Als attraktive Alternative zum althergebrachten Schulbuch bietet sich Lehrkräften ein stetig wachsendes Angebot digitaler Lehr- und Lernmaterialien. Konnte das Schulbuch, das vom Deutschen Bildungsrat im Jahre 1969 noch als die „eigentliche Großmacht der Schule“ bezeichnet worden war, jahrhundertelang als unangefochtenes Leitmedium des Unterrichts gelten, hält das Internet heute einen schier unerschöpflichen Fundus von Arbeitsblättern, Stunden- oder gar Reihenentwürfen bereit. Neben Sharing-Plattformen für Materialien von Lehrkräften für Lehrkräfte tummeln sich mit Gewerkschaften, NGOs, Unternehmen und von ihnen finanzierten Stiftungen unzählige Akteure in dem Feld. So tritt beispielsweise die Mehrheit der im DAX notierten Konzerne als (Mit-)Herausgeber von Unterrichtsmaterialien in Erscheinung. Dass dieses breit gefächerte, niedrigschwellig abrufbare und oftmals ansprechend gestaltete Angebot auf eine reale Nachfrage seitens der Lehrpersonen trifft, bestätigt unlängst eine Studie des Forschungsteams um den Informationswissenschaftler Marc Rittberger [3].
Dabei übersteigen die daraus resultierenden Implikationen die Annahme eines bloßen Wandels in den medialen Handlungsroutinen von Lehrer:innen. Denn während Schulbücher in 11 von 16 Bundesländern nach wie vor ein staatliches Zulassungsverfahren durchlaufen (müssen), entfallen derlei Qualitätskontrollen für digital distribuierte Lehr-/Lernmittel. Sie können ungeprüft und -gefiltert in die Klassenzimmer gelangen. Nicht zuletzt aufgrund dieses Umstandes steht mit Blick auf Erzeugnisse von gewinnorientierten Unternehmen zu befürchten, dass das philanthropische Antlitz von handfesten Eigeninteressen überlagert wird und die Materialien zum Platzieren von Werbebotschaften sowie zur Beeinflussung kindlicher und jugendlicher Weltbilder instrumentalisiert werden.
Die Hintergründe des weitreichenden Engagements von Unternehmen und Stiftungen lassen sich mit einem Blick auf die Bildungsforschung erhellen. Aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung für die (fach-)didaktische Strukturierung und inhaltliche Aufbereitung des Unterrichts können Unterrichtsmaterialien nämlich als überaus attraktives Medium fungieren, um im eigenen Sinne gefärbte Inhalte wirkungsvoll in den Unterricht einzuschleusen. Als „heimliche Lehrpläne“ verleihen sie den curricularen Vorgaben ihre konkrete Akzentuierung. Den Rahmenlehrplan bekommen die allerwenigsten Schüler:innen jemals zu Gesicht, Unterrichtsmaterialien hingegen nahezu täglich. Hinzu kommt die soziokulturelle Prägekraft, die ihnen durch den Transport gesellschaftlich gesicherten Wissens in der Bildung heranwachsender Generationen attestiert wird. Dass in ihnen manifestierte und durch sie vermittelte Schulwissen bezeichnet der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth demgemäß als „kanonisches Wissen“, dem eine besondere Autorität innewohne.
Dabei sind es nicht nur mehr oder weniger offensichtliche Werbebotschaften, die es zu problematisieren gilt. Zu bedenken ist ferner, dass insbesondere in der sozialwissenschaftlichen Bildung weniger naturgesetzliche Gegebenheiten als vielmehr normativ aufgeladene Fragen und konkurrierende Ansätze zur Ausgestaltung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik verhandelt werden. Dementsprechend plural fällt die Bandbreite unterschiedlicher Paradigmen und ihrer Interpretationen aus. Um es mit einem ironischen, aber trefflichen Bonmot hinsichtlich der Wirtschaftswissenschaften zu fassen: „Economics is the only field in which two people can share a Nobel Prize for saying opposing things“. Diese für die Sozialwissenschaften charakteristische Offenheit stößt das Einfallstor für subtile Vereinseitigungen und Formen des deep lobbying zur Beeinflussung des Meinungsklimas weit auf, wenn beispielsweise gezielte Auslassungen kritischer Perspektiven vorgenommen werden. Oder – um im Bild zu bleiben – nur der eine oder die andere Nobelpreisträger:in zur Sprache kommt. Erste empirische Untersuchungen [4] bekräftigen diesen Verdacht.
Anschauungsmaterial bietet der auf dieser Plattform veröffentlichte Blog-Beitrag Hätte Ludwig Erhard Kuba gerettet? Heldensagen und Halbwahrheiten in der ökonomischen Bildung [5]. Exemplarisch seziert Reinhold Hedtke einen Entwurf zur Sozialen Marktwirtschaft, welcher einer Kooperation zwischen der ZEIT und der aus Mitteln der gleichnamigen Vermögensverwaltung finanzierten Flossbach von Storch Stiftung, entstammt. In einer Mixtur aus hochgradig hinkenden Vergleichen und tendenziösen Auslassungen existierender Schieflagen wird die Wirtschaftsordnung einseitig als überlegenes Modell präsentiert und die Urteilsbildung der Schüler:innen somit vorweggenommen.
Um zu verhindern, dass derartige Verletzungen des Kontroversitätsgebots den Unterricht beeinträchtigen, braucht es eine verstärkte Prüfung digitaler Materialien. Bestehende Initiativen wie der Materialkompass der Verbraucherzentrale [6] – so wichtig und zuträglich sie in der derzeitigen Situation sind – sollten ausgeweitet, kultusministeriell aufgewertet und wenn möglich gar verpflichtend gemacht werden.
Links
[1] https://sowi-online.de/blog/digitale_unterrichtsmaterialien_%E2%80%93_%E2%80%9Eheimlichen_lehrpl%C3%A4ne%E2%80%9C_verfasst_von_unternehmen_interessengruppen.html
[2] https://www.hf.uni-koeln.de/42281
[3] https://www.medienpaed.com/article/view/1768
[4] https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/68359
[5] https://www.sowi-online.de/blog/heldensagen_halbwahrheiten_OeB.html
[6] https://www.verbraucherbildung.de/materialkompass