenz und wissenschaftlichem Reflexionswissens zielt, eine wirksame Sperre einziehen gegen eine Tendenz zur Reduktion der Universität auf eine Ausbildungsanstalt und ihre Funktionalisierung für eine externe, von der Wirtschaft der Gesellschaft über den Markt bestimmte Verwertung von Wissen. Es ist nicht nur die Frage, was leisten unsere Universitäten, sondern auch welche Universität - und welche Lehrerbildung - leistet sich die Gesellschaft. Mit Adorno zu formulieren wird das "unendlich Fortschrittliche der Trennung von Theorie und Praxis", das sich der Affirmation des bloß Bestehenden widersetzt, gerade dann wirksam, wenn die Theorie und die theoretisch angeleitete Forschung eben nicht die Beobachtungsperspektive der Schule bzw. der Erziehungsorganisationen nur verdoppeln, sondern alternative Beobachtungsweisen und alternative Konstruktionen von Wirklichkeit zur Verfügung stellen. Erst durch die absichtsvolle Distanz zur Praxis wird Innovationskraft erzeugt.
Professionelle zeichnen sich gegenüber den technischen und administrativen Berufen dadurch aus, saß sie über ein hohes Maß an Reflexionswissen verfügen, mit dem sie in der Lage sein sollen, wenn schon nicht ihre blinden Flecken aufzuklären, dann doch zumindest darum zu wissen, daß sie welche haben. Gerade für den Bereich der Lehrerinnen und Lehrer wird dies im besonderen Maße wichtig. Wenn man nur aus der Elternperspektive sich vorstellt, was Lehrerinnen und Lehrer anrichten können, ist die Forderung nach Professionalisierung in einer universitären Ausbildung, die für alle Lehrer gleich ist, kaum zu unterschreiten. Die jetzt anstehende Reformdiskussion sollte den Weg dafür frei machen.
Anmerkungen
(1) Gekürzte, vom Verfasser autorisierte Fassung eines Vortrages in der Universität Frankfurt/Main am 16. Juni 1999.
(2) Vgl. grundlegend H. Hartmann: Arbeit, Beruf, Profession, in: Soziale Welt 19 (1968) 2, S. 193-216; U. Oevermann: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professonalisierten Handelns, in: A. Combe /W. Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität, Frankfurt am Main 1996.
(3) Vgl. B. Dewe /W. Ferchhoff/F.-O. Radtke: Erziehen als Profession, Opladen 1992.
(4) Vgl. U. Oevermann: Professionalisierung der Pädagogik - Professionalisierbarkeit pädagogischen Handelns, unveröfftl. Mskr., FU Berlin 1981.
(5) Vgl. B. Dewe/F.-O. Radtke: Klinische Soziologie - eine Leitfigur der Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, in: U. Beck/W. Bonß (Hg.): Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt am Main 1989, S. 46-71.