1. Schlechte Startchancen

Unter dem Paradigma der subjektorientierten individuellen Kompetenzentwicklung wird der Begriff Benachteiligung, der implizit auf die Grenzen der entsprechenden Förderkonzepte verweist, gern vermieden. Statt dessen spricht man lieber von Jugendlichen mit schlechten Startchancen. Doch worin bestehen diese Startchancen, was macht ihre Qualität aus? Um im Bild zu bleiben: welche Gestalt haben die Stolpersteine, wie hoch sind die Hürden und wer verfügt über die Schlüssel für die verschlossenen Türen?

Schon lange bevor ein Jugendlicher eine Entscheidung für (oder gegen) einen Ausbildungsplatz treffen kann, hat er bereits institutionelle, ideologische und soziale Selektions- und Normierungsprozesse durchlebt, die seine [/S. 210:] Chancen auf dem Ausbildungsmarkt wesentlich prägen. Zentrale Bedeutung für den erfolgreichen Verlauf ebenso wie für die Störungen der Bildungsbiografien von Jugendlichen kommt dabei der Rolle und Funktion von Schule zu.

 

1.1 Risikofaktor Schule

Bereits wenn ein Kind zehn Jahre alt ist, entscheiden in den meisten Bundesländern LehrerInnen und Eltern über den weiteren Schulweg und damit auch über die Orientierung in Richtung auf eine höhere, akademische Bildung oder in Richtung auf einen Ausbildungsberuf. Eine positive Veränderung dieser Entscheidung ist später kaum noch möglich, ohne gleichzeitig eine deutliche Verlängerung der (Aus-)Bildungszeit in Kauf zu nehmen.

In einer Gesellschaft, in der Bildung als Kapital und Chance gewertet wird, gerät die zentrale Vermittlungsinstanz Schule zum Risikofaktor, dessen Selektionsmechanismen über zukünftige Chancenverteilung entscheiden. Leistungsdruck und Lernkultur in der Regelschule sind oft schon für Kinder aus intakten sozialen Verhältnissen schwer zu bewältigen, unter verschärften Bedingungen stehen sie positiven Lernerfahrungen und Erfolgserlebnissen erst recht entgegen. Soziale Probleme wirken sich negativ auf das schulische Lernen aus. Jugendlichen, die gestörte Beziehungserfahrungen bewältigen müssen, die erhebliche Geldsorgen haben oder denen Gewalt angetan wurde, gelingt es oft nicht, den schulischen Anforderungen gerecht zu werden; dies gilt auch für Jugendliche, die mit Suchtproblemen kämpfen oder mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Aber auch diejenigen Jugendlichen, in deren kultureller Orientierung eine duale Ausbildung einen weniger zentralen Stellenwert einnimmt oder die Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben, sind oft nicht einfach für einen deutschen Hauptschulabschluss zu motivieren.

Allerdings haben die schulischen Bewertungsmechanismen eine so zentrale soziale Orientierungsfunktion, dass sie in hohem Maße entscheidend für eine gelungene Integration in Arbeit geworden sind - bzw. für den sozialen Ausschluss. Auf den ersten Schritten ins Arbeitsleben haben Jugendliche neun oder zehn Jahre Schulerfahrung im Gepäck und insbesondere das letzte Zeugnis kann sich als Ballast erweisen. Für Ausbilder und Arbeitgeber ist es in der Regel das Hauptkriterium für eine erste Einstellungsentscheidung. Hinzu kommt, dass in vielen Berufen die Einstellungsvoraussetzungen in den vergangenen Jahren stetig gestiegen sind, so dass ein mittlerer Bildungsabschluss heute als "Leitwährung" (Storz 1999) gilt, mit der ein Ausbildungsplatz erworben werden kann.

Schule erweist sich in dreierlei Hinsicht als Risikofaktor für Benachteiligungen: Erstens ist das für eine gelungene Integration in Ausbildung und [/S. 211:] Beruf gerade unter erschwerten Bedingungen notwendige Handlungs- und Orientierungswissen nicht Bestandteil der aktuellen Curricula (Warzecha 2001, S. 7). Die Inhalte und Methoden schulischen Lernens sind wenig am Arbeitsleben orientiert (vgl. auch Rademacker 2002) und nicht ausreichend auf die Sozialwelt der Jugendlichen bezogen. Was in der Schule gelehrt wird, erscheint für den Alltag sozial benachteiligter Jugendlicher oft wenig handlungsrelevant. Zweitens befähigen schulspezifische Lernformen und Vermittlungskulturen nicht zu einer selbstständigen, selbstbewussten, kreativen beruflichen Orientierung. Schulische Lernerfahrungen erweisen sich daher oft als schwere Hypothek in der Phase der beruflichen Orientierung. Die Art und Weise, wie Lernprozesse in der Schule als Wissensvermittlung organisiert sind, hat für die Mehrzahl der so genannten benachteiligten Jugendlichen dazu geführt, dass sie sich diesem Bewertungssystem entzogen haben, sei es durch Leistungsverweigerung oder durch gänzliche Schulabstinenz. Drittens schließlich wirken schulspezifische Bewertungssysteme als zentrale soziale Selektionsmechanismen.

 

1.2 Risikofaktor Geschlecht

Männliche Jugendliche haben durchschnittlich schlechtere Bildungsabschlüsse als ihre weiblichen Altersgenossinnen. Sie finden schwerer einen Ausbildungsplatz, obwohl dies eher von ihnen erwartet wird, denn nach wie vor wirkt das Modell des männlichen Familienernähers implizit in vielen Instanzen der geschlechtsspezifischen Sozialisation fort. Oft versuchen sie dieses Dilemma zwischen Verhaltensanforderung und real begrenzten Handlungsmöglichkeiten durch betont männliche Verhaltensmuster für sich zu lösen. Es sind daher in der Mehrzahl männliche Jugendliche, die zur Zielgruppe spezifischer Fördermaßnahmen werden.

Für weibliche Jugendliche stellt sich die Situation am Übergang von Schule in Ausbildung anders dar. Mit den Erziehungs- und Pflegeberufen z. B. stehen ihnen mehr schulische Ausbildungswege offen, die im Einklang mit geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen stehen. Allerdings wirkt sich ihr Geschlecht verstärkt benachteiligend aus, wenn sie unter erschwerten Bedingungen auf den Ausbildungsstellenmarkt treten. "Mädchen zu sein ist am Arbeitsmarkt schlimmer, als keinen Schulabschluss zu haben" (BMBF 1997, S. 21). [/S. 212:] Dies erfahren vor allem junge Migrantinnen oder junge allein erziehende Mütter, für die, zunächst als Modell, gezielte Förderprogramme entwickelt wurden.

 

1.3 Risikofaktor Berufsbildungssystem

Das Modell der dualen Berufsausbildung ist in unserer Gesellschaft überaus dominant. Die berufliche Orientierung Jugendlicher erfolgt in Deutschland stets im Blick auf einen Ausbildungsabschluss. Das wohl strukturierte Berufsbildungssystem erweist sich aber auch als Falle für diejenigen, die den Qualifikationsanforderungen nicht gerecht werden können, denn es erschwert weniger formale Übergänge in Ausbildung und Arbeit. Zudem stellt es junge Menschen zu einem relativ frühen Zeitpunkt vor Zukunftsentscheidungen mit großer Tragweite. In Skandinavien oder Großbritannien erscheint es normaler, dass Jugendliche sich noch nicht auf einen bestimmten Beruf festlegen, sondern sich zuvor in verschiedenen Tätigkeiten erproben möchten, dass sie zunächst eine Phase der Orientierung einfordern, die ihnen eine möglichst vielfältige Einsicht in das Arbeitsleben vermitteln sollte. So ist es für englische Jugendliche normal, nach der Schulzeit eine Zeit lang zu jobben, bevor sie sich auf einen bestimmten Beruf festlegen. In Ländern, deren Ökonomie von kleinen und mittleren Betrieben geprägt ist wie z. B. Griechenland, wird die soziale Integration von Jugendlichen oft durch die Mithilfe in Familienbetrieben gesichert. Andernorts finden - vor allem männliche - Jugendliche eine Beschäftigung auf dem grauen Arbeitsmarkt, mit der sie ihren Lebensunterhalt zumindest kurzfristig sichern können. Entsprechende Modellprogramme in Portugal wenden sich direkt an diese Zielgruppe und versuchen sie für eine Ausbildung zu motivieren.

Die klar geregelten Bahnen des Übergangs von Schule in Ausbildung werden in Deutschland von der Berufsberatung der Arbeitsämter entscheidend mitgestaltet. Die Beratung orientiert sich in aller Regel stärker an den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes als an den individuellen Orientierungen. Mit ihrer Definitionsmacht über Benachteiligung sichert sie schulische und soziale Selektionsprozesse ab. Hinzu kommt, dass die erwachsenen Fachkräfte (Berufsberater, Lehrer, Sozialpädagogen), die den Berufswahlprozess von Jugendlichen begleiten sollen, Normen und Werte transportieren, die ihre eigenen Kenntnisse und Einstellungen über mögliche Ausbildungsberufe widerspiegeln und dadurch dem Entscheidungshorizont benachteiligter Jugendlicher nicht immer angemessen gerecht werden können. Sie orientieren sich implizit noch oft an der Idee des Normalarbeitsverhältnisses einer lebenslangen sozialversicherungspflichtigen Vollzeittätigkeit und nehmen nur selten Alternativen dazu in den Blick. "Bei der Festlegung des Ausbildungsangebotes geben dann letztlich die vermeintlich [/S. 213:] unzureichenden Voraussetzungen der Jugendlichen und traditionelle handwerkliche idealisierende Berufsvorstellungen den Ausschlag. (...) Die Folge ist eine Ausbildung in wenig zukunftsträchtigen Berufen. (...) Trotz der dargestellten starken Personenorientierung in der Sichtweise wird die Ausbildung im Alltag sehr stark von den Anforderungen spezialisierter und veralteter Berufe bestimmt." (Biermann/ Rützel 1996, S. 6)