Der extensive Gebrauch des Begriffs Geschichtsbewusstsein in der politisch-publizistischen Alltagspraxis wie in der Geschichtsdidaktik täuscht über den geringen Grad seiner theoretischen Elaboriertheit. Diese Tatsache macht es notwendig, sich einmal näher damit zu beschäftigen, was gegenwärtig unter Geschichtsbewusstsein genauer zu verstehen ist. Die aktuelle Diskussion um "Endlagerung des Faschismus" und "Geschichte als Schadensabwicklung" sowie der zunehmend erneute Gebrauch von historischen Gesten und Ritualen verlangt Aufklärung über die Struktur des Geschichtsbewusstseins. Ich sehe noch nicht, dass in der Geschichtsdidaktik ein konsensfähiger Begriff von Geschichtsbewusstsein besteht. Wir müssen aber ein gewisses Vorverständnis haben, welche Momente eigentlich jene Struktur ausmachen, die wir Geschichtsbewusstsein nennen, um seine Wirkungsweise erklären zu können. Erst danach können wir drei Aufgabengebiete der Bewusstseinsforschung erfolgreich angehen: empirische Forschung, Geschichtsschreibung und geschichtsdidaktische Pragmatik. Wir können dann eine "Morphologie" (Jeismann) des gegenwärtigen Geschichtsbewusstseins erstellen sowie eine Zeitgeschichte der Mentalitäten schreiben. Diese empirischen Aufgaben - wohl die wichtigsten der Geschichtsdidaktik - werden die Grundlage dafür darstellen können, geschichtsdidaktisch begründet handeln zu können. Eine geschichtsdidaktische Pragmatik, d. h. eine geschichtsdidaktische Handlungstheorie, wird aber nicht so lange warten können, sondern wird gleichzeitig ansetzen müssen. Aus diesem Grund wäre eine Diskussion um die Struktur von Geschichtsbewusstsein dringend erwünscht.
a) Ein solcher Versuch, der eine Dimensionierung des Geschichtsbewusstseins vornimmt, um seine Struktur zu erkennen, muss sich dem Problem der Normativität stellen. Er muss sagen und auch "fest"-legen, was er als Geschichtsbewusstsein ansehen will. Es wäre ein problematisches Verständnis, nur eine bestimmte Ausformung von Geschichtsbewusstsein allein als Geschichtsbewusstsein anzusprechen, an dem dann alle anderen Formen gemessen werden, ob sie auch orthodox genug seien, um als Geschichtsbewusstsein approbiert zu werden. Diesen dogmatischen Umgang finden wir im politisch-publizistischen Alltag. Wenn einer beim anderen nicht die Bewusstseinselemente seines eigenen Geschichtsbewusstseins wiederfindet, so wird ihm fehlendes oder mangelndes Geschichtsbewusstsein unterstellt. Eine nichtnormative Theorie des Geschichtsbewusstseins, die sowohl für Zwecke der empirischen Forschung wie auch für eine geschichtsdidaktische Pragmatik brauchbar ist, muss auf der einen Seite sehr wohl bestimmen, welche Bewusstseinsformen sie als Geschichtsbewusstsein ansprechen will, auf der anderen Seite darf sie aber doch nicht in dem Sinne normativ verfahren, dass sie nur bestimmte Ausformungen für "richtiges" Geschichtsbewusstsein hält und alle anderen vorfindbaren Erscheinungsformen als nicht vorhandenes oder als falsches Geschichtsbewusstsein ausgibt. Eine Theorie von Geschichtsbewusstsein muss deshalb eine kategoriale Verfasstheit von Geschichtsbewusstsein ausweisen, um Geschichtsbewusstsein empirisch als Geschichtsbewusstsein zu identifizieren und um einen Vergleich zwischen verschiedenen Ausformungen von Geschichtsbewusstsein anstellen zu können.
b) Eine solche Strukturbestimmung, die sich des Problems der Normativität bewusst ist, lässt dann auch vergleichende Forschung möglich werden. Komparatistik ist deshalb notwendig, weil Geschichtsbewusstsein in Pluralität erscheint. Wir wissen, dass Geschichtsbewusstsein sozialisationsabhängig ist. Das alltäglich-vorschulische und außerschulische Geschichtsbewusstsein ist gleichfalls sozialisationsabhängig. Ob es das ausschließlich ist, versucht von Borries in diesem Heft zu erörtern. In den verschiedenen sozialen und historischen Kontexten, den nach sozialen Schichten und parteipolitisch geprägten Gruppen ausgerichteten Lebenswelten, verläuft historische Sozialisation ebenso unterschiedlich wie in verschiedenen historischen Regionen. Wir sprechen sogar von regionalem Geschichtsbewusstsein. Geschichtsbewusstsein erscheint in verschiedenen Ausprägungen. Will man diese unterschiedlichen Ausprägungen nicht im Sinne einer Defizithypothese interpretieren, nach der immer etwas "fehlt", so müsste die Andersartigkeit abgeleitet und plausibel gemacht werden.
Auch die Annahme, dass die verschiedenen Formen von Geschichtsbewusstsein nicht defizitäre Formen sind, sondern nur anders, aber prinzipiell gleichwertig, löst das Problem nicht, sondern wertet nur die verschiedenen pluralen Formen. Wenn man von Ausprägungen spricht, so impliziert das, dass es gewissermaßen eine ursprüngliche Form gibt, die sich in unterschiedliche Formen ausfaltet. Dieser Gedanke legt nahe, dass man hinter den aktuellen Erscheinungsformen die "ursprüngliche" Form wiederfindet.
Das jeweils konkrete und individuelle Geschichtsbewusstsein wäre dann immer nur eine Aktualisierung aus einem Gesamtpotential der möglichen kategorial verfassten Strukturierungen. Das "nur" soll allerdings nicht bedeuten, dass das individuelle Geschichtsbewusstsein hinter irgendeinem hehren, umfassenden, normativ aufgefassten Geschichtsbewusstsein zurückbleibt, wie die Performanz hinter der Kompetenz. Das "nur" bedeutet vielmehr, dass Geschichtsbewusstsein als ein individuelles immer in Individualität erscheint und nicht als ein allgemeines in seiner Abstraktheit. Unser Sprachgebrauch führt uns dabei in die Irre. Es existiert in der Sprache nur die Singularform von Geschichtsbewusstsein, keine Pluralform. Wenn wir im Plural von Geschichtsbewusstsein reden, dann sprechen wir immer von Formen des Geschichtsbewusstseins. Die Sprache legt uns somit das Geschichtsbewusstsein nahe; die Empirie findet es aber nur als Pluralität vor. Aus diesem scheinbaren Widerspruch kommen wir nur schwer heraus. Wir müssen das konkrete Geschichtsbewusstsein immer nur als einen Ausschnitt aus der potentiellen Kategorialität auffassen, die zugrunde gelegt werden muss, wenn die individuellen und verschiedenen Formen von Geschichtsbewusstsein trotz aller Unterschiedlichkeit als "Geschichtsbewusstsein" identifiziert werden sollen.
c) Geschichtsbewusstsein äußert sich nicht nur im Erzählen, sondern auch im Umerzählen von Geschichten. Geschichten werden immer in unterschiedlichen Graden in andere Geschichten transformiert, ohne dass dabei die Ausgangserzählung unkenntlich wird. Geschichtstheoretisch und geschichtsdidaktisch gesehen, brauchen wir Angaben, die uns erklären, warum Geschichten nicht nur unterschiedlich erzählt, sondern auch umerzählt werden. Ein solches Veränderungsbedürfnis finden wir schon auf der lebensgeschichtlichen Ebene. Ein und dieselbe Ereignisfolge wird von unterschiedlichen Menschen auch unterschiedlich erzählt. Sie bedienen sich unterschiedlicher Relevanzstrukturen und Erzählpläne, die unterschiedliche Geschichten produzieren.
Ohne es an dieser Stelle ausführlich begründen zu können, gehe ich davon aus, dass Geschichtsbewusstsein mit "Erinnern" nichts zu tun hat. Formal gesehen ist Geschichtsbewusstsein eine narrative Kompetenz. Sie besteht in der Fähigkeit, Geschichte zu erzählen und zu verstehen. Die Geschichte (bzw. die Geschichten), die wir uns erzählen und die wir als erzählte verstehen, hat einen anderen Status als die Geschichte, in die wir im Alltag verstrickt sind. Die Geschichte(n) erfahren wir nicht, sondern sie werden tradiert, erzählt: Wir erinnern uns nicht an sie, sondern sie werden uns in einer kulturellen Kommunikation überliefert.
"'Kulturelle Kommunikation' ist eine Information, die man nicht durch direkte Beobachtung (Sinnesdaten) erhalten oder aus ihr ableiten kann: sie geht notwendigerweise von einem Bewusstsein zu einem anderen über" (Devereux 1984a: 279).
Diese Tradierung von Bewusstsein zu Bewusstsein schließt nicht schon ein, dass die Geschichte, die erzählt wird, die gleiche bleibt. Obwohl die gehörte Geschichte nur als erzählte Geschichte - nicht als erlebte Geschichte - angeeignet wird (wir also nicht über unterschiedliche Erfahrungsdaten verfügen), wird sie so transformiert, dass wir annehmen, sie sei erst jetzt "richtiger" geworden. Wir haben es also mit der Tatsache zu tun, dass nicht nur erlebte Ereignisfolgen von unterschiedlichen Menschen verschieden erzählt werden, sondern auch die gleiche tradierte Geschichte wird unterschiedlich erzählt. Geschichtsbewusstsein äußert sich also nicht nur in erzählten Geschichten, sondern auch im Transformationsbedürfnis an erzählten Geschichten.
Auf das einzelne Individuum bezogen ist Geschichtsbewusstsein eine individuelle mentale Struktur, die durch ein System aufeinander verweisender Kategorien gebildet wird. Dieses kognitive Bezugssystem wird im Prozess des Sprachlernens erworben (1). Die durch (direkte wie durch kommunikative) Erfahrung geformte mentale Struktur ist für die Art und Weise verantwortlich, wie eine Geschichte erzählt wird, welche Perspektiven gewählt, wie das Verhältnis von oben und unten, von arm und reich gesehen wird, ob Verhältnisse generell statisch oder veränderbar gesehen werden.
Ich möchte vorschlagen, Geschichtsbewusstsein als eine mentale Struktur zu bezeichnen, die aus sieben aufeinander verweisende Doppelkategorien besteht. In dem Maße, in dem das Kind diese grundlegenden Kategorien ausdifferenziert, erwirbt es jenes kognitive Bezugssystem, ohne das es weder Geschichte verstehen noch Geschichte erzählen könnte.
Diese Kategorien sind:
Dem jeweiligen Geschichtsbewusstsein des einzelnen Individuums liegt eine individuelle mentale Strukturierung aus diesen Kategorien zugrunde. Dieses kognitive Bezugssystem, das das Geschichtsbewusstsein ausmacht, wird durch Entwicklungserfahrungen gebildet. In diesen Entwicklungserfahrungen wird die mentale Struktur des Individuums ausgebildet.
In welcher Reihenfolge und in welcher Gleichzeitigkeit diese einzelnen Kategorien erworben werden, wissen wir noch nicht. Wir können sie aber in drei Basiskategorien und vier soziale Kategorien einteilen, ohne damit schon eine Präferenz in den individuellen Lernprozessen anzugeben. Die drei fundamentalsten Differenzierungen dieser mentalen Strukturierung, die allen anderen vorausliegen, bestehen in der Fähigkeit, die Prädikate "früher" und "heute" (bzw. "morgen"), "real" und "imaginär" sowie statisch -veränderlich/veränderbar (sein - werden) korrekt zu verwenden. Natürlich werden die Orientierungsbegriffe nicht ausschließlich nacheinander erworben, sondern auch gleichzeitig. Dennoch wird es Hierarchien geben: Erst wenn Fiktion und Realität geschieden sind, kann aus dem Märchenerzählen ein historisches Erzählen werden. Für dieses historische Erzählen sind dann die Kategorien Identitätsbewusstsein, ökonomisch-soziales Bewusstsein, politisches Bewusstsein und moralisches Bewusstsein maßgeblich.
Die vier letzten Dimensionen beziehen sich auf die Komplexität von Gesellschaft. Geschichtsbewusstsein umfasst ein strukturiertes Wissen über Veränderung von jeweils konkret und spezifisch organisierten Gesellschaften in der Zeit. Veränderungen von Gesellschaft als Bewusstseinsinhalt beschreibt nicht nur Veränderungen in der Zeit, sondern auch was sich in der Gesellschaft strukturell verändert und was nicht - ob sich z. B. die politische Stratifikation verändert bzw. verändern kann oder ob es überhaupt wünschenswert ist, dass sie sich verändert.
Die Ausbildung dieser dimensionierten Doppelkategorien in der Lebensgeschichte ergibt jene individuelle mentale Strukturierung, die wir Geschichtsbewusstsein nennen können. Das bedeutet allerdings nicht, dass es ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein im Sinne eines bewussten Seins sein muss. Es muss sich nicht um ein durchdachtes moralisches Bewusstsein oder um ein konkretes Herrschaftsbewusstsein handeln. Moralisches Bewusstsein wie auch politisches Bewusstsein kann sich in moralischem Relativismus wie in politischer Apathie äußern. Dennoch ist eine Kategorisierung der Bereiche moralisches Bewusstsein und Herrschaftsbewusstsein vollzogen.
Die grundlegende Kategorie, sowohl im zeitlichen wie auch im allgemein-kategorialen Sinne, dürfte für das Erlernen von Geschichte die Unterscheidung der Zeitmodi (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft; gestern - heute - morgen) darstellen (2).
Die ältere Geschichtsdidaktik und -methodik hat viel Energie darauf verwandt, diese Kategorien zu vermitteln. Der Erfolg solcher Bemühungen ist nachweislich auch nicht größer gewesen als jene Bemühungen, die nicht so sehr auf Zeit und Datierung fixiert waren. Diese Bemühungen vergaßen in der Regel einen zentralen Punkt, dass erst in der Kombination mit anderen Kategorien Zeit für das Lernen von Geschichte einen Wert hat. Die Isolierung und Abstrahierung von anderen Kategorien entkleidet Zeit gerade des historischen Charakters. Das Pauken von Zahlen, die Arbeit am Zeitstrahl etc. waren weniger Arbeit mit historischer, sondern mit biologischer und kalendarischer Zeit. Wenn d) Geschichte als Prozess Veränderung in der Zeit ist, darf dieser Fluss nicht wieder in einzelne Fixpunkte von datierbaren Fakten "fest"-gestellt werden. Eine Fixierung auf datierbare Ereignisse übersah langsam ablaufende Prozesse und langdauernde Strukturen. Sie blieb vorwiegend auf der Ebene der Ereignisgeschichte verhaftet, d. h. sie hatte diplomatiegeschichtlichen, besonders außenpolitischen Charakter.
Der Ausgangspunkt für das Denken in den verschiedenen Zeitmodi ist die lebensweltliche Wahrnehmung der Zeitlichkeit von Erfahrung und Handeln. Sprachlich drückt sich Zeitbewusstsein in der Fähigkeit aus, Ereignisse mit den Begriffen "gestern" "heute" und "morgen" zu versehen. Zeitbewusstsein als Dimension von Geschichtsbewusstsein leistet aber mehr als die zeitliche Lokalisierung (die Temporalisierung) von Ereignissen. Zeitbewusstsein als Komponente von Geschichtsbewusstsein konkretisiert sich darüber hinaus in vier Hinsichten:
Die zweite Grundorientierung besteht darin, Personen und Handlungen die Prädikate "real" und "imaginär" zuzusprechen (Prentice 1978). Dass es Personen und Handlungen (in der Sprache) gibt, die erfunden (fiktiv) sind (Rotkäppchen, Asterix etc.), muss das Kind erst lernen. Vermutlich geht das Kind zuerst von der Existenz von (sprachlich verfügbar gemachten) Personen und Handlungen aus und lernt erst dann mühsam, Existenzvorbehalte zu machen. Wenn es schon mit Existenzvorbehalten umgehen kann, muss es sich öfter der Existenz von Personen und Sachverhalten fragend versichern. So einfach ist es mit historischen Personen nicht. Sie lassen sich nicht nach der Dimension "gibt es" und "gibt es nicht" differenzieren. Historische Ereignisse (Personen, Dinge, Sachverhalte) sind nicht "nicht-existierende", sondern nur gegenwärtig "nicht mehr" existierende Ereignisse.
Diese Ausdifferenzierung von gegenwärtigen, imaginären und historischen Personen und Ereignissen vollzieht sich im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung von Zeit in den Zeitdimensionen Vergangenheit und Gegenwart.
Lebensgeschichtlich muss die Nicht-Existenz imaginärer Personen (Weihnachtsmann, Rotkäppchen, Asterix, Eisenherz) gelernt werden. Es ist ganz sicher eine Fehlinterpretation, wenn man annimmt, die Unterscheidung von historischen und imaginären Personen wäre eine Denkleistung, die in der frühen Jugend abgeschlossen würde. Sicher ist dieser Aspekt des Geschichtsbewusstseins für die frühen lebensgeschichtlichen Phasen ein größeres Problem als für spätere. Es ist aber lediglich ein graduelles.
Eine Befragung bei Osnabrücker Studenten nach Personen wie Rasputin, Siegfried, Robin Hood, Romulus und Remus zeigte, dass die Imaginarität von Personen durchaus nicht eindeutig geklärt ist (5). (Beispiel: Prinz Eisenherz wurde von 11,1% der befragten Studenten als historisch, 73,5% als imaginär eingeordnet. 13,2% wussten sich nicht zu entscheiden.)
Aber auch bei historischen Situationen treffen wir die gleiche Problematik. Traum und Fiktion müssen vom Geschichtsbewusstsein einen Ort angewiesen bekommen. Das Geschichtsbewusstsein ordnet den imaginären Bestandteilen immer bestimmte (zeitliche und räumliche) Bereiche zu und nimmt ihnen dadurch zwar ihre Imaginarität, rückt sie aber gleichzeitig in räumliche und zeitliche Distanz: Das goldene Zeitalter wird in der Vergangenheit angesiedelt, die humanitär befriedete Welt in der Zukunft verortet. Die "gute alte Zeit" gab es in der vorindustriellen Periode, das Matriarchat als erste Vergesellschaftungsform wird in die Frühgeschichte verlegt. Das friedliche Miteinander ohne Normen und Zwänge findet sich in der Südsee, und die bäuerlich-kleinhandwerkliche Kommune ohne Arbeitsteilung geht auf das Land (bzw. nach Griechenland oder Kalifornien).
Das historische Denken ordnet seine Imaginationen, Träume und Utopien in den verschieden akzentuierten Zeitdimensionen an. Dem Geschichtsbewusstsein fällt somit die Funktion zu, unsere Wunschträume in der Zeit zu verorten (6).
Wirklichkeitsbewusstsein ist jener Aspekt von Geschichtsbewusstsein, der die Grenze zwischen real und fiktiv zieht. Das bedeutet zunächst nur, dass eine solche Grenze im Bewusstsein gezogen wird, noch nicht, wo sie gezogen wird. In den verschiedenen Kulturen erfolgt die Grenzziehung unterschiedlich. Aber dass solche Grenzen gezogen werden, ist die Voraussetzung für Geschichtsbewusstsein und gleichzeitig ein strukturierendes Strukturmoment selbst. Die jeweils konkret individuellen Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein, die als Bedingung ihrer Existenz diese Grenze gezogen haben, weisen Personen und Ereignissen ihren Platz diesseits und jenseits dieser Grenze zu: das jeweils konkret individuelle Geschichtsbewusstsein nimmt eine exakte Einordnung in einen dieser beiden Bereiche vor. Die Grenzziehung ist im individuellen Bewusstsein scharf und bewusst. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist diese Grenze keineswegs eindeutig gezogen. Davon zeugen die verschiedenen Mythen: Barbarossa, Friedrich der Große, Dolchstoßlegende, Hitlers "Wunder"-Waffen, "Stunde Null" etc.
Wollte man annehmen, dass die individuellen Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein nur diesseits der Grenze real-historisch ausgebildet seien, würde Geschichtsbewusstsein auf eine rein rationalistische Form festgelegt werden. Mythen, Legenden, Affabulationen würden als nicht zum Geschichtsbewusstsein gehörig betrachtet werden. Dass aber solche Mythen zum Geschichtsbewusstsein gehören, wissen wir aus der alltäglichen Erfahrung und kennen auch die ideologischen Bindewirkungen kollektiver Mythen. Aus dieser Tatsache resultiert eine wichtige Funktion von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik: historische Legenden und Mythen aufzulösen und das Wirklichkeitsbewusstsein zu schärfen.
Die Unterscheidung der Zeitdimensionen im Zeitbewusstsein und der Realitätsgrade im Wirklichkeitsbewusstsein ist zunächst einmal für das einzelne Individuum statisch. Personen und Verhältnisse ändern und verändern sich aber. Sie veralten und verjüngen sich, sie werden und vergehen. Diese Kenntnis soll die Kategorie Historizitätsbewusstsein ausdrücken, der die Erkenntnis von Geschichtlichkeit zugrunde liegt (7). Geschichtlichkeit beruht auf einer grundsätzlichen und fundamentalen Syntheseleistung, die relativ spät aus den Basiskategorien von Zeitlichkeit und Realität gebildet wird. Die lebensweltlich erfahrene Historizität ist immer nur auf ein unmittelbares, direktes Erfahren und Handeln bezogen. Die Personen und Gegenstände, die erfahren und behandelt werden können, sind stets real und präsent. Die Historizität historischer Ereignisse lässt sich dagegen nur über Erzählungen und durch Denkakte erfahren.
Die Kategorie Geschichtlichkeit, bezogen auf das Bewusstsein, können wir als Historizitätsbewusstsein bezeichnen. Es bezeichnet das Wissen, dass Personen, Dinge und Ereignisse sich in der Zeit verändern, aber auch, dass bestimmte Dinge und Ereignisse sich nicht verändern - scheinbar in der kurzen Zeit der eigenen Lebensspanne unveränderlich sind. Die über die lebensweltliche Erfahrung hinausgehende Historizität lässt sich dann nur über historische Erzählungen (kommunikativ) erfahren.
Historizitätsbewusstsein bezeichnet aber nicht nur das Wissen um Veränderungsprozesse, sondern beinhaltet auch die Anwesenheit von alltäglichen "Geschichtstheorien" im Bewusstsein des einzelnen. "Alltägliche Geschichtstheorie" wird dabei sowohl im Sinne einer Theorie der Geschichte wie einer Theorie der Geschichtswissenschaft verstanden. Alltägliche Geschichtstheorie ist eine naive, nicht reflektierte, aber aus primären und sekundären Erfahrungen resultierende Annahme darüber, was Geschichte ist, was ihre Kraftzentren sind, was Geschichte verändert, was unveränderlich ist, was Gegenstand von Geschichte ist, was Geschichte mit einem selbst zu tun hat, d. h. die Entdeckung, dass man selbst der Historizität unterworfen ist und eine eigene Geschichte hat (Schacht 1978). Als alltägliche Theorie des historischen Wissens enthält das Historizitätsbewusstsein auch Annahmen darüber, woher wir etwas über vergangene Zeiten wissen können.
Zusammengefasst gesagt, bezeichnet Historizitätsbewusstsein jenen Aspekt von Geschichtsbewusstsein, der Angaben darüber enthält, was im historischen Prozess veränderlich ist und was statisch bleibt, wer oder was diese Veränderungen bewirkt (gibt es ein Subjekt der Geschichte und wenn ja, wer ist dieses). Historizitätsbewusstsein drückt ferner das Wissen um die Differenz von Natur und Geschichte aus.
Identitätsbewusstsein beruht auf der Erfahrung, dass einzelne Menschen wie auch Menschengruppen sich ändern und doch mit sich selbst identisch bleiben. Als Kategorie des Geschichtsbewusstseins ist es das Bewusstsein, zu verschiedenen Gruppen "wir" sagen zu können und sich damit von anderen ("sie"; "ihr") abzugrenzen (8). Identitätsbewusstsein ist aber nur dann ein Strukturmoment von Geschichtsbewusstsein, wenn dies "wir" in zeitlicher Dimension gesehen wird, d. h. durch Verweis auf vergangene Handlungen der Bezugsgruppe, die als Identifikationsobjekt gewählt wird, Identität begründet. Identität als Strukturmoment von Geschichtsbewusstsein ist somit eine Orientierung in diachroner Weise.
Das Individuum sagt zu verschiedenen Gruppen "wir". Diese Gruppen variieren in der Größe: unsere Familie, unser Verein, unsere Stadt, unsere Nation (Devereux 1984b) etc. Das Individuum identifiziert sich mit den Mitgliedern dieser verschiedenen und verschieden großen Gruppen. Wir können deshalb von der Größe des identitiven Raumes des Individuums sprechen (Vgl. Streit 1982). Die Wir-Ihr-Differenzierung ist in der Regel mit einer Verteilung von sozialen Wertigkeiten verknüpft (9). Die Ihr-Gruppen (besonders wenn es sich um Minderheiten handelt, die der allgemeinen Norm nicht folgen) werden somit abgewertet. Die Ihr-Gruppe ist nicht "unseresgleichen", sie ist anders, fremd.
Den Mechanismus, der zu einem Identitätsbewusstsein, zu einem Kollektivbewusstsein führt, hat Piaget ausführlich analysiert (Piaget, Weil 1976). Piaget beschreibt das Verhältnis, dass das Kind zu übergeordneten Kollektiven eingeht, als logische und affektive Dezentralisierung. Zu Anfang der individualgeschichtlichen Entwicklung betrachtet das Kind sich selbst als den einzig logisch und affektiv möglichen Standpunkt (Egozentrismus). Es nimmt an, dass der Standpunkt, den es selbst vertritt, von allen geteilt wird.
Auf der ersten Stufe kann das Kind zwar wir und ihr unterscheiden, aber diese Unterscheidung gilt radikal. Ein Osnabrücker kann kein Deutscher sein und ein Deutscher kann kein Osnabrücker sein. Deutscher und Osnabrücker sind räumlich und logisch verschiedene Klassen. Ebenso kann ein Deutscher kein Europäer sein und Europäer kann kein Deutscher sein.
Auf der zweiten Stufe kann das Kind schon die räumliche, aber noch nicht die logische Inklusion vollziehen. Deutschland liegt in Europa, aber dennoch kann ein Deutscher kein Europäer sein. Auf der affektiven Ebene kann es aber auch schon eine affektive Dezentrierung vornehmen. Andere Länder, andere Bezugsgruppen können ihm schon gefallen, aber nur, wenn sie einem Mitglied der Familie gefallen. Das Kind ist in der Lage, seine Affekte auch auf Gruppen zu zentrieren, die außerhalb der eigenen liegen (Dezentrierung); hier wäre der Übergang zur diachronen Identität zu sehen.
Auf der dritten Stufe nimmt das Kind die kollektiven Stereotypen an, die eine jede Wir-Gruppe von sich entwirft (10).
Politisches Bewusstsein als Strukturmoment von Geschichtsbewusstsein ist hier im engeren Sinne von "politisch" gemeint - es soll als Herrschaftsbewusstsein verstanden werden. Hier ist nicht "staatsbürgerliche Kompetenz" gemeint (Steiner 1984), das Wissen von Verfassungsorganen und deren Wirkungsweise, sondern der Sachverhalt, dass Gesellschaften durch Herrschaft geordnet sind. Immer dort, wo von Geschichte die Rede ist, haben wir es mit asymmetrisch verteilten Machtverhältnissen zu tun. Dieses Bewusstsein, dass gesellschaftliche Verhältnisse von Machtverhältnissen durchdrungen sind, ist etwas, was nicht allein durch Unterricht oder Unterweisung allgemein vermittelt wird, sondern gehört zu den sehr frühen lebensgeschichtlichen Erfahrungen:
"Psychologisch betrachtet gehören die Dimensionen groß - klein und Macht - Ohnmacht in die prägenitale Entwicklung, sind also ein außerordentlich frühes und grundlegendes Problem." (Horn 1968)
Wenn dieses Herrschaftsbewusstsein schon sehr früh erworben wird, so bedeutet das noch nicht, dass späteres Lernen kaum noch Einfluss darauf hat. Geschichtsunterricht sollte sich vor allem darüber im klaren sein, wo Schüler die Macht lokalisieren. Dieses Wissen ist für die Geschichtsdidaktik wichtig, wenn Geschichtsunterricht überhaupt einen Beitrag zur politischen Bildung leisten will:
"Die Macht konzentriert sich nach Ansicht der Schüler in den Verfassungsorganen Regierung, Parteien und Parlament (in dieser Reihenfolge). Auch den Organen des Pressewesens kommt danach eine beträchtliche Macht zu, sie haben mehr Macht als die Gewerkschaften, welche wiederum mehr Macht als die Arbeitgeberverbände auf sich vereinigen.... ,Macht' wird von den Schülern hier als politische Macht verstanden, für die man sich alternative Konstellationen kaum vorzustellen vermag" (Urban 1976).
Dass wirtschaftliche Institutionen Macht ausüben, wird in der Regel von Schülern nicht gesehen. "Daraus muss nach unserer Ansicht abgeleitet werden, dass wirtschaftliche Macht einen weißen Fleck auf der Landkarte des politischen Schülerbewusstseins darstellt" (Urban 1976: 115).
Zur Wahrnehmung historisch-gesellschaftlicher Sachverhalte gehört auch die Wahrnehmung von sozial-ökonomischen Unterschieden. Die Kategorien arm - reich werden zwar durch die Kategorien "oben" und "unten" überlagert, sind mit ihnen aber noch nicht identisch. Die Wahrnehmung von sozialen Unterschieden in historischen Darstellungen sowie die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit in der Gegenwart ist an die Erfahrung dieser Prädikate in der alltäglichen kindlichen Umwelt gebunden.
Kinder lernen schon sehr früh die Begriffe arm und reich zu gebrauchen und richtig anzuwenden. Ob die Begriffe arm und reich heute historisch veraltet sind (Wacker 1976: 62) und auf unsere Gegenwart nicht mehr passen, ist hier nicht so wichtig. Ein Bewusstsein von gesellschaftlicher Ungleichheit ist dennoch vorhanden, wie auch neuere Untersuchungen zeigen (Leahy 1981). Kinder haben aber bestimmte Schwierigkeiten, sich selbst und ihre Familie in diesem Bezugssystem unterzubringen: "Dieselben Kinder, die in der Mehrzahl angeben, in ihrem Bekanntenkreis seien mehr arme Leute zu finden, nehmen wiederum in der Mehrzahl ihre Eltern aus" (Wacker 1976: 70). Sie können wohl ihre Umwelt nach den Kategorien "arm" und "reich" einschätzen, haben aber offensichtlich Schwierigkeiten in der Selbstlokalisation.
Der gleiche Tatbestand wird aus der Berliner Kinderladenbewegung berichtet:
"Auch bei Gegenüberstellungen wie: reiche Kapitalisten, die immer reicher werden, arme Arbeiter, die relativ verarmen, stießen wir häufig auf den Widerstand der oder besser die Abwehr der Kinder: Sie wollten ihre Eltern keinesfalls als arm hingestellt sehen, sondern betonen wider allen Augenschein, wie gut sie doch verdienten und wohnten, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sein könnten" (Autorenkollektiv am psychologischen Institut der Freien Universität Berlin 1971:124; zitiert nach Holzkamp 1973: 228)
Hier treten offensichtlich bewusstseinsinterne Konflikte auf, die zu Schwierigkeiten führen, die einzelnen Strukturmomente "ökonomisches" und "moralisches Bewusstsein" (11) in einem Gesamtkonzept zu integrieren.
Wacker berichtet, dass die Schüler mit einem "inkongruenten Erklärungsmodell" die Ursachen von arm und reich erklären wollten. "Während Armut überwiegend als durch unbeeinflussbare Gegebenheiten ... verursacht gesehen wird, soll Reichtum wesentlich die Frucht individueller Bemühungen sein" (Wacker 1976: 76). Arm ist eine Eigenschaft von Personen, die von außen kommt, Reichtum dagegen ist eine Eigenschaft, die die Person der eigenen Tüchtigkeit (Begabung, Fleiß...) verdankt (externe und interne Kausalattributation).
Daran scheint Geschichtsunterricht nicht ganz unbeteiligt zu sein. Unsere Schulbücher verstärken diese inkongruenten Erklärungsmuster:
Armut und Reichtum als gesellschaftliche Kategorien, die auch gesellschaftlichen Ursprungs sind, werden hier auf Persönlichkeitsmerkmale reduziert: auf Weitsicht und Tatkraft einerseits und auf Hilflosigkeit andererseits.
Die jüngste (mir bekannte) Untersuchung (Leahy 1981), an die eine Analyse des ökonomischen Bewusstseins anknüpfen könnte, versucht, die Entwicklung von Schichtungskonzepten in Begriffen der kognitiven Entwicklung zu beschreiben. Sie untersucht zwei allgemeine Trends der kognitiven Entwicklung und der sozialen Wahrnehmung: Zwischen Kindheit und Adoleszenz findet ein Wandel in der Betonung von beobachtbaren "peripheren" zu vermuteten psychologischen oder "inneren" Eigenschaften von Personen statt. Zweitens, die Betonung jüngerer Kinder von Verhalten und äußerer Erscheinung ist verbunden mit Berufs- und Geschlechtsrolle.
Eine geschichtsdidaktisch gerichtete Theorie des Geschichtsbewusstseins stößt immer wieder auf die kognitiven Schwierigkeiten beim Umgang mit moralischen Prinzipien. Die Welt historischer Sachverhalte wird "moralisiert", d. h. es wird nach den zugrunde liegenden Motivationen und den Begründungsformen von Handlungen gefragt, und diese werden dann gewertet. Historische Ereigniszusammenhänge werden als gut oder schlecht, historische Handlungen als richtig oder falsch klassifiziert. Darüber hinaus finden sich Formen des moralisierenden Deutens (Vorsehung, Verschwörung, Dolchstoß etc.) historischer Entwicklungsprozesse. Dennoch ist uns im Moment noch völlig unbekannt, welche Bedeutung moralische Prinzipien für die Wahrnehmung und Deutung von Geschichte haben.
Moralisches Bewusstsein allgemein besteht in der Selbstobligation gegenüber sozialen Normen (12). Es ist deshalb nach den sozialen Normen und deren Bindung zu fragen. Hinsichtlich der Wahrnehmung und Deutung von Geschichte besteht moralisches Bewusstsein in der Fähigkeit, die Prädikate gut und böse nicht willkürlich oder zufällig, sondern nach Regeln anzuwenden.
Hier stellen sich für das Geschichtsbewusstsein zwei Probleme, von denen das eine Geschichte als Prozess und das andere die Verstehbarkeit historischer Situationen betrifft.
Die vorfindbaren moralischen Argumentations- und Begründungsmuster lassen sich hierarchisch ordnen (Egozentrik, Heteronomie, Autonomie), und diese Hierarchie bringt einen entwicklungslogischen Zusammenhang zum Ausdruck. Es spricht vieles dafür, dass die Entwicklung des moralischen Bewusstseins einem rational nachkonstruierbaren Muster folgt. Über diesen Entwicklungsgang des moralischen Bewusstseins geben uns die Untersuchungen von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg Auskunft. Nach Kohlberg vollzieht sich das moralische Bewusstsein in sechs Stufen (13).
Die Untersuchung von moralischen Argumentationsformen, die sich auf historische Ereignisse beziehen, erlaubt eine zureichendere Analyse des historischen Handlungszusammenhanges als bisher. Ein Konzept wie das von Kohlberg, das allgemeine Menschheitsgeschichte und individuelle Lebensgeschichte verknüpft, vermeidet es, den Schülern die unterschiedlichen Handlungsorientierungen und Wertsysteme in der Geschichte als ein buntes, beliebiges und zufälliges Kaleidoskop kontingenter Ereignisse ohne eine bestimmte Entwicklungslogik vorzustellen. Wenn die Muster moralischen Handelns stets kontingent wären, wäre eine historistische Relativierung begründet. Eine solche Annahme schränkt die historischen Erkenntnismöglichkeiten ein, man kann aber mehr erkennen, als der Historismus für möglich hielt.
Wenn Geschichtsbewusstsein strukturiert ist, d. h. über die oben ausgewiesenen kategorial wirkenden Strukturmomente definiert ist, ergibt sich daraus der praktische Aspekt. Eine solche Strukturierung kann als Dimensionierungsvorschlag für empirische Forschung sowie als Diagnose-, Analyse- und Planungsinstrument in einer geschichtsdidaktischen Pragmatik Verwendung finden. Die Strukturbestimmung macht Geschichtsbewusstsein für Empirie erforschbar und für Pragmatik identifizierbar. Wir wissen dann, wann wir Geschichtsbewusstsein vor uns haben und wann nicht. Das ist der anfangs skizzierte normative Aspekt.
Bisher ist aber nur von Strukturmomenten die Rede gewesen. Es wurde vorausgesetzt dass diese Momente eine Struktur bilden. Deshalb müssen jetzt noch einige Hypothesen über das Zusammenwirken der Strukturmomente angefügt werden. Das Zusammenwirken der einzelnen Strukturmomente von Geschichtsbewusstsein kann man vielleicht am besten durch eine Matrix ausdrücken (15), in der die Flächen, Linien, Punkte kategorial verfasste und noch nicht inhaltlich gefüllte Potentionalitäten der möglichen Ausprägung von Geschichtsbewusstsein bedeuten. Das Matrixmodell hat den Vorteil, dass das Geschichtsbewusstsein nicht durch die verschiedenen Inhalte (unterschiedliches Wissen) erklärt wird, sondern durch die prinzipiell gleichen Kategorien.
Diese Struktur, dieses Gitterwerk, hätte die Funktion, dargestellte Geschichte wahrnehmbar zu machen. Das würde aber noch nicht die verschiedenen individuellen Ausprägungen des Geschichtsbewusstseins erklären. Geschichtsbewusstsein hat aber nicht nur eine Wahrnehmungsfunktion, sondern auch eine Deutungsfunktion, und diese Deutung erfolgt individuell und soziokulturell unterschiedlich. Es sind zwar alle Strukturmomente an der (intellektuellen) Verarbeitung und Deutung von Geschichte beteiligt, aber nicht alle in gleicher Weise.
Die bisher vorgestellte Struktur sagt noch nichts darüber aus, wie ein konkret individuelles Geschichtsbewusstsein aussieht und sich von dem Geschichtsbewusstsein eines anderen Individuums unterscheidet. Eine solche Strukturbestimmung sagt vorerst auch nichts darüber aus, was passiert, wenn Geschichtsbewusstsein lebensgeschichtlichen Wandlungsprozessen unterworfen wird. Solche Wandlungen ergeben sich bei einschneidenden lebensgeschichtlichen Erfahrungen in historischen Situationen oder Ereignisketten und durch Denkprozesse über Geschichte, durch Nachdenken, das allerdings durch Gegenwartserfahrungen ausgelöst wird. Eine tiefgreifende Veränderung des Geschichtsbewusstseins - vielleicht die wichtigste - erfolgt in der Adoleszenz. Nicht, dass jetzt erst Geschichtsbewusstsein ausgebildet würde, wie die ältere Entwicklungspsychologie noch behauptet, sondern es erfolgt in der Adoleszenz eine tiefgreifende Umstrukturierung. Daraus müssen für eine elaborierte Theorie des Geschichtsbewusstseins Konsequenzen gezogen werden: Die Struktur des Geschichtsbewusstseins, die zunächst noch statisch ist, muss dynamisiert werden: sie muss individuelle Unterschiede wie lebensgeschichtliche Wandlungen erklären.
Die Struktur wird durch sozial und individuell unterschiedliche Kombinationen von Strukturmomenten gebildet. Das macht die Pluralität von Geschichtsbewusstsein aus.
Bestimmte soziale und individuelle Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein beinhalten die für sie typische Dominanz von bestimmten Strukturmomenten und verweisen die anderen auf einen niedrigeren Rangplatz. Es gibt somit basale und ephemere Strukturmomente in den einzelnen Typen von Geschichtsbewusstsein. Ob allerdings im Laufe der Lebensgeschichte das Kontinuum von basalen bis ephemeren das gleiche bleibt, ist damit noch nicht gesagt.
Es ergeben sich also "Verzerrungen" der Strukturierung, die nicht nur individuelle Verschiedenheit ausdrücken, sondern darüber hinaus auch die Sinnbildungsprozesse bei der kreativen Produktion wie auch bei der produktiven Transformation von Geschichten anzeigen können. Wo sich die Strukturverzerrungen kumulieren, wäre also die individuell eigenartige "Sinnmitte" des Geschichtsbewusstseins zu lokalisieren, die die Ereignisbeschreibungen zu sinnvollen Geschichten erzählt. Sinnbildungsprozesse müssen von einem anfangs "leeren" Sinnzentrum ausgehen, wenn es sich um Bildungsprozesse handelt, also um solche Prozesse, in denen etwas entsteht. Sinnbildung entsteht somit durch Verzerrung der idealtypischen Struktur, d. h. einzelne Dimensionen verschieben sich und bilden damit ein Sinnzentrum aus.
Konkrete Formen von Geschichtsbewusstsein könnten etwa dann in den folgenden Arten beschrieben werden:
Über die Beschreibung von Geschichtsbewusstsein durch die ausgewiesenen Doppelkategorien ließe sich sicherlich hinsichtlich Vollständigkeit und zureichender Definition der einzelnen Momente diskutieren. Mein Vorschlag zielt in erster Linie aber auf zwei mir wichtig erscheinende Punkte:
Wollte man die ersten drei Strukturmomente (Zeit, Wirklichkeit, Historizität), die in der Tat eine grundlegendere Ebene des Geschichtsbewusstseins bilden als die übrigen vier (Identität, Herrschaft, Sozialschicht, Moral), allein zur Definition von Geschichtsbewusstsein heranziehen, so würde Geschichtsbewusstsein entpolitisiert und dem Gesamtbereich "Geschichte" nur sehr verkürzt Rechnung getragen.
1 Vor zehn Jahren habe ich mit Ulrich Mayer den Versuch gemacht, "Kategorien der Geschichtsdidaktik" über die Analyse von Sprachverwendung und Sprachhandeln zu erkennen. Dieser Ansatz - damals zum Zwecke der Unterrichtsanalyse unternommen - kann auch für die empirische Erforschung von Geschichtsbewusstsein genutzt werden. Vgl. Mayer, U.; Pandel, H.-J. (1976) Kategorien der Geschichtsdidaktik und Praxis der Unterrichtsanalyse. Stuttgart.
2 Um die Kategorie Zeit sprachlich erkennbar zu machen, ist die linguistisch gerichtete Untersuchung von Wunderlich immer noch unübertroffen. Vgl. Wunderlich, D. (1970) Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, München. Zu dieser und den folgenden zwei Hinsichten vgl. Riegel, K. (1978) Versuch einer psychologischen Theorie der Zeit. In: Rosenmayr, L. (Hrsg.) Die menschlichen Lebensalter. München, 269-292.
3 Zu dieser und den folgenden zwei Hinsichten vgl. Riegel (1978).
4 Vgl. auch die Analysen von Autobiographien, die Bodo von Borries in seinem Beitrag in Gd 1/1987 vorgelegt hat.
5 Diese Ergebnisse verdanke ich der Arbeitsgruppe Barbara Glosemeyer, Frank König, Stefan Oelschig und Martin Pohimann, die sich der Mühe unterzogen haben, die hier vorgeschlagenen Doppelkategorien in einer ersten empirischen Untersuchung bei Osnabrücker Studenten zu testen.
6 Anschauungsmaterial hierfür findet sich in der Debatte der letzten Jahre über die "Deutsche Frage" und "Wiedervereinigung". Die zeitliche Verortung der eigenen Wünsche gilt als real; Illusionen und falsche Vorstellungen sind immer bei den anderen zu finden.
7 Ob der von mir gebrauchte Begriff der Geschichtlichkeit mit der "Geschichtlichkeit" der Geschichtsphilosophie Gemeinsamkeiten hat, kann hier nicht ausdiskutiert werden. Zur Orientierung vgl. Bauer, G. (1963) Geschichtlichkeit. Wege und Irrwege eines Begriffs. Tübingen.
8 Vgl. Meier (1985) "Nichts zeigt die Schwierigkeit, die wir mit der Geschichte haben, so deutlich wie unsere Unfähigkeit, in der zeitlichen Dimension Wir zu sagen; unsere Vorfahren also einzuschließen, in ein Ganzes, dem auch wir selbst angehören. Mit elf Männern auf dem Rasen können wir uns identifizieren, wenn wir etwa 2 zu 0 gegen Wales spielen. Aber dass wir 1870/71 gegen Frankreich gekämpft hätten - um vom Zweiten Weltkrieg zu schweigen -, sagen wir nicht. So etwas sprechen wir distanzierend ,den Deutschen' zu. Unsere Großväter dagegen konnten meinen, im Jahre 9 nach Christus die Römer im Teutoburger Wald besiegt zu haben. Sie lasen Tacitus' Germania, um über sich selbst etwas zu erfahren. Sie fühlten sich mit Vatermörder und Zylinder den alten Germanen verwandter als den Franzosen ihrer Zeit".
9 Vgl. dazu das Kapitel 2.7.
10 Ein kritischer Punkt bei bundesrepublikanischen Schülern ist ihr Verhältnis zu Kommunisten (bzw. was sie dafür halten) und zur DDR. Ein "richtiger" Deutscher kann kein Kommunist sein, aber gleichwohl sind Kommunisten wieder Deutsche. Das Verhältnis zur DDR ist ebenso problematisch. Bundesrepublik und DDR werden nicht als zwei Teile einer ursprünglich staatlichen und kulturellen nationalen Einheit angesehen, sondern die DDR erscheint den Schülern als ein abgetrennter Teil der Einheit Bundesrepublik. Vgl. dazu das Anschauungsmaterial, das Boßmann geliefert hat: Boßmann, D. (Hrsg.) (1978) Schüler über die Einheit der Nation, Ergebnisse einer Umfrage. Frankfurt/M.
11 Vgl. dazu Kapitel 2.7.
12 Vgl. Pandel, H.-J. (1985) Moralische Entwicklung. In: Bergmann, K. (1985) u. a. (Hrsg.) Handbuch der Geschichtsdidaktik. Düsseldorf, 279-286. und Miller, M. (1980) Zur Ontogenese moralischer Argumentationen. In: LiLi 10, Nr. 38/39, 58-109.
13 Vgl. die Zusammenfassung bei Pandel (1985).
14 Erste empirische Voruntersuchungen scheinen diesen Tatbestand des kindlichen Historismus zu bestätigen.
15 Den Gedanken des Matrixmodells verdanke ich meinem Osnabrücker Kollegen Walter Aschmoneit, der mich an den verschiedenen Stufen seiner Ausformulierung teilnehmen ließ. Dieses Matrixmodell ist von Walter Aschmoneit zum Zwecke der transkulturellen Analyse entwickelt worden. Vgl. Aschmoneit, W. (1985) Kulturvergleich, Entwicklung und Matrixmetapher (mit Beispielen aus der Kultur Kambodschas). In: Internationales Asienforum 16 (3/4), 215-244.
16 Dass hier auch komparatistische Arbeiten als Strukturvergleiche möglich sind, soll nur angemerkt, aber nicht mehr ausgeführt werden.
Aschmoneit, Walter (1985): Kulturvergleich, Entwicklung und Matrixmetapher (mit Beispielen aus der Kultur Kambodschas). In: Internationales Asienforum. Jg. 16 (3/4), Seite 215-244.
Autorenkollektiv am psychologischen Institut der Freien Universität Berlin 1971.
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Boßmann, Dieter (Hg.) (1978): Schüler über die Einheit der Nation, Ergebnisse einer Umfrage. Frankfurt/M. : Fischer-Taschenbuch.
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Geschichtliche Weltkunde. (1975): Bd. 2. Frankfurt/M.: Diesterweg.
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