Im Kontext der Lehrerbildung ist – im deutschsprachigen Raum – das Konzept der Standards zum ersten Mal von Fritz Oser (Universität Fribourg) und Jürgen Oelkers (Universität Zürich) sowie ihren Mitarbeitern angewandt bzw. entwickelt und überprüft worden, und zwar als Basis für ein sechsjähriges (1994 – 2000) Projekt zur Wirksamkeit der Lehrerbildung bzw. der verschiedenen Lehrerbildungssysteme in der deutschsprachigen Schweiz. Die gesamten Projektergebnisse werden in Oser, Oelkers (2001) dargestellt; im Folgenden wird eine Konzentration auf diejenigen Projektteile vollzogen, die sich mit Standards in der Lehrerbildung beschäftigen (vgl. dazu speziell Oser 1997; 1999; 2001); das gesamte Projekt umfasste auch darüber hinaus gehende Fragestellungen.
In der Studie werden dem Begriff "Standard" zwei Komponenten zugewiesen: Er steht sowohl für professionelle Kompetenz als auch für deren optimale Erreichung. Oder anders: Mit der Beschreibung von Standards "meint man eine besondere Qualität; und man akzeptiert gleichzeitig, dass sie mehr oder weniger gut bzw. optimal erreichbar sind" (Oser 2001, S. 216). Es handelt sich also gewissermaßen um ein Ideal–Maß, von dem man aber weiß, dass es nicht von allem Lehrern vollständig, sondern in unterschiedlicher Annäherung erreicht wird. Es handelt sich also weder um Minimalstandards noch um einzelne, eng umrissene Verhaltenslehrerbildung (skills). "Ein professioneller Lehrerstandard ist eine komplexe, (…) dauernd unter verschiedenen Kontexten und bezüglich verschiedener Inhalte adaptiv zu wiederholende Verhaltensweise, die sich aus verschiedenen Theorien speist, die auf der Folie verschiedener Forschungsergebnisse erhellt werden kann, die besser oder schlechter ausgeführt werden kann (Qualität), und die letztlich in der Tat kontextuell in verschiedensten Varianten erfolgreich ausgeführt wird" (Oser 2001, S. 225 f.; Hervorhebung im Orig.) Unter Hinzuziehung weiterer Erläuterungen wird deutlich, dass Standards durch Theorie informiert sind, dass sie auf [/S. 22:] Forschung basieren, dass sie ein Qualitätsmaß darstellen, und dass sie kontextgebunden im praktisch–reflexiven Handeln realisiert werden.(14)
Auf der Basis von Expertendiskussionen wurden von der Forschungsgruppe zunächst, d.h. vor der Durchführung der Erhebung, insgesamt 88 Standards definiert, die frisch ausgebildeten Lehrern nach Abschluss ihrer Ausbildung sowie ein Jahr nach ihrer Ausbildung vorgelegt wurden. (Im Abschlussbericht wird faktisch nur über die Befragung der frisch Ausgebildeten berichtet; die zweite Befragung wird nur sehr punktuell erwähnt.) Diese 88 Einzelstandards wurden zu zwölf thematischen Gruppen zusammengefasst:
Diese Standards benennen, was ein gut ausgebildeter, auf der Höhe der Kompetenz stehender, gewissermaßen ‚vollständiger‘ Lehrer wissen und v.a.: pädagogisch–didaktisch können muss. Es ist auffällig, dass in diesen Standards von Wissen und Kompetenz im Fach bzw. in den Fächern nicht die Rede ist – ein Sachverhalt, der den Wert der Studie als Vorlage für eine die gesamte Lehrerbildung bzw. die gesamte Lehrerkompetenz umfassende Definition und Überprüfung von Standards stark einschränkt. Die Begründung für den Ausschluss der Fächer– bzw. fachbezogenen Kompetenz (vgl. Oser 2001, S. 243) ist sehr knapp: "Das Fachwissen, wenn es noch so gut ist, (…) kann an sich nicht professioneller Standard sein". Verfügen über Wissen allein ist kein Standard. Das ist im Rahmen des gewählten Ansatzes konsequent. Gleichwohl ist das Verfügen über ein gutes fachbezogenes Wissen doch sicherlich eine notwendige und sehr wichtige (allerdings noch nicht hinreichende!) Voraussetzung für kompetenten Unterricht in diesem Fach.
Um es noch einmal deutlich zu machen: Die ausgebildeten Lehrer wurden nicht beobachtet und von außen eingeschätzt, ob und wie weit sie diesen Standards genügen. Vielmehr sollten sie selbst Auskunft darüber geben, ob und wie weit sie aus ihrer subjektiven Sicht heraus diese Standards als Ergebnis von Ausbildung erfüllen. "Wichtig ist die subjektive Ausschöpfung der Verarbeitungstiefe eines Standards. Die Überzeugung, dass eine Lehrerstudentin oder ein Lehrerstudent am Ende der Ausbildung glaubt, einen Standard mehr oder weniger tief behandelt zu haben und damit auch die implizite Annahme dessen Beherrschens, gibt den Ausschlag. Denn obwohl die Verantwortlichen der Lehrerbildung oft glauben, sie hätten etwas behandelt, kennen es die Studierenden nicht, sie wissen nichts davon, sie haben es subjektiv nicht internalisiert… Daher ist nur die Überzeugung der Studierenden wichtig, weil sie uns darüber Auskunft gibt, wie der Standard eben von denen, die nun gerade die Lehrerbildung zum Abschluss bringen, als professionelles soziales Kapital interpretiert wird" (Oser 2001, S. 228). [/S. 24:]
Hinsichtlich der subjektiven Einschätzung der Standards wurde in drei Richtungen gefragt:
Auf diese Weise war es möglich, zu erfassen, dass die Einschätzung seitens der Befragten auf den drei Dimensionen sehr unterschiedlich war. Beispiele:
Die 88 Standards, die jeweils auf drei Dimensionen (Verarbeitungstiefe, Bedeutung, Beachtung) einzuschätzen waren, wurden an Absolventen ausgegeben, wobei eine Rücklaufquote von 76 % eine Zahl von 1.286 auswertbaren Fragebögen ergab. Die Ergebnisse wurden differenziert ausgewertet im Blick auf die unterschiedlichen Lehrerbildungssysteme in der deutschsprachigen Schweiz sowie auch hinsichtlich der verschiedenen – nach bundesdeutscher Sprachregelung – Lehrämter (Vorschule, Primarstufe, Primarstufe und Sekundarstufe I, Sekundarstufe I, Sekundarstufe II).
Die Ergebnisse der Studie waren ernüchternd: "Die Verarbeitungstiefe der meisten Standards ist gering, viele werden überhaupt nie oder nur ‚theoretisch' angesprochen; die Bedeutung wird in vielen Fällen als hoch und die Anwendungswahrscheinlichkeit (angestrebte Beachtung – ET), wenn man die Standards erreichen würde, positiv eingeschätzt. Dies zeigt, dass sich die Studierenden sehr wohl bewusst sind, dass die Erreichung gewisser Standards von hoher beruflicher Relevanz für ihr berufliches Überleben wäre. Interessant ist, dass die schulbezogenen Standards im Vergleich zu sozialen und didaktischen Standards am schlechtesten abschneiden. Schulentwicklung scheint bis jetzt kein Thema der Ausbildung im Lehrerberuf zu sein. (…) Das Nichterreichen professioneller Standards im konkreten und nicht auf die Linearität des Lernens ausgerichteten Klassenraum wird somit zum Kernproblem dieser Analyse. Wie soll man diesen [/S. 25:] Lehrerberuf zu einer anerkannten Profession emporheben, wenn Standards nicht erreicht und kaum je zu intersubjektiv abgesicherten Kompetenzen geformt werden?" (Oser, Oelkers 2001, S. 27; Einleitung der Hrsg.).
Zwei Drittel der ausgebildeten Lehrkräfte hatten von den Standards entweder nur theoretisch gehört oder sie waren praktisch behandelt worden. Interessant war noch: Je höher die primäre Motivation für den Lehrerberuf war (in solchen Fällen also, in denen Jemand bewusst und direkt ein Lehramtsstudium aufgenommen hatte), desto stärker war die Verarbeitungstiefe der Standards ausgeprägt. Und noch ein spezielles Detail: Oser und Oelkers fanden heraus, dass die Standards bei Absolventen aus sehr praxisnahen, wissenschaftsfernen Ausbildungsinstitutionen (Kindergarten und Primarlehrerausbildung) durchweg stärker ausgeprägt waren als bei Absolventen aus denjenigen Institutionen, die eine eher akademisch orientierte Lehrerbildung betrieben hatten (Oser 2001, S. 304). Die Verarbeitungstiefe von Standards, die sich auf die Gestaltung und Entwicklung von Schule insgesamt beziehen, waren deutlich geringer ausgeprägt als solche, die sich auf das unmittelbare Unterrichten beziehen. Die folgende Tabelle vermittelt eine Übersicht über die Unterschiede hinsichtlich der Verarbeitungstiefe zwischen den 12 Standardgruppen:
Abb. X : Rangfolge der Standards
Skala von 1("nichts gehört") bis 5 (Theorie & Übung & Praxis)
Standardgruppe | N |
arithm. Mittel |
Gestaltung von Unterricht | 1185 |
2.74 |
Lehrer–Schüler–Beziehung | 1188 |
2.56 |
Medien des Unterrichts | 1171 |
2.51 |
Fachdidaktik (Deutsch) | 355 |
2.49 |
Leistungsmessung | 1175 |
2.40 |
Förderung von Sozialverhalten | 1163 |
2.31 |
Lernstrategien vermitteln | 1054 |
2.26 |
Beobachtung und Diagnose | 583 |
2.25 |
Bewältigung von Problemen | 1168 |
2.23 |
Kooperation in der Schule | 590 |
2.01 |
Schule und Öffentlichkeit | 591 |
1.87 |
Selbstorganisationskompetenz | 1173 |
1.67 |
Nun muss man sehen: In der Schweizer Studie werden letztendlich keine Standards für Lehrerbildung, sondern Standards für erfolgreiches Lehrerhandeln, für den kompeten– [/S. 26:] ten, erfolgreichen Lehrer also, definiert. Zugleich ist aber auch klar, dass sich eine erfolgreiche und wirksame Lehrerbildung in ihren Inhalten und Prozessen eben daran zu orientieren hat, m.a.W.: Voraussetzungen für erfolgreiches Lehrerhandeln im Sinne der Standards zu ermöglichen. So wird denn auch darauf hingewiesen, dass erst nach der Berufseingangsphase und während des kontinuierlichen Weiterlernens im Beruf sich diese Standards immer stärker ausprägen bzw. auch immer deutlicher ausprägen sollten. Die Lehrerausbildung in erster und zweiter Phase ist dafür nur die Ausgangsbasis: ihr Ziel kann und sollte nicht der kompetente Lehrer, sondern der kompetente Berufsanfänger sein! So interpretiert fügt sich dieses Konzept von Standards im Lehrerberuf in die "Perspektiven der Lehrerbildung" ein, die die KMK–Kommission zur zukünftigen Gestaltung der Lehrerbildung in Deutschland entwickelt hat (Terhart 2000): Lehrerbildung ist eine kontinuierliche Aufgabe innerhalb der gesamten Berufsbiographie von Lehrkräften.
Die folgenden Überlegungen und Entscheidungen sind von dem Schweizer Projekt zwar inspiriert, weichen aber – angesichts der Aufgabenstellung und unter Berücksichtigung der bundesdeutschen Verhältnisse – von dieser Vorlage ab: