Was soll man unterrichten: ein Fach oder eine Disziplin?

Ein Schulfach der sozialwissenschaftlichen Domäne in Deutschland und Europa umfasst typischerweise mehrere Wirklichkeitsbereiche – etwa Wirtschaft und Politik – und bezieht sich üblicherweise auf mehrere Wissenschaftsdisziplinen – etwa Wirtschaftswissenschaften, Soziologie und Politikwissenschaft. Woran sollen sich Lehrkräfte in solchen Fächern orientieren? Das ist in den sozialwissenschaftlichen Fachdidaktiken umstritten (sowi-online-Reader „Das Integrationsproblem der sozialwissenschaftlichen Fächer“).

In Politikdidaktik, Wirtschaftsdidaktik und Sozioökonomiedidaktik existieren zwei kontroverse Positionen. Die einen definieren ein Schulfach vorwiegend über eine wissenschaftliche Bezugsdisziplin, es soll das bildungsrelevante disziplinäre Wissen vermitteln. Besonders prägnant wird das für die Politikwissenschaft und für die Wirtschaftswissenschaft(en) vertreten. Aus dieser Perspektive soll sich ein Fach Wirtschaft auf die Disziplin Volkswirtschaftslehre beziehen; meist kommt Betriebswirtschaftslehre hinzu (z. B. Retzmann et al. 2010; vgl. sowi-online-Reader „Ökonomische und politische Bildung“). Entsprechend bezieht dann ein Fach Politik sein wesentliches Wissen aus der Politikwissenschaft (z. B. Detjen et al. 2012). In beiden Beispielen wird das Schulfach also vorwiegend disziplinorientiert konzipiert.

Die anderen geben einem Schulfach vor allem die Aufgabe, den Lernenden einen Weltzugang oder einen Wirklichkeitsbereich wissenschaftsorientiert zu erschließen, etwa den gesellschaftlichen Zugang oder den Bereich Gesellschaft. Sie greifen dazu auf die Disziplinen zurück, die einen großen Gegenstandsbereich wie Wirtschaft oder Politik oder Gesellschaft verstehen und erklären helfen (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2011b). Bildungsrelevante Wissensbestände für einen als „wirtschaftlich“ definierten Wirklichkeitsbereich kommen dann das beispielsweise aus Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Soziologie (vgl. Hedtke 2008). Dann umfasst das Inhaltsfeld Konsum etwa Nachfragemodelle (Mikroökonomie), Verbraucherpolitiken (Politikwissenschaft, VWL) und moderner Konsumstil (Soziologie).

Kurz: aus dieser Perspektive wird ein Schulfach gegenstandsbezogen konzipiert, es ist wissenschaftsorientiert und nicht oder weniger disziplinorientiert. Das Schulfach kann mehrere Gegenstandsbereiche fokussieren, z. B. Politik und Gesellschaft oder Wirtschaft und Recht.

Aus den Disziplinen Politikdidaktik und Wirtschaftsdidaktik liegen Bildungsstandards und Kompetenzmodelle vor, die bestehende Schulfächer vorwiegend auf nur eine Bezugsdisziplin hin konzipieren (z. B. Detjen et al. 2012; Retzmann et al. 2010). Dagegen befürworten Vertreterinnen eines wissenschaftsorientierten Ansatzes multidisziplinäre, nach Gegenstandsbereichen oder prinzipiellen Problemstellungen ausdifferenzierte Fächer (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2011a; Weber 2015).

Die Kontroverse, ob man ein Unterrichtsfach auf eine Disziplin oder auf einen Wirklichkeitsbereich ausrichten soll, findet auch im politischen Raum Resonanz. Ein Beispiel ist die Forderung nach interdisziplinärer sozioökonomischer Bildung in einem Fach Wirtschaft (Gemeinsame Initiative 2000).

In Deutschland hat die Mehrheit der Schulfächer der sozialwissenschaftlichen Domäne in Primarstufe und Sekundarstufe I eine gegenstandsorientierte Struktur mit multidisziplinären Inhalten. Das illustrieren Fächernamen wie Sachunterricht, Politik/Wirtschaft, Sozialkunde, Gemeinschaftskunde oder Politik/Gesellschaft/Wirtschaft. Vertreterinnen eines disziplinorientierten Ansatzes kritisieren diese etablierte Fachstruktur und verlangen nach Disziplinen getrennte Schulfächer (vgl. Beirat Aktieninstitut 1999). Die Lehrkräfte sollen grundsätzlich nur eine Disziplin studieren. Derartige bildungspolitische Forderungen kommen überwiegend aus der Wirtschaftsdidaktik, weniger aus der Politikdidaktik.

Mit der Kontroverse Gegenstands-/Wissenschaftsorientierung versus Disziplinorientierung verbindet sich die Kontroverse, ob man eine Disziplin mit einer einzigen charakteristischen Denkweise identifizieren kann, oder ob jede sozialwissenschaftliche Disziplin in sich selbst kontrovers ist und deshalb mehrere typische Denkweisen umfasst (Monoparadigmatizität ver-sus Multiparadigmatizität; vgl. Kornmesser und Schurz 2014; Hedtke 2011, S. 31–44, 2014). Ein Beispiel aus der Volkswirtschaftslehre: Während Vertreter der ökonomischen Bildung behaupten, „das“ typisch „ökonomische“ Denkmuster sei Knappheit – Optimierung – individuelle Wahlentscheidung – Allokation – Effizienz (Knappheitsperspektive), findet man in der Bezugsdisziplin selbst eine Reihe weiterer wichtiger Denkweisen, z. B. Ungewissheit – Konventionen – Institutionen – kollektive Einbettung des Handelns (Ungewissheitsperspektive).

Eine verwandte Kontroverse betrifft die Frage, ob die Curricula der allgemein bildenden Schulen den Ansatz einer ökonomischen oder dem einer sozioökonomischen Bildung umsetzen sollen (vgl. Famulla et al. 2011).

Literatur

  • Autorengruppe Fachdidaktik (Hg.) (2011a): Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift. Anja Besand, Tilman Grammes, Reinhold Hedtke, Dirk Lange, Andreas Petrik und Sibylle Reinhardt. Schwalbach am Taunus: Wochenschau.

  • Autorengruppe Fachdidaktik (2011b): Sozialwissenschaftliche Basiskonzepte als Leitideen der politischen Bildung. Perspektiven für Wissenschaft und Praxis. In: dies. (Hg.), S. 163–171.

  • Beirat Aktieninstitut = Beirat für ökonomische Bildung des Deutschen Aktieninstituts e. V. (1999): Memorandum zur ökonomischen Bildung. Ein Ansatz zur Einführung des Schulfaches Ökonomie an allgemeinbildenden Schulen. Frankfurt am Main. Online unter: http://www.sowi-onlinejournal.de/reader/oekonomie/memorand.htm , besucht 18.6.2016.

  • Detjen, Joachim; Massing, Peter; Richter, Dagmar; Weißeno, Georg (2012): Politikkompetenz. Ein Modell. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

  • Famulla, Gerd-E.; Fischer, Andreas; Hedtke, Reinhold; Weber, Birgit; Zurstrassen, Bettina (2011): Bessere ökonomische Bildung: problemorientiert, pluralistisch, multidisziplinär. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (12), S. 48–54. Online unter: http://www.iboeb.org/aktuelles/detail/iboeb/bessere-oekonomische-bildung-problemorientiert -pluralistisch-multidisziplinaer.html, besucht 18.6.2016.

  • Gemeinsame Initiative = Gemeinsame Initiative von Eltern, Lehrern, Wissenschaft, Arbeitgebern und Gewerkschaften (2000): Memorandum: Wirtschaft notwendig für schulische Allgemeinbildung. Hg. v. Reinhard Göhner und Ingrid Sehrbrock. Berlin. Online unter: http://www.sowi-online.de/reader/oekonomische_politische_bildung/bda_dgb_u_wirtschaft_notwendig_schulische_allgemeinbildung_2000.html , besucht 18.06.2016.

  • Hedtke, Reinhold (2008): Bezugsdisziplinen. In: Reinhold Hedtke und Birgit Weber (Hg.): Wörterbuch ökonomische Bildung. Schwalbach/Ts: Wochenschau, S. 69–71.

  • Hedtke, Reinhold (2011): Konzepte ökonomischer Bildung. Schwalbach/Taunus: Wochenschau.

  • Hedtke, Reinhold (2014): Ökonomischer Imperialismus in der Schule? Wirtschaft in der sozialwissen-schaftlichen Domäne. In: Polis 18 (4), S. 11–13.

  • Kornmesser, Stephan; Schurz, Gerhard (Hg.) (2014): Die multiparadigmatische Struktur der Wissenschaften. Koexistenz, Komplementarität und (In)Kommensurabilität. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

  • Retzmann, Thomas; Seeber, Günther; Remmele, Bernd; Jongebloed, Hans-Carl (2010): Ökonomische Bildung an allgemeinbildenden Schulen. Bildungsstandards, Standards für die Lehrerbildung. Studie im Auftrag des Gemeinschaftsausschusses der deutschen gewerblichen Wirtschaft. Hg. v. Gemeinschaftsausschuss der deutschen gewerblichen Wirtschaft unter Vorsitz des ZDH. o. O. [Berlin]. Online unter https://www.wida.wiwi.uni-due.de/fileadmin/fileupload/BWL-WIDA/Publikationen/Retzmann_ua2010_Gutachten.pdf, besucht 18.6.2016.

  • Weber, Birgit (2015): Ökonomische und Politische Bildung zwischen Dominanz, Isolation und Integration. In: Gertraud Diendorfer, Patricia Hladschik und Alexandra Lechner-Amante (Hg.): Europabildung und Ökonomisches Lernen: Herausforderung für die Politische Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, S. 46–74.