Beiträge 1990-2004

 

Borries, Bodo von (1998): Jugendliche Geschichtsvorstellungen und Politikeinstellungen im europäischen Ost West Vergleich. Das Beispiel Demokratie. Befunde einer komparativen empirischen Studie in 9. Klassen 1994/95

 

1. Fragestellung, Teilnehmer und Methode

Die europäische Wende von 1989/91 hat - unbeschadet vieler Enttäuschungen und Konflikte - eine neue politische und intellektuelle Konstellation geschaffen. Das "Ende der Nachkriegszeit" eröffnet die Chance dauerhafter neuer (und friedlicher) Strukturen wie das Risiko extrem labiler und asymmetrischer Verhältnisse. In diesen werden die geschichtlichen Vorstellungen und politischen Einstellungen von Jugendlichen künftig sicherlich eine hoch bedeutsame Rolle spielen. Europäische Integration (oder Desintegration), ethnische Konflikte und Säuberungen (oder interkulturelle Harmonie), demokratische Stabilität (oder diktatorisch-populistische Abenteuer), Konfrontation zwischen Westeuropa und der osteuropäischen Zentralmacht Russland (oder Kooperation beider) werden auch durch den Bewusstseinsstand von Bevölkerungen mitbestimmt - neben dem Einfluss von Wirtschaftsinteressen und Machtpositionen.

Es lohnt sich also, mit wissenschaftlichen Mitteln empirischer Sozialforschung Landkarten allgemeiner und besonderer historisch-politischer Mentalitäten von Jugendlichen in Europa zu erstellen: Wie steht es z. B. mit Deutungen zu Mittelalter, Kolonialismus, Industrialisierung und Nationalsozialismus? Was halten die Jugendlichen von Nation und Europa, Demokratie und Fortschritt? Welche Erklärungen und Lösungsvorschläge haben sie für ökonomische Ungleichheit und ethnische Konflikte, Wanderungsbewegungen und Menschenrechte? Wie sehen sie die Zukunftsprobleme von Frieden, Freiheit, Wohlstand und Umweltschonung? Wie bringen sie historische Erfahrungen und Änderungstrends in ihre Gegenwartsbeobachtungen und Zukunftserwartungen ein?

Neben der pragmatischen und politischen Bedeutung eines solchen Kartierungsversuchs von Mentalitäten sind von einer kulturvergleichenden Betrachtung selbstverständlich auch theoretische Einsichten in Struktur und Genese historischen Bewusstseins zu erhoffen. Wieweit lassen sich theoretische Grundlegungen empirisch verifizieren oder falsifizieren? Es gibt - außer Feldexperimenten und Längsschnittstudien - z. B. keine besser geeignete Methode, um die Beziehungen zwischen Reifungsprozess und Sozialisationsabhängigkeit des Geschichtsbewusstseins aufzuklären. Im weiteren Verlauf kulturvergleichender Empirie könnten [/S. 209:] z. B. die geschichtslogischen Niveaus der traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Sinnbildung näher untersucht werden. Solche Studien dürften auch zu mehr Bescheidenheit, Nüchternheit und Bodenhaftung didaktischer Konzepte beitragen oder verdeckte normative Vorgaben in den erkenntnistheoretischen Analysen aufdecken.

Große europäische Kulturvergleiche sind ideologisch und organisatorisch überhaupt erst durch die Öffnung von 1989/91 möglich geworden. Seit 1991 wurde unter Leitung von Magne Angvik (Bergen), Bodo von Borries (Hamburg) und Lászlo Kéri (Budapest) ein Netzwerk nationaler Koordinatoren für "Youth and History. The Comparative European Project an Historical Consciousness among Adolescents" aufgebaut, das bald etwa 30 Territorien umfasste. 1992 wurde eine Pilotstudie in neun Ländern mit 900 Befragten durchgeführt (2). Die Finanzierung einer Hauptstudie war gleichwohl ein großes Problem. Nach jahrelangen vergeblichen Anträgen bei öffentlichen Stellen hat die Körber-Stiftung (Hamburg) die Kosten des internationalen Managements und der internationalen Auswertung übernommen. Die Europäische Kommission (Brüssel) steuert beträchtliche Summen bei, jedoch nur für ihre Mitglieder und einige Assoziierte. In vielen Ländern sind weitere Stiftungen, Universitäten und Regierungen mit nennenswerten Summen an der nationalen Finanzierung beteiligt.

Im Schuljahr 1994/95 wurden also über 31.000 Schülerinnen und Schüler 9. Klassenstufen (d.h. 800 bis 1.200 pro Land je nach vermuteter Homogenität oder Heterogenität) gemeinsam mit ihren mehr als 1.250 Lehrpersonen im Geschichtsunterricht befragt. Es nahmen - meist mit reinen Zufallsstichproben auf Klassenebene oder mit vorzüglich vertretbaren Konvenienzsamples (3) - über 25 Länder teil.

  • Den ersten großen Block bilden zehn "postsozialistische" Länder, darunter vier Nachfolgestaaten der UdSSR (Russland, Ukraine Litauen und Estland), zwei Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Slowenien, Kroatien), drei Visengradstaaten Ostmitteleuropas (Polen, Tschechien und Ungarn) und Bulgarien (4).
  • Dem stehen im Westen elf Länder der Europäischen Union gegenüber, die skandinavischen Mitglieder (Dänemark, Schweden, Finnland), Großbritannien (England/Wales und Schottland), die iberischen Staaten (Portugal, Spanien), Griechenland und vier der Gründungsmitglieder (5): Frankreich, Italien, Belgien (nur Flandern) und Deutschland (mit den 1990 beigetretenen Ländern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) (6). [/S. 210:]
  • Dazu kommen eine Reihe von Ländern am Rande und in der Nachbarschaft Europas. Island und Norwegen sind der Europäischen Union eng assoziiert; neuerdings ist auch die Türkei vertraglich näher herangerückt. Israel wurde mit zwei unabhängigen Teilstichproben (Staatsnation und israelische Araber) berücksichtigt; außerdem wurden Palästinenser (in Ostjerusalem, Westjordanland und Gaza-Streifen) befragt (7). Die Einbeziehung solcher nicht- oder marginal-europäischer Gemeinschaften erlaubt - bis zu einem gewissen Grade - eine Kontrolle des gemeinsamen europäischen Charakters der restlichen Stichprobe und schützt vor der Deutung ihrer Reaktionen als allgemein-menschlicher.
  • Die Analyse soll jedoch auch unterhalb der Nationalstaaten für das Verhältnis zwischen staatstragenden Mehrheiten und anerkannten kulturellen Minderheiten (sprachlicher, ethnischer und konfessioneller Art) fortgesetzt werden. Die je zwei unabhängigen Samples in Großbritannien und Israel wurden schon erwähnt. Außerdem ist in Italien neben der nationalen Stichprobe eine besondere Stichprobe in der multikulturellen Provinz Südtirol (mit den drei Sprachgruppen des Italienischen, Deutschen und Ladinischen) befragt worden; in Russland wurde mit den Mari eine besondere autonome Gruppe einbezogen. In Estland lässt sich das knappe Drittel Russen mit der Mehrheit der Esten vergleichen. Die Jugendlichen wurden während zweier Schulstunden (95 Minuten) mit etwa 300 Fragen konfrontiert - und reagierten meist sehr positiv und vollständig. Dabei mussten sie fast ausnahmslos nur auf fünfstufigen Likertskalen von "nein, gar nicht" (1) bis "ja, sehr" (5) auswählen und ankreuzen. Die Begrenztheit dieser mechanischen Fragetechnik, die zunächst (auf der Ebene der einzelnen Frage) wohl Stellungnahmen, aber kaum Argumentationen und Zusammenhänge aufklären kann, ist uns sehr wohl bewusst. Für "Youth and History" gab es jedoch einige zwingende (oder wenigstens überzeugende) Gründe für die Wahl geschlossener Fragen.
  • Die Codierung offener Antworten bei repräsentativen Stichproben tausender Probanden wäre sehr aufwendig und teuer und nur begrenzt reliabel; sie würde zudem das Problem absoluter Bedeutungsgleichheit in verschiedenen Sprachen dramatisch verschärfen, weil es sich dann nicht mehr auf den Fragebogenwortlaut begrenzen ließe, bei dem mit Übersetzung und unabhängiger Rückübersetzung eine methodische Kontrolle möglich ist.
  • Bei offenen Fragen, d. h. selbst frei produzierten, argumentativen Antworten, ist man viel stärker von aktiver Sprach- und Schriftbeherrschung der Befragten sowie von ihrer Motivation abhängig. In entsprechenden Untersuchungen haben sich bei etwas schwierigeren Fragen Datenverluste bis 50 oder 60 % als üblich erwiesen. Das verzerrt grob die Repräsentativität, da unter weniger Intelligenten, Selbstsicheren und Motivierten ein viel größerer Anteil ausfällt. Im internationalen Vergleich drohen ebenfalls Einbrüche, und zwar in verschiedenen Ländern in abweichendem Maße (8).
  • Eine gewisse Argumentativität und Komplexität der Antworten kann auch bei geschlossenen Fragen (mit vorgegebenen Antwortalternativen) dadurch erzeugt werden, dass nacheinander die Zustimmung zu verschieden pointierten - auch gegensätzlichen - Argumentationsweisen abgerufen wird. Von diesen Möglichkeiten ist im Fragebogen vor allem bei historischen Dilemmata und politischen Entscheidungen reichlich Gebrauch gemacht worden. Proteste gegen die Primitivität von Likertskalen bleiben ganz vereinzelt (sie kommen [/S. 211:] nach Erfahrungen in anderen Studien nur gelegentlich bei besonders intelligenten Zwölftklässlern vor).
  • Die einzelne Antwort auf einer Likertskala wird zwar mechanisch gegeben und nicht legitimiert; ihre positive, negative oder fehlende Kombination mit zahlreichen anderen Antworten, die statistisch einfach und perfekt geprüft werden kann (z. B. Korrelationen), erlaubt aber zahlreiche Rückschlüsse auf Argumente und Strukturen, auch soweit sie den Antwortenden selbst kaum bewusst sind. Die Herstellung eines solchen Netzwerkes von Antworten setzt klar verarbeitbare und in sich einigermaßen simple (und vollständige) Einzeldaten voraus.
 

2. Themenkomplex "Demokratie" als Auswahlkriterium und Darstellungsbeispiel

Es erscheint vernünftig, die Vorstellung des fast unerschöpflichen Materials um ein einziges Thema zu bündeln, auch wenn dabei die Gesamtbetrachtung der Struktur von Geschichtsbewusstsein (und sogar der Bezug auf vergangene Geschehnisse) teilweise verloren geht. Dafür habe ich "Demokratie" gewählt, weil das Ausmaß demokratischer Hoffnungen und Überzeugungen sowie antidemokratischer Risiken und Gewohnheiten in Osteuropa und Ostmitteleuropa seit 1991 die Öffentlichkeit besonders interessiert. Ein Stichwort dieser Nachfrage lautet z. B. "Chancen zur Entwicklung von ,offener Gesellschaft' bzw. ,civil society'".

 

2.1. Wichtigkeit von "Demokratie"

Zu den Fragen des Fragebogens gehörte "Wie wichtig sind Dir die folgenden Dinge?" mit Einzelitems u.a. zu "Demokratie" und "Meinungsfreiheit für alle". Im gesamten Sample erhält Demokratie nur einen mittleren Stellenwert (MOverall = 3.46), weit hinter Meinungsfreiheit (MOverall = 4.27, vgl. Grafik 1) (9). Private Werte (Familie, Freunde, Hobbys) liegen weit höher - meist auch vor Meinungsfreiheit. Auch solidarische Werte (Frieden, Umweltschutz soziale Sicherheit, Hilfe für Arme Hilfe für die Dritte Welt) zählen weit mehr als Demokratie, im Mittel etwa so viel wie Meinungsfreiheit (z. B. Solidarität für Dritte Welt: MOverall = 3.72, Umweltschutz: MOverall = 4.39). Weniger wichtig als Demokratie sind nur "mein religiöser Glaube" (MOverall = 3.16) und "Europäische Zusammenarbeit" (MOverall = 3.13). Etwa auf gleicher Höhe befinden sich materielle Interessen "Geld und Wohlstand für mich selbst" (MOverall = 3.56), und ethnozentrische Werte, "mein Land" (MOverall = 3.84) und "meine ethnische Gruppe/Nationalität" (MOverall = 3.48).

Das ist ein erstaunliches und aufregendes Ergebnis auch wenn man das Alter der Jugendlichen bedenkt. Natürlich stehen bei ihnen persönliche Dinge im Vordergrund; es handelt sich ja noch nicht um politische Aktivbürger, sondern um Pubertierende. Das Vorwiegen privater Werte der Primärgruppe ist also naheliegend; weniger selbstverständlich ist das Übergewicht kollektiv-solidarischer Werte sekundärer Systeme (auch über große Entfernungen bis in die "Dritte Welt").

Offenkundig spiegeln die Jugendlichen hier kulturelle Selbstverständlichkeiten ihrer Umgebung, geben in diesem Sinne "sozial erwünschte Antworten". Wahrscheinlich hilft der Vergleich von "Demokratie" und "Meinungsfreiheit" weiter: Das scheinbar Konkretere [/S. 212:]

 

wird viel wichtiger genommen. Zugleich heißt das: Freiheitsrechte werden als selbstverständliches Konsumgut angenommen, nicht als zu gestaltende und zu verantwortende Aufgabe angesehen.

Diese These lässt sich leicht beweisen. In einer anderen Fragegruppe wurden die Jugendlichen gebeten, ihre persönlichen Erwartungen für die Zeit in vierzig Jahren anzugeben. Erneut liegen die kommunikativen (Familie, Freunde) und wirtschaftlichen (Beruf, Einkommen) Erwartungen weit vor den politischen Prognosen. Ein scharfer Gegensatz besteht zudem zwischen der künftigen Hinnahme von "persönlicher politischer Freiheit" (MOverall = 3.61) und der künftigen Teilnahme an "politischer Arbeit" (MOverall = 2.28). Der einmal krass positive, einmal krass negative Mittelwert spricht für sich (vgl. Grafik 2).

Einen entschiedenen Willen zur politischen Partizipation gibt es nicht, wohl aber einen intensiven Anspruch auf Selbstentfaltung und Glück. Das Selbstverwirklichungsverlangen reicht auch in die politische Sphäre hinein, weil es auf individualistische Freiheitsrechte angewiesen bleibt. Die Zweiteilung der persönlichen Erwartungen ("persönliche Freiheit" vor "politischer Teilhabe") bestätigt die Abstufung der Wichtigkeit ("Meinungsfreiheit" weit vor "Demokratie").

Wie steht es nun mit der länderspezifischen Verteilung? Die Bedeutung der Demokratie zeigt klare Minima (teilweise sogar im negativen Bereich) in mehreren "postsozialistischen", aber auch in einzelnen skandinavischen Ländern (Dänemark, Finnland), Großbritannien (beide Gruppen), Frankreich und Portugal (vgl. Grafik 1). Demgegenüber finden sich Maxima in Griechenland, Israel (beide Gruppen), Türkei, Belgien, Deutschland, Südtirol und in einzelnen skandinavischen Ländern. [/S. 213:]

 

Von den "postsozialistischen" Ländern haben nur Tschechien und Kroatien ernsthaft überdurchschnittliche Werte. Osteuropa hat also sehr niedrige, Ostmitteleuropa unterdurchschnittliche Werte, die man als beklemmend bezeichnen könnte, wenn sie nicht mit Großbritannien, Frankreich und den iberischen Ländern geteilt würden. Das Verteilungsmuster besteht auch nicht in einem einfachen Ost-West-Gegensatz (MOst = 3.08, MOstmittel = 3.47 gegen MSüdwest = 3.69, MNordwest = 3.42) (10), sondern einem Südwest-(Nord-)Ost-Gefälle. Bei der "Meinungsfreiheit" wiederholt sich das im großen und ganzen (MOst = 4.03, MOstmittel = 4.17 gegen MSüdwest = 4.53, MNordwest = 4.30) (11), aber es gibt Ausnahmen von der Parallelität; Tschechien liegt diesmal z. B. nicht besonders hoch, sondern eher besonders niedrig (vgl. Grafik 1).

Die Erwartung persönlicher politischer Freiheit in vierzig Jahren fällt ziemlich gleichmäßig hoch aus (vgl. Grafik 2). Ernsthafte Ausrutscher nach unten gibt es nur in Ost- und Ostmitteleuropa (Estland, Russland, Ukraine, Polen, Bulgarien), zudem vereinzelt im Nordwesten (Island, Schweden, Schottland). Herausragend hohe Werte stehen dem vor allem im ostmediterranen Raum (Griechenland, Türkei, beide Gruppen in Israel) gegenüber, außerdem noch in Frankreich und Norwegen. Was immer die Motive der Jugendlichen sind: Hier finden wir kaum ein Ost-West-Muster (MOst = 3.41, MOstmittel = 3.54 gegen MSüdwest = [/S. 214:] 3.73, MNordwest = 3.59), sondern eher einen (Nord-)Ost-Nahost-Gegensatz (MOst 3.41 und MNahost = 3.91). Schaut man nachträglich noch einmal auf die Wichtigkeit von "Demokratie", so ist genau dieser Gegensatz auch dort schon angelegt (MOst = 3.08 und MNahost = 3.80).

Die künftige Teilnahme an politischer Arbeit wird - wie erwähnt - überaus skeptisch eingeschätzt (vgl. Grafik 2). Ausnahmen gibt es genau in jenen östlichen Mittelmeerländern (Griechenland, Türkei, Israel, diesmal auch Palästina), die schon die persönliche Freiheit betont haben (MNahost = 2.78 und MOst = 2.20, MOstmittel = 2.15, MSüdwest = 2.34, MNordwest = 2.18). Die Ergänzung um Palästina liegt insofern nahe, als hier besondere Aufbau-Anstrengungen nötig sein werden. Aus dem allgemeinen Muster politischer Apathie stechen aber auch Polen und die Ukraine positiv hervor, während Slowenien, Spanien, Island und Tschechien besonders trostlose Mittelwerte zeigen.

Die Angaben über politisches Interesse bestätigen den Befund; das Gesamtmittel für politisches Interesse ist deutlich negativ (MOverall = 2.52), positive Ausnahmen gibt es nur in Palästina und im arabischen Israel. Zwischen politischem Interesse und politischem Mitbestimmungswunsch besteht tatsächlich ein nennenswerter Zusammenhang (12).

 

2.2. Erwartung von "Demokratie" und Erinnerung an "Demokratie"

Das Material lässt sich durch Vergleich mit der Zukunft des eigenen Landes weiter auf Plausibilität und Konsistenz testen. Die Prognose für die Demokratie im eigenen Land in vierzig Jahren (d.h. um 2035) fällt eher bescheiden aus (MOverall = 3.50), wobei Osteuropa (außer Litauen) besonders niedrige Werte zeigt und auch Ostmitteleuropa (außer Tschechien und Kroatien) unterdurchschnittlich abschneidet (MOst = 3.21, MOstmittel = 3.46 gegen MSüdwest = 3.59, MNordwest = 3.60). Nur in Palästina ist man vergleichbar skeptisch hinsichtlich einer demokratischen Zukunft. Die positivsten Werte, d. h. den größten Optimismus legen die ostmittelmeerischen Länder (Griechenland, Türkei, Israel) an den Tag (MOst = 3.21, MNahost = 3.64), dazu Island. Nord-, West- und Westmitteleuropa bewegen sich ganz dicht am Gesamtmittel.

Völlig anders aber sieht die Einschätzung des eigenen Landes vor vierzig Jahren (also 1955) aus. Gegenüber der Zukunft ist das Gesamtmittel für "demokratisch" etwa drei Viertel Skalenpunkte niedriger (MOverall = 2.73). Das beruht auf durchweg deutlich negativen Mittelwerten aller 10 "postsozialistischen" Länder (vgl. Grafik 3). Es handelt sich um den maximalen gemessenen Ost-West-Unterschied (MOst = 2.19, MOstmittel = 2.29 gegen MSüdwest = 2.90, MNordwest = 3.22) und auch einen beachtlichen Abstand zum Nahen Osten (MNahost = 2.83). Polen und Slowenien geben noch die mildesten, Bulgarien und Tschechien die härtesten Urteile ab.

Auffälligerweise haben die skandinavischen Länder durchweg positive, die westeuropäischen Länder nur neutrale Werte. Offenbar ist langfristige Demokratie besonders im Norden Teil der kulturellen Selbstverständlichkeit, aber auch des Stolzes und der Identität. Ausgesprochen negative Werte gibt es in Spanien (Franco-Zeit), abgeschwächt in Portugal (Salazar-Zeit) und bei den beiden arabischen Gruppen.Anders ausgedrückt: In den länderspezifisch unterschiedlichen Einschätzungen der "Demokratie" vor vierzig Jahren steckt ein hoher Grad an empirischer historischer Triftigkeit - von mentaler Stimmigkeit in der heutigen Situation ganz abgesehen. Die Unterschiede sind enorm: Zwischen den Osteuropäern und den Nordeuropäern liegt mehr als ein Skalenpunkt (und mehr als eine Standardabweichung der Antworten); das ist ein sehr großer Effekt.[/S. 215:]

 

Aber auch die Ostmittel- und die Westmitteleuropäer sind noch beachtliche drei Viertel Skalenpunkte (oder fast zwei Drittel der Standardabweichung) entfernt.

Einen anderen Zugriff auf die Bewertung von Demokratie in der Geschichte bieten die Fragen nach dem Gewicht bestimmter Faktoren oder Determinanten für Änderungen des menschlichen Lebens. Auch diesmal wurde sowohl nach der Entwicklung in der Vergangenheit und der in der nächsten Zukunft (von 40 Jahren) gefragt. Unter den 15 Angeboten standen für beide Zeitformen neben "Kriegen", "Revolutionen" und "Umweltkrisen" auch "jeder Mensch" sowie "soziale Bewegungen und soziale Konflikte" und "politische Reformen". Der Einfluss von "jedem Menschen" in der Vergangenheit wie in der Zukunft wurde besonders uneinheitlich eingeschätzt (jeweils größte Standardabweichung überhaupt!). Die Gesamtmittelwerte für "jeden" (MOverall = 3.26 und 3.23), die deutlich unter denen der meisten anderen Determinanten liegen, sagen daher ziemlich wenig.

Dagegen sind die nationalen Unterschiede sehr bezeichnend (vgl. Grafik 4). Die Kontraste gehen jeweils mitten durch die regionalen und systemspezifischen Ländergruppen: Isländer halten gegen die anderen Skandinavier viel von der Kraft der Individuen, Litauer und Esten gegen die anderen Osteuropäer, Tschechen und Slowenen gegen die anderen Ostmitteleuropäer, Griechen, Spanier und Portugiesen gegen die anderen Mediterranen und Belgier gegen die anderen Westeuropäer. Das bedeutet aber: Fast durchgehend (Spanien ist die einzige Ausnahme!) sind es die mit Abstand kleineren Länder, die dem "einzelnen" großen Einfluss zutrauen. Dieses Muster schlägt gegenüber den sonst so deutlichen Besonderheiten (Nord gegen Süd und Ost gegen West) weithin durch. [/S. 216:]

 

Die künftige Bedeutung jedes einzelnen ist der vergangenen überaus ähnlich. Kein Land entfernt sich ernsthaft von den Angaben für die Vergangenheit (13). Das heißt aber: Ein Wandel im Einfluss des einzelnen von der Vergangenheit zur Zukunft wird nicht ins Auge gefasst. Man hat daher den Eindruck einer ausgesprochen unhistorischen Konzeption von Demokratie bzw. Partizipation, d. h. ihrer fehlenden Verankerung in einer Entwicklung. Das hängt gewiss damit zusammen, dass die Jugendlichen nachweislich mit Fremdverstehen abweichender geschichtlicher Zustände nicht viel anfangen und heutige Ideal-Maßstäbe (z. B. Menschen- und Bürgerrechte) ziemlich undifferenziert an das Verhalten von Menschen aller Epochen anlegen.

Eine gewisse Kontrolle des (absolut untergeordneten) Stellenwertes von "Demokratie" als historischem Thema und Motor lässt sich auch mittels der Frage nach den thematischen Interessen der Jugendlichen gewinnen (vgl. Grafik 5). Von elf Sektoren liegt "die Entwicklung der Demokratie" (MOverall = 2.80) im schwach negativen Bereich und eindeutig an letzter Stelle, etwa einen Skalenpunkt hinter der "Geschichte Deiner Familie" (MOverall = 4.02) oder "Abenteurern und großen Entdeckungen" (MOverall = 3.76), aber auch einen halben Skalenpunkt hinter "den Auswirkungen von Menschen auf ihre Umwelt" und "der Geschichte bestimmter Gegenstände (z. B. ... von Autos, von Kirchen, der Musik, des Sports)". [/S. 217:]

 

Das mit Abstand größte Interesse an der "Entwicklung der Demokratie" besteht in den ostmittelmeerischen Ländern (allerdings mit einem Einbruch in Israel); etwa neutrale Werte gibt es auch in Südeuropa (mit Kroatien und Bulgarien), während Osteuropa und Teile Ostmitteleuropas (Litauen und Tschechien wiederum mit Einschränkungen) sowie Nord- und Westeuropa ein vertieftes Desinteresse zeigen (vgl. Grafik 5). Der "postsozialistische" Bereich bleibt also hinter dem Westen kaum (MOst = 2.61, MOstmittel = 2.65 gegen MSüdwest = 3.20, MNordwest = 2.65), hinter dem Nahen Osten um so weiter zurück (MNahost = 3.32). Eine tiefe Kluft besteht auch zwischen dem reservierten ("kühlen") Norden und dem enthusiastischen ("heißen") Süden des westlichen, schon vor 1989 "marktwirtschaftlichen", Europa (MSüdwest = 3.20 und MNordwest = 2.65).

Nach den Kriterien der Wichtigkeit und des Interesses, der Erinnerung und der Erwartung bleibt Demokratie also für die Jugendlichen gleichermaßen untergeordnet - ganz im Gegensatz zu der herausragenden normativen Bedeutung, die Lehrerschaft (und Fachdidaktik) dem Gegenstand und seiner Internalisierung ausdrücklich zusprechen (Lehrziel MOverall = 4.18). Im großen und ganzen sind es auch stets dieselben Länder, die dabei einerseits mit besonderer Nichtachtung hervortreten oder die andererseits wenigstens verbale Zugeständnisse machen.

Ausführlich wurde weiterhin nach Urteilen über die osteuropäische Entwicklung seit 1985 gefragt. Die Antworten sind jedoch sehr vage (bei einzelnen Fragen kreuzen bis zu 51% das unentschiedene "teils-teils" an) - und überraschenderweise in Ost- und Westeuropa fast gleich, so auch beim Item "Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft" (MOst = 3.31, MOstmittel = 3.21 gegen MSüdwest = 3.43, MNordwest= 3.25). Insgesamt wird deutlich, dass [/S. 218:] den Jugendlichen von 1994/95 die Entwicklung 10 Jahre zuvor weder aus biografischer Erfahrung noch aus offizieller Überlieferung bekannt ist; auch das soziale Gedächtnis der Familien füllt die Lücke offenbar unzureichend.

Statt weitere (mögliche) Details zu präsentieren, ist eher danach zu fragen, was die Daten (ohnehin mehr politische Einstellungen als historische Vorstellungen betreffend) wirklich aussagen. Natürlich überlegt man, ob Angaben wie die vorgestellten irgendeine logische Konsistenz und politische Relevanz aufweisen. Aus der Forschung zur "öffentlichen Meinung" ist das aber eigentlich bereits bekannt: Die Aussagen sind soziale Wirklichkeit und insofern hoch bedeutsam, auch wenn sie vielfach widersprüchlich bleiben und Meinungen das Handeln keineswegs direkt und abschließend bestimmen. Das gilt selbst für Erwachsene, nicht nur für fünfzehnjährige Halbwüchsige wie in unserer Stichprobe.

In Deutschland haben Ende September 1996 etwa zwei Drittel der Menschen die einschneidenden Sparmaßnahmen der Regierung im Sozialbereich als überzogen und überflüssig abgelehnt. Gleichzeitig haben etwa zwei Drittel die Meinung vertreten, es müsse noch viel härter gespart werden. Weit über die Hälfte war zudem überzeugt, die Steuern müssten gesenkt werden (insbesondere der Spitzensteuersatz für die höchsten Einkommen). Das ist absolut widersinnig; aber man erkennt deutlich, in welchen Punkten Regierung und Opposition jeweils erfolgreich die "öffentliche Meinung" besetzt haben und beherrschen. Nur im Sinne solcher vager und fragwürdiger, aber gesellschaftstypischer und wichtiger Orientierungen vom Hörensagen sind unsere Daten und ihre Verteilung ernst zu nehmen.

 

2.3. Begriffe von "Demokratie"

Damit können wir zu den Begriffen von Demokratie überwechseln, bei denen versucht wurde, auch einige historische Erfahrungen einzufangen. Im Gesamtmittel der Stichprobe werden alle positiven Aussagen über Demokratie vorsichtig bis lebhaft akzeptiert (MOverall ≈ 3.39), alle negativen Äußerungen schwach zurückgewiesen (MOverall ≈ 2.71, vgl. z. B. Grafik 6). Solche kritischen Aussagen waren die (theoretisch und empirisch teilweise durchaus triftigen) Feststellungen der bloßen Akklamation für Parteiführer (vgl. Grafik 6), der Lenkung durch die Reichen und Mächtigen und der Schwäche in Krisenzeiten. Die Anmahnung bisheriger Defizite von Demokratie (Wohlfahrts-Staat und Frauen-Gleichberechtigung) erhalten im Durchschnitt schwache Zustimmung (MOverall ≈ 3.40). Am positivsten kommen die Definitionen als "Regierung des Volkes über das Volk für das Volk und durch das Volk" (Lincoln) und als "Gesetzesherrschaft und Minderheitenschutz" weg (MOverall ≈ 3.60, vgl. Grafik 6), während historische Ableitungen aus dem alten Griechenland und einem langen "Prozess von Versuch und Irrtum" wenig Resonanz finden (MOverall ≈ 3.10).

Der Verweis auf die "Erbschaft des klassischen Griechenland" z. B. findet nur in Griechenland Gegenliebe. Der Hinweis auf lange und schmerzhafte geschichtliche Erfahrungen und Experimente wird im östlichen Mittelmeer (außer Griechenland), aber auch in Teilen Skandinaviens (Finnland, Island, Schweden), Ostmitteleuropas (Ungarn, Slowenien) und Osteuropas (Litauen, Estland) nur neutral (und insgesamt oft "unentschieden") betrachtet. Das gilt überraschenderweise auch für Deutschland (43 % "bin unentschieden"). Generell kann man wohl erneut eine geringe Historisierung des Demokratiekonzepts (und zugleich etwas illusionäre Vorstellungen) festhalten. Speziell muss man fragen, warum einerseits Länder mit einer alten, unproblematischen demokratischen Tradition, andererseits gerade Muster diskontinuierlicher Entwicklung (Deutschland, Ungarn, Slowenien) die Prozesshaftigkeit nicht erkennen und anerkennen.

Damit sind wir von den Gesamtmittelwerten zu den länderspezifischen Verteilungen übergegangen. Sie fallen teilweise recht abweichend aus. Die Lincoln-Formel z. B. (vgl. Grafik 6) [/S. 219:]

 

wird in Skandinavien weit stärker akzeptiert als in Osteuropa und Ostmitteleuropa (wo Tschechien erstaunlich weit nach oben und Slowenien erstaunlich weit nach unten abweicht). In Westeuropa wird Demokratie ebenso intensiv mit Lincolns Definition verknüpft wie in Skandinavien, nur dass (leider) Deutschland und Großbritannien auf den osteuropäischen Standard abrutschen (MOst = 3.54, MOstmittel = 3.53 gegen MSüdwest = 3.87, MNordwest = 3.72). Noch höher als in Skandinavien aber ist die Zustimmung im östlichen Mittelmeerraum (Griechenland, Türkei und Israel mit Palästina) (MNahost = 3.96). Das ist nun schon ein vertrautes Bild.

Die drei negativen Feststellungen werden - wie erwähnt - im Mittel abgelehnt. Es lohnt sich aber, solche Länder herauszusuchen, die im einen oder anderen Punkt neutral stehen oder zustimmen. Dass Demokratie bloße Akklamation für Parteiführer sei ("Stimmviehargument" und "realistische Demokratietheorie" im Sinne von Schaumpeter, vgl. Grafik 6) wird in Bulgarien fest behauptet, aber auch in einer Reihe anderer "postsozialistischer" Länder (Russland, Ukraine, Polen, Slowenien), in einigen westlichen Ländern (Portugal, Großbritannien, Belgien) und unter arabischen Israelis anerkannt (MOst = 3.04, MOstmittel = 2.62 gegen MSüdwest = 2.56, MNordwest = 2.64 und MNahost = 2.63). Gerade für Jugendliche ohne den Willen zu eigenem politischen Engagement (das Gesamtmittel für politisches Interesse ist deutlich negativ, MOverall = 2.52) müsste diese Feststellung an sich als empirisch korrekt gelten.

Die Kritik an der Demokratie als einer "schwachen Regierungsforen" mit fehlender Eignung für Krisenzeiten wird in Polen und Großbritannien zwar nicht geteilt, aber neutral [/S. 219:] eingeschätzt. Auch in anderen osteuropäischen (erneut außer Litauen!) und ostmitteleuropäischen Ländern (erneut außer Tschechien!) hat sie merklich höhere Werte als in Nord- und Westmitteleuropa (MOst = 2.78, MOstmittel = 2.69 gegen MSüdwest = 2.52 MNordwest = 2.63). Freilich ist man auch in den iberischen Ländern und den arabischen Stichproben etwas skeptischer (MNahost = 2.47). Im ganzen sind die Unterschiede nicht radikal; das Muster zeigt leise Anklänge an den ehemaligen Ost-West-Gegensatz, geht aber bei weitem nicht darin auf.

Dieses Bild wiederholt sich bei der Kennzeichnung: Demokratie sei "ein Vorwand, der die Tatsache verdeckt, dass die Reichen und Mächtigen in der Geschichte immer gewonnen haben". Energischen Widerstand gegen diese Formulierung gibt es nur im Ostmittelmeer (Griechenland, Türkei, Israel, auch Italien) (MNahost = 2.61) und in Tschechien und Litauen. Hier ist offenbar die Konnotation zu "Demokratie" am positivsten, da diese Länderkombination immer wieder auftaucht, obwohl es sich vermutlich nicht gerade um die wirklich basisdemokratischen Länder Europas handelt. Die höchsten (teilweise positiven) Werte werden in den britischen und iberischen Samples sowie in Ost- und Ostmitteleuropa erreicht (jedoch keinerlei Ost-West-Abstufung: MOst = 2.88, MOstmittel = 2.81 gegen MSüdwest = 2.75, MNordwest = 2.83). Auch das ist mittlerweile ein geläufiges Muster.

Aus den Items lassen sich zwei zuverlässige Konstrukte herstellen, nämlich "affirmative Konzepte von Demokratie" und "kritische Konzepte von Demokratie". Es überrascht nicht, daß Großbritannien, Iberien, Ost- und (teilweise) Ostmitteleuropa ziemlich hohe Werte an "Demokratiekritik" haben, die Ostmittelmeerländer sehr niedrige (MOst = 0.25, MNahost = -0.24, MSüdwest = -0.13). Zu diesen nicht-demokratiekritischen Gruppen gehören auch die tschechischen und (abgeschwächt) die litauischen Befragten.

Bei der "Demokratieaffirmation" stehen Bulgarien, Griechenland und Italien mit den höchsten Werten krass gegen Slowenien und Finnland, aber auch Russland, Palästina, Ungarn, Estland und Deutschland mit recht niedrigen. Hier handelt es sich nicht primär um ein Ost-West-Gefälle (MOst = -0.02, MOstmittel = -0.10 gegen MSüdwest = 0.30 MNordwest = -0.08), sondern eher um einen rhetorisch-pathetischen Demokratiebegriff des "heißen" Südens im Vergleich zum pragmatischeren und zurückhaltenderen "kühlen" Norden (MSüdwest = 0.30 und MNordwest = -0.08). Wahrscheinlich hat das mehr mit einem allgemeinen Phänomen "Enthusiasmus" versus "Reserviertheit" zu tun als mit dem besonderen Thema Demokratie.

 

3. Überlegungen zu Ertrag und Grenzen

Betrachtet man die Gesamtheit der Äußerungen über "Demokratie", so drängen sich eine Reihe von Schlussfolgerungen auf:

  • Das Konzept "Demokratie" ist insgesamt nicht sehr lebhaft im Bewusstsein der Jugendlichen verankert; das ist wahrscheinlich ebenso eine Folge ihres niedrigen Alters wie des geringen politischen und partizipatorischen Engagements auch von erwachsenen Bevölkerungen insgesamt. Die ziemlich geringe Wertigkeit wird übrigens mit den anderen abstrakten Orientierungen hoher Ebene (Staat, Nation, Europa, Glaube) mehr oder weniger geteilt; die Befragten scheinen durch so allgemeine, globale und lebensweltferne Konzepte weithin überfordert. Das Eintreten für "mein Land" ist zwar etwas lebhafter, aber ausgesprochen chauvinistische Statements werden im Mittel zurückgewiesen.
  • Das Konzept der "Demokratie" wird nicht (oder wenig) historisiert, d.h. kaum für eine Orientierung in erkennbaren Änderungsprozessen von der Vergangenheit her über die Gegenwart auf die Zukunft hin benutzt. Auch darin gleicht es anderen abstrakten und globalen Begriffen wie Nation, Europa und Religion. Das ist gewiss auch ein Problem der Fragetechnik [/S. 220:] in kulturvergleichenden Studien mit geschlossenen Items (in Papier-Bleistift-Verfahren). Es ist aber sicher auszuschließen, dass es sich nur um einen Methodeneffekt handelt.
  • Die Stellung zur "Demokratie" ist deutlich mehrdimensional. Relevanz und Interesse, Einsicht und Engagement, Begriff und Geschichte, Erinnerung und Erwartung haben etwas miteinander zu tun, sind aber nicht einfach identisch. Im Begriff selbst lassen sich wenigstens zwei unabhängige Gesichtspunkte herausarbeiten nämlich "affirmative Konzepte" und "kritische Konzepte" (14). Theoretisch ist bei "Affirmation" (wohl vorwiegend des Anspruchs) und"Kritik" (sicher besonders der Wirklichkeit) von Demokratie nicht von einer einfachen Polarität auszugehen, sondern von komplementären, erst zusammen ein Gesamtbild ergebenden Dimensionen. Die Studie hat eine solche zwei- bis dreidimensionale Struktur (die in fast allen Ländern stabil bleibt) regelmäßig für geschichtliche Epochenassoziationen und historische Allgemeinbegriffe gefunden.
  • Auch hinsichtlich der Demokratiebegriffe und -Wertungen gibt es nennenswerte kulturelle Unterschiede zwischen den beteiligten Ländern. Diese folgen jedoch keineswegs dem einfachen Schema, dass die "postsozialistischen" Länder des "Ostens" viel weniger demokratiebegeistert (stattdessen demokratieskeptischer) seien als die "alt-marktwirtschaftlichen" des "Westens". Vielmehr gibt es schon auf der Ebene von Ländergruppen mehrere miteinander verzahnte, sich durchgitternde Muster, z. B. auch den größeren rhetorisch-pathetischen Enthusiasmus im Süden Europas gegenüber der größeren vorsichtig-zurückhaltenden Reserve in der Mitte und im Norden.
  • Diese Differenzierung setzt sich auf der Ebene der einzelnen Länder erkennbar fort. So sind Litauen und Tschechien eindeutig Länder mit einer Jugend, die ein größeres Demokratievertrauen entwickelt als die der Nachbarländer. Auf der anderen Seite zeigt Großbritannien eine auffällige, kaum glaubliche Distanz, die durch die Parallelität in beiden unabhängig gezogenen Teilgruppen (England/Wales und Schottland) noch zusätzlich gesichert wird. Durch die Studie werden aber auch Vorurteile und Befürchtungen zerstört. So trifft es z. B. keineswegs zu, dass in Russland "Demokratie" nur noch ein Schimpfwort sei und inzwischen "Demokrat" mit "betrügerischem Geschäftemacher" gleichgesetzt werde. Jedenfalls war es 1995 noch nicht so.
  • Trotz der oben genannten Mehrdimensionalität kann den Jugendlichen nicht ohne weiteres ein konsistentes Denken bescheinigt werden. Die Widersprüche oder Spannungen zwischen Einstellungen sind (aus der Meinungsforschung) ebenso bekannt wie die zwischen Einstellungen einerseits und tatsächlichem Verhalten andererseits. Die überwiegend "edlen", d. h. Menschenrechte, Fremdenfreundlichkeit, Gewaltfreiheit und Umweltschonung ausdrücklich bejahenden Überzeugungen setzen sich nicht oder nur sehr teilweise in Alltagshandeln um. Das kann man schon an Angaben zu anderen Teilen unseres Fragebogens kontrollieren; vielfach treten Nullkorrelationen auf, wo hohe positive (gelegentlich auch negative) Zusammenhänge zu erwarten wären (15).

Methodisch sollte noch angemerkt werden dass die Studie mit großer Sicherheit nicht Maximal-, sondern Minimalunterschiede zwischen dem Geschichts- und Politikbewusstsein [/S. 221:] in den beteiligten Nationen bzw. Kulturen gemessen hat. Das liegt einerseits an der geschlossenen Form der Fragen (statt offener Anreize) und der Notwendigkeit generellgemeineuropäischer Themen (statt nationsspezifischer Lieblings- und Tabuzonen), andererseits am begrenzten Reifestand (vor-politisches Alter) und an gemeinsamen Vorlieben der Befragten (Tendenzen zu einer einheitlichen, mode- und konsumbestimmten europäischen "Jugendkultur").

Bei der Benutzung der Befunde muss davor gewarnt werden, allzu eilfertig und voreilig von der empirischen Beschreibung von kulturellen Unterschieden zu ihrer politisch-moralischen Bewertung überzugehen. Wenigstens aus Sicht des Empirikers gibt es nicht umstandslos "gutes" und "schlechtes", "angemessenes" und "verfehltes" Geschichtsbewusstsein. Selbstverständlich sollen die Befunde zu einer gründlichen didaktischen Diskussion in den beteiligten Ländern beitragen; sorgfältige Diagnose und abwägende Selbstreflexion sind im zuverlässigen Vergleich mit Nachbar- und Kontrastländern natürlich wesentlich einfacher als ohne solche Informationen. Auch Handlungsmaximen und Reformmaßnahmen sollen dabei gefunden werden. Misslich erscheint aber eine gewissermaßen "diktatorische" Beurteilung seitens einer zentralen Analyse, die notwendigerweise Traditionen, Randbedingungen und Zielsetzungen in den einzelnen Ländern nur höchst unvollkommen kennen kann.

 

Anmerkungen

(1) Als umfangreiche Präsentation der Studie vgl. Magne Angvik/Bodo von Borries (eds.): Youth and History. A Comparative European Survey an Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents. Volume A: Description, Volume B: Documentation (containing the Database an CD-ROM); Hamburg (edition Körber-Stiftung) 1997. Zur Einführung vgl. Ursula A. J. Becher, Bodo von Borries u.a.: Jugend-Politik-Geschichte. Ergebnisse des europäischen Kulturvergleichs "Youth and History". Hamburg (edition Körber-Stiftung) 1997. [/S. 209:]

(2) Vgl. Bodo v. Borries (unter Mitarbeit von Magne Angvik u.v.a.): Jugendliches Geschichtsbewusstsein im europäischen Kulturvergleich. Verfahren und Erträge einer empirischen Pilotstudie 1992. In: Bodo von Borries, Jörn Rüsen u.a.: Geschichtsbewusstsein im interkulturellen Vergleich. Zwei empirische Pilotstudien. Pfaffenweiler (Centaurus) 1994, S. 13-77 und Bodo von Borries: Exploring the Construction of Historical Meaning: Cross-Cultural Studies of Historical Consciousness among Adolescents. In: Wilfried Bos, Rainer H. Lehmann (eds.): Reflections on Educational Achievement. Papers in Honour of T. Neville Postlethwaite. Münster/New York 1995, S. 25-49.

(3) So bezeichnet man die Wahl sorgfältig überlegter und breit gestreuter, mit guten Gründen als typisch geltender Personen bzw. Klassen, wenn reine Zufallsziehung nicht möglich oder nicht finanzierbar ist.

(4) Wegen ihrer Ähnlichkeiten werden die vier UdSSR-Nachfolgestaaten und Bulgarien im folgenden oft als "Osteuropa" oder "Ost" bezeichnet, die übrigen fünf "postsozialistischen" Länder als "Ostmitteleuropa oder Ostmittel".

(5) Die Niederlande haben erst 1996 mit Verspätung ihre Daten abgeliefert, die daher als Anhang behandelt werden.

(6) In einigen der zitierten statistischen Analysen sind Griechenland, Portugal, Spanien und Italien (mit Südtirol) als "Südwest", Skandinavien, Großbritannien, Frankreich, Belgien und Deutschland als "Nordwest" zusammengefasst. [/S. 210:]

(7) In vielen angeführten Analysen sind die Türkei, Israel und Palästina als "Nahost" zusammengefasst; es ist jedoch festzustellen, dass in manchen Fällen eine Einbeziehung von Griechenland in die "Levante" und von Israel nach "Mitteleuropa" noch klarere Ergebnisse liefern würde.

(8) In der Studie werden z. B. "enthusiastische" Länder mit stärkerer Bejahungstendenz gegenüber allen Aussagen und "reservierte" Kulturen mit größerer Skepsis bei jeder Frage gefunden. Dieser Unterschied betrifft auch die Bereitschaft zu vollständigen Antworten, d.h. zur Bearbeitung aller Fragen.

(9) M meint Mittelwert, MOverall den Mittelwert aller Befragten. Der erste zitierte Wert zeigt, wie oben erwähnt, dass die Neuntklässler im Durchschnitt "Demokratie" zwischen "weder - noch" und "etwas wichtig" ansiedeln, der zweite dagegen bedeutet eine mittlere Einschätzung von "Meinungsfreiheit" zwischen "etwas wichtig" und "sehr wichtig".

(10) Zu den Gruppierungen "Ost", "Ostmittel", "Südwest", "Nordwest" und "Nahost" vgl. Fußnoten (4), (6) und (7).

(11) Es besteht auch eine recht hohe Korrelation beider Items, so dass sie gemeinsam als Kurzskala zu verwenden sind. [/S. 214:]

(12) Statistisch misst man solche Ähnlichkeiten als "Korrelationen" (r), d. h. als Quadratwurzeln gemeinsamer Varianz. Der hier vorliegende Koeffizient (r = .37, d. h. 13,7 % erklärte Varianz) ist beachtlich. [/S. 215:]

(13) Ein Fünftel Skalenpunkte Abstand ist das absolute Maximum; die Korrelation ist überragend (r = .66 oder 43,6% gemeinsame Varianz). [/S. 217:]

(14) Statistisch handelt es sich um orthogonale Faktoren; in diesem Sinne erzwingt also die Rechenoperation die Unabhängigkeit.

(15) Als Beispiele erwarteter, aber fehlender bzw. sehr niedriger Zusammenhänge seien genannt: Wichtigkeit von Frieden um jeden Preis und Bereitschaft zur Gewaltanwendung bei Wiedergewinnung eines verlorenen Territoriums (r = -.08), Wichtigkeit eigener Ethnizität und Wahlrecht für alle Ausländer (r = -.01), Befürwortung strafferer Polizei-Ordnung (gegen Ausländerzuzug) und Hitler als Ordnungsstifter und Vermischungsgegner (r ≈ .00) und Kolonialismus als Ausbeutung und Kolonialreparationen nach dem Prinzip von Schuld und Vergeltung (r = .17).
 

Literatur

Angvik, Magne; Borries, Bodo von (eds.) (1997): Youth and History. A Comparative European Survey an Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents. Volume A: Description. Volume B: Documentation (containing the Database an CD-ROM). Hamburg: Körber-Stiftung.

Becher, Ursula A. J.; Borries, Bodo von u.a. (1997): Jugend-Politik-Geschichte. Ergebnisse des europäischen Kulturvergleichs "Youth and History". Hamburg: Körber-Stiftung. [/S. 209:].

Borries, Bodo von (unter Mitarbeit von Magne Angvik u.v.a.) (1994): Jugendliches Geschichtsbewußtsein im europäischen Kulturvergleich. Verfahren und Erträge einer empirischen Pilotstudie 1992. In: Borries, Bodo von; Rüsen, Jörn u.a.: Geschichtsbewußtsein im interkulturellen Vergleich. Zwei empirische Pilotstudien. Pfaffenweiler: Centaurus, Seite 13-77.

Borries, Bodo von (1995): Exploring the Construction of Historical Meaning: Cross-Cultural Studies of Historical Consciousness among Adolescents. In: Bos, Wilfried; Lehmann, Rainer H. (eds.): Reflections on Educational Achievement. Papers in Honour of T. Neville Postlethwaite. Münster, New York, Seite 25-49.

 

Eder, Klaus (1990): Kollektive Identität, historisches Bewusstsein und politische Bildung

 

1. Kollektive Identität und historisches Bewusstsein

 

1.1 Die Historiographisierung von Modernisierung

Was wir von der Geschichte, von vergangenen Ereignissen festhalten, sind immer selektive Erinnerungen. Das gilt für Individuen, die ihre Geschichte in eine Biographie (1) einbauen. Das gilt auch für Gesellschaften, die vergangene Ereignisse in ihre Historiographie einbauen. Die erinnerte Geschichte ist also immer weniger als die Abfolge von Ereignissen. Sie ist aber zugleich mehr als das: Eine Historiographie gibt – wie eine Biographie – vergangenen Ereignissen einen Sinn (2). Die in modernen Gesellschaften evolutionär sich steigende Historiographisierung vergangener Ereignisse führt somit in ein Paradox: Sie zwingt einerseits zu immer mehr Selektivität und sie erzeugt immer mehr Sinn.

Das Paradox besteht darin, dass die steigende Selektivität des historischen Bewusstseins das Sinnproblem zum Thema macht. Man kann dann diese Selektivität beklagen. Das führt zur Moralisierung des historischen Bewusstseins (3). Historisches Bewusstsein wird des Vergessens angeklagt und Erinnerungsarbeit wird eingefordert. Oder man verzichtet auf einen emphatischen Begriff von historischem Bewusstsein und akzeptiert, dass jede Selektivität irgendeinen Sinn hat. Das führt zu Zynismus (4). Das historische Bewusstsein wird Kontingent gesetzt. Je komplexer die vergangenen Ereignisse werden, um so beliebiger wird das, was wir als Erinnerung, als historisches [/S. 352:] Bewusstsein, festhalten. Steigende Selektivität in der Wahrnehmung von Geschichte provoziert also Reaktionen, die zugleich mehr Sinn erzeugen. Moralismus und Zynismus sind Umgangsformen mit Geschichte, die im Beklagen der Selektivität neuen Sinn im Umgang mit der Geschichte erzeugen.

Die heute zu beobachtende Historisierung der Vergangenheit – etwa in Broszats Vorschlag einer Historisierung der Nazizeit – verschärft das oben genannte Paradox noch (5). Die Forderung nach einem historischen Bewusstsein führt zur Thematisierung der Selektivität kollektiver Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodi der Vergangenheit und provoziert zugleich die Suche nach Sinn in der Vergangenheit. Sie zwingt uns zu sehen, dass das, was wir wahrnehmen wollen, nicht mehr von den vergangenen Ereignissen abhängt. Es hängt davon ab, welches historische Bewusstsein wir haben wollen. Es hängt davon ab, welchen Gebrauch wir von der Geschichte machen wollen (6). Je selektiver wir mit Geschichte umgehen, um so mehr Sinn wird erzeugt. Und je mehr Sinn produziert wird, um so mehr nimmt Kommunikation über Geschichte zu. Man kann dies als einen Rationalisierungseffekt von »Modernität« sehen: Je moderner die Gesellschaft ist, um so umfassender wird historische Kommunikation – bei gleichzeitigem Rückgang unseres Wissens über Geschichte als solche! »Modernität« besteht darin, dass historisches Bewusstsein kommunikativ verflüssigt wird.

 

1.2 Zur Funktion kollektiver Identitätssuche

Kommunikative Verflüssigung verunsichert. Das gehört zur Grunderfahrung der Aufklärung und damit zur Grunderfahrung von Modernität. Es gibt nichts mehr, das kommunikativem Zugriff entzogen werden kann (7). Diese Verunsicherung provoziert den Rückgriff auf Selbstverständliches. Der Rückgriff auf eine Volksseele, auf eine Kulturnation und heute auf regionale Zugehörigkeit sind Gegenstrategien gegen die kommunikative Verflüssigung der Welt. Auch der Rückgriff auf ein objektiviertes historisches Bewusstsein gehört zu diesen Gegenstrategien. Die Objektivität einer Vergangenheit – ob positiv oder negativ bewertet, spielt zunächst keine Rolle – gibt Sinn im Fluss sich beschleunigender Kommunikation über Gesellschaft in der Gesellschaft. Hier hat der Begriff der kollektiven Identität seinen theoriestrategischen [/S. 353:] Platz (8). Kollektive Identität ist ein Versuch, ein Identisches im Fluss der Kommunikation festzuhalten. Gegen die kommunikative Verflüssigung der Welt wird – in der Praxis wie in der Theorie – Identität gesetzt.

Doch die kommunikative Verflüssigung historischen Bewusstseins macht auch vor kollektiver Identität nicht halt. Der Rückgriff auf ein Identisches entkommt nicht dem Phänomen kommunikativer Verflüssigung. Identitätskommunikation erschwert den unmittelbaren Rückgriff auf historische Muster kollektiver Identität. Über kollektive Identität lässt sich trefflich streiten. Wenn heute nationale Identität gegen »neue« politische Identitäten ausgespielt und zu europäischer Identität hochstilisiert wird, dann handelt es sich um das, was ich Identitätskommunikation nennen möchte (9).

Am Beispiel der Identitätskommunikation in den neuen sozialen Bewegungen möchte ich diese neue Stufe historischer Bewusstseinsbildung und kollektiver Identitätsbildung diskutieren. Die Frage nach neuen kollektiven Identitäten in den neuen [/S. 354:] sozialen Bewegungen wirft darüber hinaus die Frage auf, ob wir heute mit dem Begriff der kollektiven Identität überhaupt noch sinnvoll arbeiten können oder ob ihm notwendig jene Naturalisierung sozialer Beziehungen innewohnt, die mit kommunikativer Verflüssigung inkompatibel ist. Es scheint zumindest schwierig zu sein, ein »postkonventionelles« Konzept kollektiver Identität durchzuhalten (10). Letztlich stellt sich damit die Frage, ob ein postkonventioneller Begriff kollektiver Identität überhaupt möglich ist. Wenn man zu dieser abschätzigen Schlussfolgerung gezwungen wäre, dann läge der Verdacht immer nahe, dass kollektive Identitätssuche in einer kommunikativ durchrationalisierten Welt pathogener Natur ist (11).

Die Suche nach Identität ist zwar der Stachel, der zu permanenter Kommunikation zwingt. Doch Identität gefunden zu haben bedeutet auch das Ende von Kommunikation. Darin liegt das pathogene Potential von Identitätssuche systematisch begründet. Doch dagegen arbeitet der Prozess der Identitätskommunikation. Jede Analyse aktueller Identitätsbildung ist daher gezwungen, Identitätssuche und Identitätskommunikation scharf zu trennen. Die Annahme eines pathogenen Potentials in den aktuellen Versuchen kollektiver Identitätskonstruktion ist daran zu messen, inwieweit Identitätskonstrukte kommunikabel, das heißt strittig bleiben beziehungsweise inwieweit sie diese Kommunikation beenden können. Am Grade der Blockierung von Identitätskommunikation ist deshalb das Rationalitätspotential aktueller Formen kollektiver Identitätssuche zu messen (12).

 

2. Identitätssuche in der politischen Gegenkultur

 

2.1 Neue soziale Bewegungen und Aufklärungskritik

Identitätssuche seit dem Beginn der Moderne ist immer mit einer Kritik am Rationalismus der Aufklärung verbunden gewesen. Der der Aufklärung eigene Kosmopolitismus hat die Identitätsbedürfnisse nicht befriedigen können. Im Gegenteil. Er hat diese gerade provoziert. Die romantische Gegenbewegung gegen die Aufklärung hat dieser Aufklärungskritik die intellektuelle Variante geliefert (13). Diese Aufklärungskri[/S. 355:]tik darf aber nicht auf romantische Gegenbewegungen reduziert werden; sie findet sich ebenso in bürgerlichen wie proletarischen Gegenbewegungen (14).

Die neuen sozialen Bewegungen stehen ganz in dieser doppelten Tradition. Sie verkörpern ebenso die Aufklärung wie ihre Kritik. Was die neuen von den alten Bewegungen unterscheidet, ist die quantitative wie qualitative Bedeutung der Aufklärungskritik in diesen Bewegungen. Die neuen sozialen Bewegungen sind insofern neu, als die Aufklärungskritik nicht mehr bloße Reaktion auf Aufklärung, nicht mehr bloße konservative Reaktion ist. Sie sind insofern neu, als Aufklärungskritik diese Bewegungen antreibt und zum Movens der Modernisierung moderner Gesellschaften wird (15).

Die radikalste Form dieser Aufklärungskritik findet sich in jenen Teilen der neuen sozialen Bewegungen, die sich als Träger eines Vergesellschaftungsmodus verstehen, der an die Stelle rationaler Argumentation die Körpersprache und an die Stelle des Rationalismus den Mythos setzt, der – abstrakt formuliert – dem unterdrückten Anderen der Vernunft wieder zu seinem Recht verhilft. Beide Argumente verweisen auf die paradoxe Struktur einer die Aufklärung vorantreibenden Aufklärungskritik. Die Körpersprache kann man als einen Faktor kommunikativer Verständigung verstehen, der mit der Rationalisierung und Bürokratisierung der modernen Welt auf Inseln privater Verständigung zurückgedrängt worden ist – und selbst dort noch dank massenmedialer Kontrolle unterzugehen droht. Das Argument der Körpersprache als Opfer rationaler Argumentation leitet das Plädoyer für nichtargumentative Formen kollektiven Handelns an. Der Schlüsselterminus wird das »Sich Einbringen«. Die Körpersprache muss ihr Recht erhalten, der Anteil gestischer Kommunikation an menschlicher Kommunikation rehabilitiert werden. Theoretisch konsequent wird das dann im Versuch gedacht, Körpersprache zur Grundlage menschlicher Kommunikation überhaupt zu machen – nach dem Motto, dass Kopf und Bauch Teile eines Körpers seien. Es geht dieser radikalen Rationalitätskritik darum, die Identität von Kopf und Bauch wiederherzustellen.

Die Aufklärungskritik der neuen sozialen Bewegungen ist damit auf einer eigentümlich elementaren Ebene eng verbunden mit der Wiederaufnahme der Identitätsfrage. In der Formulierung »Identität von Kopf und Bauch« bleibt die Identitätsfrage allerdings noch auf das Individuum zentriert. Doch mit der zunehmenden sozialen und politischen Rolle dieser Bewegungen lässt sich diese Subjektperspektive nicht mehr durchhalten. Es liegt dann nahe, auch Gesellschaft wie einen »Körper« zu sehen. Die Identitätsfrage wird auf Gesellschaft projiziert. Sie lautet dann: Wie ist kollektive Identität des gesellschaftlichen »Körpers« möglich? [/S. 356:]

Nationale Identität war die klassische Lösung, um kollektive Identität jenseits von kosmopolitischer – also rein kognitiver – Identität in der Einheit von kollektiven Wir-Gefühlen und staatlicher Souveränität zu verankern. In der Auseinandersetzung mit dieser klassischen Lösung kommt es zur politischen Bewährungsprobe der Identitätskommunikation in den neuen sozialen Bewegungen (16).

Wie mit der von den neuen sozialen Bewegungen wieder eröffneten Identitätsfrage umgegangen wird, lässt sich nur klären, wenn wir sie im historischen Kontext sehen. Wir müssen deshalb die neuen sozialen Bewegungen in Deutschland als eine historisch spezifische Form des Konstruktionsprozesses der Moderne, als eine spezifisch deutsche Ausdrucksform politischer Modernisierung sehen. Wir müssen also – wenn wir über neue soziale Bewegungen und das Ende der Aufklärung reden wollen – Reflexionen über den spezifischen deutschen Weg in die Moderne einbauen. Sind die neuen sozialen Bewegungen eine Fortsetzung des deutschen Sonderweges in die Moderne oder rehabilitieren sie eine andere Moderne, die im deutschen Sonderweg missbraucht und dann denunziert worden ist? Handelt es sich um das Ende der Aufklärung oder um das Ende eines falschen beziehungsweise verzerrten Modells von Aufklärung?

Die entscheidende Frage – die die radikale Aufklärungskritik in den neuen sozialen Bewegungen nur zuspitzt – ist, wer im Gesellschaftlichen Körper« wen kontrolliert: der »Kopf« den »Bauch« oder der »Bauch« den »Kopf«? Dies wird zur zentralen Frage aktueller Identitätskommunikation, wenn heute – von wem auch immer und in welch kritischer Distanzierung auch immer – an die klassische »nationale« Lösung angeschlossen wird. Die klassische deutsche Lösung privilegierte den »Bauch«. Die Analyse der von den neuen sozialen Bewegungen initiierten Identitätskommunikation ist ein Weg, die Chancen einer den »Kopf« privilegierenden Antwort zu identifizieren. Der Indikator für die letztere Lösung ist die Fähigkeit, Identitätskommunikation auf Dauer zu stellen. Die klassische Lösung wäre dann in dem Maße zu erwarten, wie Identitätskommunikation blockiert wird.

 

2.2 ldentitätskommunikation in den neuen sozialen Bewegungen

Die deutsche Geschichte wirkt notwendig in irgendeiner Weise auf die neuen sozialen Bewegungen in Deutschland zurück. Wieweit die nationale Vergangenheit die neuen sozialen Bewegungen einholt, lässt sich an drei Beispielen diskutieren:

  • am Beispiel der Suche nach Identität in einer überschaubaren Lebenswelt,
  • am Beispiel der Suche nach dem guten Leben, nach der authentischen Lebenswelt, [/S. 357:]
  • am Beispiel der Suche nach einem Identitätsbewusstsein

An diesen drei Beispielen lässt sich zeigen, inwieweit die Distanz zu der klassischen Form kollektiver Identitätsfindung hergestellt werden kann. Die These lautet, dass diese Suchstrategien bislang eher zur Blockierung denn zur Kontinuierung von Identitätskommunikation beitragen.

Ein »typisch deutscher« Umgang mit dem Identitätsproblem artikuliert sich erstens in der Suche nach einer nationalen beziehungsweise regionalen Identität. Das Eigenartige der deutschen Diskussion besteht darin, dass es eine Faszination für regionale Bewegungen gibt und dass zugleich eine regionale Bewegung fehlt. Das hat sicher auch mit der Unterdrückung regionaler Unterschiede im Faschismus zu tun, wo der Mythos deutscher Gemeinsamkeit alle anderen Herkunftsmythen überlagert hat. Andererseits ist gerade das Fehlen einer nationalen Identität in Deutschland eine Ursache für die Faszination, die von regionalen Herkunftsidentitäten ausgeht (17). Das führt bis hin zu sprachlichen Enttabuisierungen. So ist etwa das Wort Heimat wieder diskursfähig geworden (18).

Daraus ergibt sich ein Diskurs, der mit eigentümlichen Umkehrungen und Entgegensetzungen arbeitet. Gegen die Gesellschaft, wo nur das Habenwollen zählt (Interessen), wo zentrale Bürokratien entscheiden, wird das Volk, genauer die volkliche Vielfalt als Kampfbegriff gesetzt. Gegen das Vaterland wird die Muttersprache gesetzt, gegen das Waldsterben das Plädoyer für einheimische (sic!) Pflanzen. Gegen die Gesellschaft werden Stämme gesetzt; denn nur »Stämme werden überleben« (19). Die Sehnsucht nach dem Kleinen, Überschaubaren entspringt einem tiefverwurzelten Bedürfnis – »Graswurzelrevolution« ist ihre begrifflich weitestgehende Thematisierung – und verrät doch zugleich die Ambivalenz zur Moderne, die Nähe zum Diskurs, in dem sich die Pathogenese der Moderne artikuliert. Man kann an diesen Diskursfragmenten sehen, wie das Problem, eine kollektive Identität in einer modernen Gesellschaft auszubilden, durch den Rekurs auf Vorgegebenes oder Mythisches gelöst wird. Hier wird eine Blockierung von Lernprozessen reproduziert, die bereits die politische Kultur des letzten Jahrhunderts gekennzeichnet hat.

Diese Blockierung endet in der Mythisierung des Staates. Die Identifikation mit einer Herkunftsidentität ist das Komplement zum starken Staat. Wenn der Staat sich [/S. 358:] dieser Sehnsüchte nach kollektiver Identität annimmt, dann wird der Gesellschaft (als dem Gegenüber des Staates) der Stachel gezogen. Sie wird sich, wo Identitätsfindung nur mehr staatlich garantiert werden kann, mit diesem identifizieren (20).

Eine zweite Form der Identitätssuche ist die Suche nach einer authentischen Lebenswelt. Diese Suche nimmt in Deutschland eine besondere (gerade auch die Nachbarn jenseits des Rheins irritierende) Form an: Sie besteht vor allem in der Suche nach dem Natürlichen, nach dem gesunden Leben oder nach dem gesunden Essen (21). Hier zeigt sich eine eigentümliche Thematisierung des Problems einer nach Verwertungsgesichtspunkten durchrationalisierten Konsumtionssphäre: Die Lebenswelt wird verteidigt, indem das »Gewachsene« gegen das »Künstliche«, die »Natur« gegen die »Chemie« (als dem Inbegriff von Unnatur) gesetzt wird.

Zu Ende gedacht führt das zu einer Biologisierung der Bedürfnisse. Die Reduktion von Gesellschaft auf Natur verkennt systematisch die gesellschaftliche Geformtheit der Natur. Die reine und unverschmutzte Natur gibt es nicht. Sie hat mit dem Beginn der Kultur ihre Unschuld unwiderbringlich verloren. Und sie verkennt damit die Bedingungen der eigenen gesellschaftlichen Rolle: sich mitten in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die Form der Aneignung der Natur zu befinden (22). Die Authentizität von Lebenswelt ist gerade nicht in einer Natur jenseits von Kultur und Gesellschaft zu finden. Identitätskommunikation, die sie dort sucht, führt zu einem modernen Fundamentalismus, der Identitätskommunikation letztlich verhindert.

Mit dieser Biologisierung der Bedürfnisse geht drittens eine Psychologisierung des Umgangs mit diesen Bedürfnissen einher. Die »Tyrannei der Intimität« ist eine neue Form der Selbstentmachtung in der Geschichte der Moderne (23). Sie verweist auf einen weiteren Mechanismus der Blockierung von Lernprozessen, nämlich die Übertragung der Verantwortung für das eigene politische Handeln auf einen Stellvertreter. Dieser Stellvertreter ist allerdings nicht mehr der Staat. Die Externalisierung der Verantwortung für das eigene Handeln wird vielmehr durch eine neuartige Form der »Selbsttechnokratisierung« des Bewusstseins ersetzt (24): Die Psychologisierung des eigenen [/S. 359:] Handelns gibt dem professionellen Wissen über diese Psyche die Macht. Die Authenzität der Lebenswelt verdankt sich schließlich ihrer psychologischen Kontrolle. Die therapeutischen Institutionen werden zum Stellvertreter für die Instanzen der Über-ich Kontrolle. Sie blockieren damit die Möglichkeit, in der Auseinandersetzung mit dieser Instanz Identitätskommunikation in Gang halten zu können.

Alle drei Aspekte, die Mythisierung der Gesellschaft, die Biologisierung der Bedürfnisse und die Psychologisierung des Umgangs mit den Bedürfnissen, erinnern an die deutsche Romantik in ihrer doppelten Ausdrucksform als Theorie und als popularisierte Praxis. Von den neuen sozialen Bewegungen als neuromantischen Bewegungen zu reden (25) ist deshalb mehr als eine bloße Analogisierung. Dieses Reden thematisiert die Kontinuität eines Weges in die Moderne, der eine erste Stufe im Rückzug der romantischen Generation in der frühbürgerlichen Gesellschaft und eine bislang letzte Stufe im Rückzug eines nicht unbedeutenden Teils der Protestgeneration in der spätbürgerlichen Gesellschaft vom Feld politischer Auseinandersetzungen gefunden hat (26).

In den neuen sozialen Bewegungen in Deutschland wird also eine nationale Tradition des Diskurses – sowohl was seine Inhalte als auch was seine Produktionsbedingungen anbelangt – reproduziert. Die Pathogenese der frühbürgerlichen Gesellschaft setzt sich in der Pathogenese einer spätbürgerlichen Gesellschaft fort, die das »Bürgerliche« unter neuen technisch/ökonomischen Bedingungen sichern muss (27).

Die Identitätsfrage ist der Schlüssel zur Frage nach dem Bruch mit einer spezifischen Tradition der Aufklärungskritik. Für das Verständnis der neuen sozialen Bewegungen bedeutet das, dass wir es weniger mit dem Ende der Aufklärung als mit einer Blockierung der sich selbst aufklärenden Aufklärung zu tun haben. Die Suche nach Identität, das ungelöste Problem der modernen Aufklärung, wird in eine Form der Identitätskommunikation eingebunden, die Gefahr läuft, zugleich die Bedingungen von Identitätskommunikation zu zerstören. Die Mechanismen der Blockierung, die den deutschen Weg in die Moderne kennzeichnen, greifen weiterhin: Der [/S. 360:] Rückzug auf die private Lebenswelt (der Konsumtion) und die Restriktion der Erfahrung auf das unmittelbar körperlich Erfahrbare, auf die von Gesellschaft gereinigte Natur, sind zumindest Zeichen dafür, dass die Blockierungsmechanismen der Illusionierung, Naturalisierung und Ideologisierung weiterhin am Werke sind. In der Identitätskommunikation in den neuen sozialen Bewegungen ist eine pathogene Fortsetzung deutscher Geschichte weiterhin möglich. Weniger ein produktiver Bruch denn ein pathogener Bruch mit der Aufklärung, weniger Aufklärung über Aufklärung denn Abräumen von Aufklärung ist denkbar. Welche Chancen gibt es dann noch für gelingende Identitätskommunikation?

 

2.3 Angstkommunikation und die Suche nach Identität

Gegen die Vorstellung einer bruchlosen Fortsetzung einer pathogenen Geschichte in der aktuellen Identitätskommunikation spricht – paradoxerweise – ein Phänomen, das die neuen sozialen Bewegungen mit den Bewegungen verbindet, die die antidemokratische Tradition in Deutschland getragen haben: nämlich Angstkommunikation (28). Angst war das zentrale Motiv in den antidemokratischen Bewegungen der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (29). Angst vor der sich demokratisierenden Gesellschaft, Angst vor der Erosion des Selbstverständlichen, Angst vor dem Verlust traditional eingelebter Identität wurde durch die Identifikation mit dem Staats schließlich mit dem Charisma eines Führers kompensiert. Angst verstärkte also die Blockierung von Identitätskommunikation. Sie blockierte damit die Idee einer sich selbst konstituierenden Gesellschaft, deren Identität gerade nur in der Fähigkeit bestehen konnte, partikulare Identität als partikulare zu institutionalisieren.

Angst in den neuen sozialen Bewegungen ist davon grundverschieden. Sie richtet sich nicht mehr gegen die Gesellschaft, sondern gegen den die Gesellschaft überformenden und mediatisierenden Staat (30). Wo sich Angst mit der Kritik am konkreten [/S. 360:] staatlichen Handeln verbindet, etwa mit der Kritik am politisch institutionalisierten und reproduzierten Umgang mit äußerer und innerer Natur, gelingt es, Staat und Autorität voneinander abzukoppeln. Das eröffnet einen neuen Spielraum für das Experimentieren mit Identität.

In dem Maße, wie diese »neue« Angstkommunikation mit Identitätskommunikation verknüpft wird, wird es – so die These – möglich, letztere zu »entblockieren«. Die neue Angstkommunikation eröffnet Perspektiven

  • der Desillusionierung (Entzauberung der Aufklärung),
  • des kollektiven Lernens (Institutionalisierung von Frühwarnsystemen) und der
  • Erinnerungsarbeit (Auflösung pathogener Rationalisierungsprozesse).

Die erste Möglichkeit, die moderne Angstkommunikation eröffnet, ist ein desillusionierender Umgang mit der Aufklärung. Angstkommunikation thematisiert das Problem, dass Aufklärungsdiskurse unter der Bedingung hoher Unbestimmtheit ablaufen. Angstkommunikation desillusioniert über das Ritual des Aufklärungsdiskurses, der Angstfreiheit unterstellt. Damit verliert der Aufklärungsdiskurs ein Moment der Selbstillusionierung, das ihm von Anfang an eigen war: zu unterstellen, dass sich Aufklärung von selbst einstellt.

Die bürgerliche Bewegung war noch davon überzeugt, dass kognitive Einsicht die Aufklärung voranbringt. Die kleinbürgerliche Bewegung hat dagegen argumentiert, dass nur normative Orientierungen, nämlich Werte wie Ordnung, Fleiß und Gerechtigkeit die Aufklärung in die richtige Richtung lenken können. Die neuen sozialen Bewegungen argumentieren – und hier gehen sie über die alten kleinbürgerlichen Bewegungen hinaus – auch mit Empfindungen und Gefühlen, über die Aufklärung notwendig sei, damit Aufklärung stattfinden kann. Man kann diesen Umgang mit der Aufklärung als ein Problem des Aufklärungsstils bezeichnen (31). Es handelt sich um einen veränderten Stil des Miteinanderredens. Angstkommunikation ist dann eine Variante des Aufklärungsdiskurses. Sie bricht mit der kognitiven und normativen Illusion, die Stilfragen als sekundär betrachtet hat.

Eine zweite Funktion aktueller Angstkommunikation besteht darin, wie ein Frühwarnsystem zu funktionieren, das Sensibilität erhöht und dem Immunsystem »Gesellschaft« Zeit gibt, sich auf eine bedrohliche Umwelt einzustellen (32). Man kann dieses Frühwarnsystem historisch und sozial kontextuieren und damit genauer [/S. 362:] bestimmen. Was die neuen sozialen Bewegungen tun, ist nichts anderes als das, was die frühen bürgerlichen Emanzipationsbewegungen schon versucht haben: durch Verständigung auf gemeinsam betreffende Probleme sich einer formalrationalen »Traktierung« von Problemen entgegenzustellen und Bedürfnisse einzuklagen, die ansonsten systematisch ausgeschlossen würden. Was die neuen sozialen Bewegungen »objektiv« tun, ist nichts anderes, als den Bereich relevanter Bedürfnisse und damit auch die Komplexität von Entscheidungskriterien auszuweiten. In diesem Sinne kann man dann von einer Ersetzung der »Gerechtigkeitsformel« durch die Formel des »guten Lebens« sprechen. Aber die Form, in der diese Einklagen konstituiert und reproduziert werden, bleibt identisch: nämlich die Organisation kollektiver Lernprozesse außerhalb formal rationaler Institutionen, die Herstellung politischer Öffentlichkeit – das ist der altmodische Begriff dafür – durch Assoziation, Diskussion und kollektive Aktion. Angstkommunikation wird so zum Kristallisationspunkt einer Form politischer Kommunikation, deren Dynamik sich auch Identitätskommunikation nicht mehr entziehen kann (33).

Eine dritte Funktion wäre die Reflexivität von Angstkommunikation. Was in der Angstkommunikation in den neuen sozialen Bewegungen transportiert werden kann, ist eine neue Form von kollektiver Erinnerungsarbeit: nämlich die Idee der Aufklärung über sich selbst. Das würde bedeuten, das kollektive Gedächtnis, das sich in der Pathogenese der Moderne abgelagert hat, selbst im Prozess der Radikalisierung der Moderne auf und durchzuarbeiten, Erinnerungsarbeit als Aufklärung über die Aufklärung zu betreiben. Und dazu gehört gerade auch Erinnerungsarbeit über misslungene Kommunikation, Erinnerungsarbeit über Identitätskommunikation (34).

 

3. Politische Bildung ein kollektiver Bildungsprozess?

 

3.1 Eine alternative Konzeption politischer Identität

Aus dieser Diskussion lässt sich eine erste Schlussfolgerung ziehen. Identitätskommunikation kann nur dann gelingen, wenn Identität im Hinblick auf Vergangenheit erinnerungsfähig bleibt und sich im Hinblick auf Zukunft nicht festlegt. Abstrakter formuliert: Wenn Identität im Hinblick auf Vergangenheit und Zukunft offen ist.

Für eine solche Identitätskonzeption eignet sich der Begriff des citoyen. Der citoyen, der politische Bürger im Gegensatz zum Staatsbürger (35), ist derjenige, der kollektive Identität jenseits partikularer Zugehörigkeiten formuliert. Seine kollektive Identität besteht in der fiktiven Gemeinschaft der am Gemeinwesen Interessierten. In der aktuellen Identitätskommunikation wird jedoch diese fiktive Gemeinschaft substantiell ausgefüllt. Wer nationale Identitätssurrogate symbolisch bekräftigt, der sollte sich nicht wundern, wenn sich im Rücken dieser Identitätskommunikation wieder jene blutige Tradition europäischer Kultur – von der die deutsche ja ein Teil ist (36) – durchsetzt, wie sie bereits die Jahrhunderte seit Beginn der Neuzeit kennzeichnete.

Gegen diese Tradition ist die Idee des citoyen gedacht worden. Denn der citoyen ist zunächst citoyen und erst dann Teil einer Herkunftsgemeinschaft. Dies ist die Voraussetzung für reflexive Identitätskommunikation. Denn der citoyen sieht kollektive Identität nicht als Faktum, sondern als Problem. Er geht nicht in kollektiver Identität auf, sondern verhält sich reflexiv zu ihr. Der citoyen weiß, dass er – wie alle anderen – einen sozialen Gebrauch von kollektiver Identität macht. Kollektive Identität ist ein Politikum. Kollektive Identität ist jenes Gefühl der Gemeinschaft – jener »Konsens« –, das zu bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten dann entsteht, wenn es um die Mobilisierung von sozialen Gruppen für oder gegen politische Entscheidungen geht. Kollektive Identität ist Identität, die im Prozess kollektiven Handelns entsteht und wieder vergeht. Sie kann sich – je nach Problemlage und Problemdefinition – ethnischer, religiöser, ökonomischer oder sonstiger partikularer Interessen bedienen. Entscheidend ist, dass die Bezugspunkte kollektiver Identität als partikulare Interessen erkennbar bleiben und nicht in Identitätsunterstellungen verschwinden. Das, was als Gemeinsames bleibt, ist nur mehr die Unterstellung, dass man citoyen, ein politischer Bürger ist. Identität wird in einem so verstandenen Politikbegriff entsubstantialisiert.

 

3.2 Die kollektive Konstruktion historischen Bewusstseins

Eine solche Kompetenz setzt die reflexive Distanzierung zur Vergangenheit voraus. Sie ist gleichbedeutend mit historischem Bewusstsein. Historisches Bewusstsein ist die Fähigkeit, eine kollektive Identität reflexiv anzueignen und substantielle Identitätsunterstellungen zu relativieren.

Historisches Bewusstsein ist also mehr als gelingende Erinnerungsprozesse. Historisches Bewusstsein ist zugleich Bewusstsein davon, dass jede Erinnerung eine soziale [/S. 364:] Konstruktion ist, eine Selektion aus möglichen Erinnerungen. Diese Selbstrelativierung historischen Bewusstseins zwingt zur Relativierung jeder Identitätsunterstellung. Jede kollektive Identität ist ein selektiver Rückgriff auf Vergangenes, der auch anders aussehen könnte. Wie kollektive Identität letztendlich aussieht, ist von sozialen Konstruktionsleistungen abhängig, ist das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen. Identitätsbildung ist immer zugleich Medium und Ergebnis von Identitätskommunikation (37). Und nur an solche sozialen Prozesse kann man sinnvoll die Meßlatte gelingender Identitätskommunikation anlegen.

Ein empirischer Begriff von Identitätsbildung muss deshalb die Akteure und das Publikum solcher Konstruktionsprozesse benennen können. Die soziale Konstruktion von kollektiver Identität beteiligt zahlreiche Akteure. Sie beteiligt vor allem auch professionalisierte Akteure. Das Ergebnis dieser Professionalisierung hat in Deutschland den Namen politische Bildung erhalten. Politische Bildung ist ein ausdifferenziertes System, ein Betrieb der Produktion von Reflexion auf kollektive Identität geworden. Politische Bildung ist – wenn man die Euphemisierungsstrategien bildungsbürgerlicher Illusionen beiseitelässt – Produktion von politischer Identität durch Symbole. Der soziale Konstruktionsprozess kollektiver Identität ist von der professionellen Organisation dieses symbolischen Produktionsprozesses zunehmend abhängig geworden.

Dieses System der Produktion kollektiv geteilter Symbole bleibt zugleich an die Sozialstruktur gebunden. Es lässt sich nicht »autonom« setzen und funktional spezifizieren. Im institutionalisierten und professionalisierten Konstruktionsprozess kollektiv geteilter Identitätssymbole gibt es die Besitzer von Produktionsmitteln für kollektiv geltende Symboliken und diejenigen, die von diesem Besitz ausgeschlossen sind. Wir kennen die klassische Situation, in der das Bildungsbürgertum Produktionsmittelbesitzer war. Mit dem Aufstieg des Kleinbürgertums wurde auch der kleine Mann Kleinbesitzer solcher symbolischer Produktionsmittel: Es begann die Periode der Politik des kleinen Mannes. Und in dieser Periode befinden wir uns weiterhin.

Dieser sozialstrukturelle Wandel verändert die politischen Deutungsmuster, innerhalb derer Identitätssuche und Kommunikation organisiert wird. Die Alternativen sind uns heute geläufig: Umdeutungen im Sinne des traditionellen Kleinbürgertums und solche im Sinne des neuen Kleinbürgertums. Die Alternativen heißen: Faschismus oder Radikaldemokratie (38). Das zwingt dazu, den semantischen Raum, mit dem das Politische gefasst werden kann, zu ändern. Nicht mehr die Begriffe »extreme Rechte« oder »extreme Linke« definieren ihn angemessen. Der semanti[/S. 365:]sche Raum dieser Form symbolischer Produktion ist nicht mehr in der Dreiteilung: rechts, mitte, links, oder: konservativ, liberal, sozialistisch zu finden. Überfällig ist die Ersetzung dieses Klassifikationsprinzips. Alternativen sind die Differenz »utilitaristisch« und »kommunikativ« oder »monologisch« und »dialogisch«.

Welche Form der Klassifikation der politischen Welt sich durchsetzen wird, ist offen. Wir können nur Aussagen darüber machen, welche Trägergruppen, welche »symbolischen« Unternehmer, welche »Moralunternehmer« (39) mit welchen Strategien den Konstruktionsprozess kollektiver Identität bestimmen. Sie entscheiden darüber – unter den gegebenen historischen Randbedingungen, die sich unabhängig und/oder durch den Konstruktionsprozess kollektiver Identität verändern –, welche Definitionen kollektiver Identität gehandelt werden. Die Rationalität des Ergebnisses hängt aber nicht von den Akteuren selbst ab, sondern von den Beziehungen zwischen Akteuren. Alles hängt davon ab, wie Identitätskommunikation organisiert ist. Und nichts hängt davon ab, was von einzelnen Akteuren Rationales oder Irrationales kommuniziert wird. Wir sollten uns nicht auf einzelne Akteure verlassen, sondern auf Gesellschaft. Denn sie entscheidet darüber, welche Akteure zum Zuge kommen können.

 

4. Schlussfolgerung

Kollektive Identität ist nur mehr als kontingent gesetzte Identität möglich. Alle Versuche, eine substantielle kollektive Identität wiederherzustellen, erweisen sich als paradox: Man provoziert die Kommunikation über sie in dem Maße, in dem man sie festschreiben will. Kommunikation über Identität schließt entweder Identität oder Kommunikation aus. Beides ist versucht worden. Einer dieser Wege ist nicht mehr gangbar: nämlich Kommunikation über Identität zu blockieren. Damit bleibt nur mehr die Option, Identität der Kommunikation zu überantworten. Hieraus ergeben sich alternative Bezugspunkte für politische Lernprozesse: nicht mehr die »Pflege« von Geschichte und Identität, sondern die Dauererinnerung an Vergangenes und die permanente Rekonstruktion von Identität, nicht mehr Aufklärungskritik. sondern Kommunikation der Aufklärungskritik.

 

Anmerkungen

(1) Die Konjunktur, die Biographieforschung heute hat, ist auch auf die aktuelle Thematisierungswelle von Vergangenheit zurückzuführen. Zum jüngsten Stand dieser Diskussion vgl. H. G. Brose/B. Hildenbrand, Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988.

(2) Die Sinnfrage gehört zu den Modethemen aktueller Diskussionen um das historische Bewusstsein. Geschichte wird als neues Sinnreservoir nicht nur von Historikern, sondern auch von Politikern entdeckt.

(3) Der Historikerstreit gibt dafür beredtes Zeugnis ab. Siehe die Beiträge in R. Augstein u. a., »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, insbesondere die Beiträge von Nolte und Stürmer.

(4) Ein Beispiel dafür ist Luhmanns Umgang mit Geschichte. Vgl. etwa N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (l. Bd.), Frankfurt/M. 1980. Es nimmt nicht wunder, dass die problematischen Phasen moderner Geschichte, insbesondere der deutschen Geschichte, kaum behandelt werden.

(5) Dieses oft missverstandene Plädoyer für Historisierung sollte gerade Platz schaffen für die Sinnfrage. Denn solange die nationalsozialistische Vergangenheit als objektivierbares Forschungsproblem gesehen werden konnte, ließ sich die Dynamik der Sinnfrage einigermaßen steuern. Das geht nicht mehr, sobald man die Erkenntnisbedingungen von Vergangenheit thematisiert.

(6) Das ist natürlich mit einer Desillusionierung über die Objektivität historischer Erkenntnis verbunden. Sie führt notwendig in wissenssoziologische Relativierungen. Die – mit dem Namen Bourdieu verbundene – Soziologisierung von Erfahrungs und Wahrnehmungsmodi dürfte mit der gegenwärtigen Thematisierung und Problematisierung des Wirklichkeitsverhältnisses zu tun haben. Vgl. etwa P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982; ders., Homo Academicus' Paris 1984.

(7) Vgl. zu dieser Klage im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert K. Eder, Geschichte als Lernprozess? Zur Pathogenese politischer Modernität in Deutschland, Frankfurt/M. 1985, S. 129ff.

8) Ich spreche ausdrücklich nicht vom »theorietechnischen« Platz, weil Theoriebildung nicht ein monadisches, sondern ein zutiefst interaktives Unternehmen ist. Man mag dieses »Interaktive« als dialogisch idealisieren; in der Praxis ist es in der Regel ein strategisches Unternehmen.

(9) Mit diesem Begriff greife ich auf die kommunikationstheoretischen Ansätze zurück, wie sie gleichermaßen von J. Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981) und N. Luhmann (Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/ M. 1984) vorgeschlagen wurden. Am Begriff der Identitätskommunikation lässt sich vermutlich zeigen, dass viel mehr kommunizierbar ist, als Habermas theoretisch vorsieht, und dass weit mehr Restriktionen für einen gehaltvollen soziologischen Kommunikationsbegriff nötig sind, als Luhmann vorschlägt.

(10) Siehe dazu die Arbeiten von J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, R. Döbert/G. Nunner Winkler, Adoleszenzkrise und Identitätsbildung, Frankfurt/M. 1975, und K. Eder, Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften. Ein Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution, Frankfurt/M. 1976; ders. (Anm. 7). Ein neuerer Versuch der Wiederaufnahme findet sich in H. Honolka, Schwarzrotgrün. Die Bundesrepublik auf der Suche nach ihrer Identität, München 1987. S.57ff. Eine eher kultursoziologische Konzeptualisierung formuliert Ch. Graf von Krockow, Zur Anthropologie und Soziologie der Identität, in: Soziale Welt, 36 (1985), S. 142-152.

(11) Dazu K. Eder (Anm. 7), S. 297 ff. Dort habe ich einen ersten Versuch unternommen, die Suche nach nationaler Identität in den Kontext einer rationalistisch begriffenen Evolution politischer Modernität zu stellen.

(12) In dieser Diskussion nehme ich vor allem auch Anregungen von Max Miller zur Makroanalyse blockierter kollektiver Lernprozesse auf. Siehe dazu M. Miller, Kollektive Erinnerungen und gesellschaftliche Lernprozesse (Vortragsmanuskript), Bad Homburg 1988.

(13) Siehe P. Honigsheim, Romantik und neuromantische Bewegungen, in: Handbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Göttingen 1956, S. 26-41.

(14) Zur Diskussion dieser Gegenbewegungen vgl. K. Eder, Counterculture Movements Against Modernity. Nature as a New Field of Class Struggle (Manuskript). München 1989. Die dort diskutierten Phänomene sind vor allem bürgerliche Fluchtbewegungen. Einer genaueren historischen Erforschung bedarf noch die populäre Gegenkultur gegen die Rationalisierung der Arbeitswelt und der öffentlichen Sphäre.

(15) Diese mag für die mehr in der Aufklärungstradition stehenden Teile der neuen sozialen Bewegungen oft misslich sein. Doch der Konflikt zwischen »Fundamentalismus« und »Realismus« lässt sich nicht mehr wie in den alten Bewegungen als eine bloß ephemere Erscheinungsform, als ein »Stadium« im Lernprozess der neuen sozialen Bewegungen abtun. Andererseits wäre die Reduktion der neuen sozialen Bewegungen auf die radikale Aufklärungskritik ebenso irreführend.

(16) Zur Kritik der Wiederaufnahme der Diskussion um nationale Identität und nationale Frage siehe für viele andere den Beitrag von S. Meuschel, Für Menschheit und Volk. Kritik fundamentaler und nationaler Aspekte in der deutschen Friedensbewegung, in: W. Schäfer, Neue soziale Bewegungen: Konservativer Aufbruch im linken Gewand?, Frankfurt/M. 1983. Eine ausführliche Diskussion bietet H. Honolka (Anm.10), insbes. S.38ff. Eine neue Variante findet sich in der aktuellen Diskussion um eine »civil religion«. Zum klassischen Gebrauch siehe J. A. Coleman, Civil Religion, in: Social Analysis, 31 (1970), S. 67-77. Zum normativen Gebrauch vgl. jetzt den Essay von U. Rödel/G. Frankenberg/H. Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt/M. 1989, S. 117ff.

(17) Siehe dazu H. Eichberg, Nationale Identität. Entfremdung und nationale Frage in der Industriegesellschaft, München 1978; ders.. Balkanisierung für jedermann? Nationale Frage, Identität und Entfremdung in der Industriegesellschaft, in: Befreiung, 19/20 (1981), S. 46-69. Es gibt eine unleugbare Nähe zwischen konservativen Positionen und Regionalismus. Das ist nicht per se ein Argument gegen regionalistische Ideen. Vielmehr steht der Begriff des Konservativismus selbst auf dem Spiel. Vgl. auch R. Spaemann, Ende der Modernität?, in: P. Koslowski/R. Spaemann/R. Löw (Hrsg.), Moderne oder Postmoderne? (Civitas Resultate Bd. 10), Weinheim 1986, S. 19-40.

(18) Dazu I. M. Greverus, Auf der Suche nach Heimat. München 1979. Eine Kritik dieser Heimatsuche findet sich in A. Schmieder, Neue Innerlichkeit oder Ein verändertes Bedürfnis nach Heimat, in: Frankfurter Hefte, Zeitschrift für Kultur und Politik, 37 (1982), S. 49-54.

(19) Eine suggestive Formulierung von H. Eichberg (Anm. 17).

(20) Siehe dazu die ausführliche Diskussion über den deutschen Sonderweg und den für ihn konstitutiven Staatsbegriff. Statt vieler anderer und zusammenfassend K. Eder (Anm. 7). Vgl. auch Ch. Graf von Krockow, Nationalismus als deutsches Problem. München 1970, insbes. S. 77 ff.

(21) Diese Betonung von Natur gegenüber Kultur setzt eine bestimmte Form der Überhöhung von Natur in der deutschen Tradition fort. Es soll dabei aber nicht übersehen werden, dass in dieser Tradition auch die Wurzeln eines alternativen gesellschaftlichen Naturverständnisses liegen, das neuartige Identitätskommunikation möglich macht. Siehe dazu K. Eder, Die Vergesellschaftung der Natur. Studien zur sozialen Evolution der praktischen Vernunft, Frankfurt/M. 1988, S. 225 ff.

(22) Das ist das Thema von Moscovicis Theorie der Menschengeschichte der Natur. Siehe S. Moscovici, Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, Frankfurt/M. 1982.

(23) Darauf hat R. Sennett in den beiden Arbeiten: Destruktive Gemeinschaft, in: A. Touraine/H. P. Dreitzel/S. Moscovici/R. Sennet u. a. (Hrsg.), Jenseits der Krise. Wider das politische Defizit der Ökologie, Frankfurt/M. 1976, sowie: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 1983, hingewiesen und daraus das Plädoyer für die Stadt gegen das Land, für Kultur und gegen Natur gezogen. Anstatt für Authentizität plädiert er für die Fähigkeit, in der Öffentlichkeit Theater spielen zu können. Doch genau das wird in dieser Denktradition blockiert.

(24) Dieser Begriff wurde von U. Oevermann benutzt, um die technokratischen Züge moderner psychologisch vermittelter Selbstkontrolle zu bezeichnen. Siehe U. Oevermann, Versozialwissenschaftlichung der Identitätsformation und Verweigerung der Lebenspraxis. Eine aktuelle Variante der Dialektik der Aufklärung, in: B. Lutz (Hrsg.), Soziologie und gesellschaftliche Entwicklung (22. Deutscher Soziologentag in Dortmund), Frankfurt/M. 1985. S. 463 ff.; ders., Eine exemplarische Fallanalyse zum Typus versozialwissenschaftlichter Identitätsformation, in: H. G. Brose/B. Hildenbrand (Hrsg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988, S. 243-286.

(25) Vgl. U. Schimank, Neoromantischer Protest im Spätkapitalismus: Der Widerstand gegen die Stadt und Landschaftsverödung. Bielefeld 1983.

(26) Eine solche Behauptung übergeneralisiert notwendig eine Tendenz in den neuen sozialen Bewegungen. Es gibt aber zwei Gründe, eine solche Übergeneralisierung zu formulieren. Der erste ist die relative Bedeutung aufklärungskritischer Impulse in den neuen sozialen Bewegungen. Der zweite ist der historisch kulturelle Kontext des deutschen Wegs in die politische Moderne, in dem Aufklärungskritik eine destruktive Rolle gespielt hat. Es gibt deshalb Kontextbedingungen, die Rückzugstendenzen aus der Politik eine Bedeutung jenseits der Bedeutung geben, die ihr die Rückzügler selbst geben. Es bleibt dabei unbestritten, dass eine optimistische Deutung auf die innovativen Aspekte eines neuen Politikverständnisses in den neuen sozialen Bewegungen abstellen kann. Doch solche Deutungen sind empirisch nicht entscheidbar. Sie sind selbst Teil des Feldes politischer Auseinandersetzungen und können insofern nur wissenssoziologisch angemessen analysiert werden.

(27) Wir haben es – das dürfte kaum strittig sein – in den neuen sozialen Bewegungen mit Forderungen und Einklagen zu tun, die Folgeprobleme spätindustrieller Entwicklung sind. Strittig ist sicherlich die Behauptung, dass die von den neuen sozialen Bewegungen reklamierte Diskontinuität eine Diskontinuität mit der Aufklärung in der Kontinuität mit der deutschen Geschichte ist.

(28) Dieses Thema ist von verschiedenen Seiten aufgenommen worden. Vgl. dazu N. Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986; K.P. Japp, Neue soziale Bewegungen und die Kontinuität der Moderne, in: J. Berger (Hrsg.), Die Moderne – Kontinuitäten und Zäsuren, Sonderband 4 der Soziale Welt, Göttingen 1986, S. 304-334; C. Offe, New Social Movements: Challenging the Boundaries of Institutional Politics, in: Social Research, 52 (1985), S. 817-868; und K. Eder, Soziale Bewegung und kulturelle Evolution. Überlegungen zur Rolle der neuen sozialen Bewegungen in der kulturellen Evolution der Moderne, in: J. Berger (Hrsg.), Die Moderne – Kontinuitäten und Zäsuren, Sonderband 4 der Sozialen Welt. Göttingen 1986, S. 335-357.

(29) Das Hauptmotiv der antidemokratischen Bewegungen wurde – nicht ohne eine gewisse Berechtigung – mit der Angst des Kleinbürgers vor der Unordnung demokratisch geregelter Formen von Vergesellschaftung in Zusammenhang gebracht. Vgl. etwa die aus dem Jahre 1930 stammende Arbeit von S. Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt/M. 1985, der die Bedeutung dieses Motivs in den Angestelltenschichten im Berlin der Weimarer Zeit aufgezeigt hat.

(30) Dabei darf nicht übersehen werden, dass sich in dieser normativ motivierten Wendung gegen den Staat eine neue Form des strategischen Umgangs mit dem Staat entwickelt, die das Verhältnis zum Staat und das arbeitet gegen ideengeschichtliche und mentalitätsgeschichtliche Traditionen in Deutschland »normalisiert«. »Antistaatliche« Motive in den neuen sozialen Bewegungen sind deshalb doppeldeutig: Sie können Ausdruck historischer Normalisierungsleistungen sein (die die Einübung eines strategischen Umgangs mit dem Staat ermöglichen). Sie können aber auch – in impliziter Anerkennung von Staatsidealisierungen – in traditioneller Weise antistaatlich sein.

(31) Das Stilkonzept geht über ein bloß intellektualistisches Konzept von argumentativer Verständigung hinaus. Es zwingt dazu, argumentative Prozesse zu kontextuieren und kultursoziologisch zu analysieren. Man kann dabei argumentative Struktur und kulturellen Kontext unterschiedlich gewichten. Vgl. dazu etwa M. Miller, Culture and Collective Argumentation. in: Argumentation, 1987, S. 127-154, und H. U. Gumbrecht/L. K. Pfeiffer (Hrsg.), Stil. Geschichte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt/ M. 1986.

(32) Diese Funktionsbestimmung ergibt sich offensichtlich zwangsläufig aus systemtheoretischen Ansätzen. Dazu mit sehr unterschiedlichen Intentionen N. Luhmann, Öffentliche Meinung, in: ders., Politische Planung, Opladen 1971, S. 9-34, und C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt/M. 1972.

(33) Hier wird wieder der zentrale Stellenwert einer Theorie kollektiver Lernprozesse deutlich. Begriffe wie »Frühwarnsystem« sind einfach unzureichend, um den »agency« Aspekt angemessen begrifflich fassen zu können. Zu weiterführenden Versuchen vgl. M. Miller, Kollektive Lernprozesse. Studien zur Grundlegung einer soziologischen Lerntheorie. Frankfurt/M. 1986; K. Eder (Anm. 7); P. Strydom, Collective Learning: Habermas' Concessions and their Theoretical Implications, in: Philosophy and Social Criticism, 13 (1987), S. 265-281.

(34) Dazu die Arbeit von M. Miller (Anm. 12). Der Historikerstreit kann gerade unter diesem Gesichtspunkt in objektivierender Weise gelesen werden: als ein Versuch der Öffnung von Kommunikation über Vergangenheit mit offensichtlichen Folgeeffekten für die weitere Form der Identitätskommunikation. Zu dieser Diskussion vgl. die Beiträge in der neuen Zeitschrift »History and Memory« (1989).

(35) Dazu aufschlussreich U. Rödel/G. Frankenberg/H. Dubiel (Anm. 16). Sie gehört in den Kontext der neueren Diskussion um das Konzept einer »civil society«. Siehe auch die Beiträge zum Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Sonderheft/89: »40 Jahre Soziale Bewegungen: von der verordneten zur erstrittenen Demokratie«, insbesondere die Beiträge von Rolke und Roth.

(36) Man darf nicht vergessen, dass auch die Ersatzidentität eines europäischen Bürgers nur das Problem der Erinnerung an Vergangenes verdeckt. Der Rekurs auf Europa – ausgespielt gegen die deutsche Vergangenheit – würde nur wieder neue Illusionen produzieren. Dies wäre als Kritik an Euphemisierungsversuchen Europas wie dem von E. Morin, Penser l'Europe, Paris 1987, anzumelden.

(37) Ein derartig »prozeduralisierter« Identitätsbegriff ließe sich als das notwendige Komplement zu einem prozeduralisierten Volkssouveränitätsbegriff verstehen, der an die Stelle eines substantialisierten Volkskörpers wie Nation einen abstrakten Begriff von kollektiven Akteuren setzt, deren Identität im Prozess der Beteiligung an diskursiven Prozessen konstituiert wird. Vgl. dazu jetzt J. Habermas, Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff von Öffentlichkeit, in: Merkur, 43 (1989), S. 465-477.

(38) Diese Alternative ist Ausdruck der sozialen Ambivalenz der Trägergruppen: des Kleinbürgertums. Der Rückgriff auf diesen Begriff ist in einem doppelten Sinne gerechtfertigt. Er bezieht sich auf soziale »Klassen«, die etwas besitzen, nämlich symbolische Produktionsmittel und materielle Reproduktionsmittel. Als Kleineigentümer in Kultur und Ökonomie erleben sie die Ambivalenz ihrer sozialen Position. Die politische Orientierung spiegelt diese Ambivalenz nur wider.

(39) Dieser Begriff bezeichnet jene professionalisierten Experten der Rechtfertigung und Vermittlung politischer Argumente und Symbole, die ins Zentrum der kulturellen Reproduktion moderner Gesellschaften getreten sind. Siehe zur Analyse dieser Gruppe B. Giesen, Moralische Unternehmer und öffentliche Diskussion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1983) 2, S. 230-254.

 

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Redaktionelle Änderungen durch sowi-online: Format der Literaturangaben geändert, Vornamen in Literaturliste ergänzt.

 

Hedtke, Reinhold (2003): Historisch-politische Bildung – ein Exempel für das überholte Selbstverständnis der Fachdidaktiken

Historisch-politische Bildung ist einerseits eine häufige, beliebte und oft emphatisch vorgetragene Forderung. Peter Steinbach etwa bekennt, "politische Bildung ist für mich nur als historische Bildung denkbar, und historische Bildung wird immer auch politische Bildung sein. Mit dieser Festlegung (...) artikuliere ich eine Aufgabe, die ich fast als Mission empfinde: die Integration von Perspektiven historischer und politischer Bildung in der Ausbildung von Sozialkundelehrern und in der politischen Bildung, also im historisch-politischen Unterricht" (Steinbach 1998, 113).

Andererseits stehen viele Geschichtsdidaktiker diesem Integrationsbegriff skeptisch gegenüber. So kritisiert Jörn Rüsen, dass der Bindestrich der historisch-politischen Bildung einen Abgrund ungeklärter Fragen enthalte, und fordert nachdrücklich eine klare Unterscheidung von historischer und politischer Bildung (Rüsen 1996, 504).

Hans-Jürgen Pandel betont nicht nur die grundlegenden Unterschiede zwischen den Zielen - historisches Bewusstsein hier und politisches Bewusstsein dort - sondern bezweifelt mit wissenschaftstheoretischen Argumenten, dass die intendierte fachübergreifende Bildung überhaupt sinnvoll und möglich sei (Pandel 1997 u. 2001).

Folgt man Bernhard Sutor, sind Geschichtsunterricht und Politikunterricht zum einen zwei grundsätzlich eigenständige Pfeiler politischer Bildung (Sutor 1997, 332). Zum anderen überschneiden sich Politik- und Geschichtsunterricht sowohl inhaltlich als auch kategorial, aber doch nur teilweise. Politische Bildung will er "als politisch-zeitgeschichtlichen Unterricht an[zu]legen mit dem Ziel, der nachwachsenden Generation den Erwerb von Orientierungs-, Urteils- und Handlungskompetenz in politischen Gegenwartsfragen im Kontext ihrer Geschichte zu ermöglichen" (S. 336).

Das Verhältnis von politischer und historischer Bildung scheint also einigermaßen unübersichtlich und schwierig zu sein. Zuständig für dessen theoretische Klärung sind in erster Linie Geschichtsdidaktik und Politikdidaktik; von ihrem Selbstverständnis, von ihren Paradigmen und von ihrem Verhältnis zueinander hängt es wesentlich ab, ob und wie die beiden Bildungen aufeinander bezogen werden können.

Wo liegen die theoretischen Schwierigkeiten einer historisch-politischen Bildung? Kann man sie überwinden, und wenn ja, wie? Die Probleme wurzeln vor allem in der wachsenden disziplinären und methodologischen Unübersichtlichkeit der Sozial- und Kulturwissenschaften, in der Art und Weise, wie sich Fachdidaktiken als Fach konstituieren, etablieren und differenzieren und in den dadurch entstehenden Pfadabhängigkeiten, sowie nicht zuletzt in den Fächerfiktionen, mit denen Fachdidaktiken arbeiten. [/S. 113:]

Ich argumentiere in vier Schritten. Zunächst beschäftige ich mich sehr kurz mit dem Selbstverständnis von Geschichtsdidaktik und Politikdidaktik sowie den Intentionen, die diese mit historischer und politischer Bildung verbinden. Dann prüfe ich, ob und wie sich diese Fachdidaktiken über den Disziplinbezug und über typische Erkenntnisweisen definieren können. Drittens zeige ich, wie Fachdidaktiken ihre Fachwissenschaften fachdidaktisch rekonstruieren können. Schließlich mache ich viertens einige Vorschläge zum Verhältnis von Geschichtsdidaktik und Politikdidaktik.

 

1. Geschichtsdidaktik und Politikdidaktik als Disziplinen

Geschichtsdidaktik versteht sich seit etwa einem Vierteljahrhundert mehrheitlich als Wissenschaft vom Geschichtsbewusstsein und vom historischen Lernen (z. B. Jeismann 2000a, 81, Rohlfes 1999, 19 f.). Diese Neuaufstellung als Disziplin entwickelte sich aus einer Position der Defensive. Sie stand in engem Zusammenhang mit dem Versuch von Geschichtswissenschaft und Historik, der Dominanz naturwissenschaftlicher Wissenschaftsnormen - vor allem: nomologische Erklärungsstruktur und Idee der Einheitswissenschaft - und dem Siegeszug der Sozialwissenschaften etwas entgegenzusetzen. In diesem Kontext wurde das narrativistische Paradigma in Fachwissenschaft und Fachdidaktik stark gemacht. Es etabliert das historische Erzählen realer vergangener Vorkommnisse als einen eigenen Erklärungstyp. "Erzählen macht aus Zeit Sinn, indem es die Zeitfolge von Vorkommnissen (...) in einen inneren Zusammenhang dieser Vorkommnisse selbst bringt" und dabei "eine Orientierungsfunktion" in der Gegenwart übernimmt (Rüsen 1996, 508). Mit diesem breiten Selbstverständnis hat sich Geschichtsdidaktik als eigenständige Disziplin von Geschichtswissenschaft und Erziehungswissenschaft emanzipiert und zugleich die Dominanz von Schul- und Unterrichtsbezug überwunden; gleichwohl ist ihr Status nicht unumstritten (S. 505).

Politikdidaktik versteht sich mehrheitlich als Wissenschaft vom politischen Lernen. Sie positioniert sich als doppelte Teildisziplin, einerseits von Politikwissenschaft - manche nehmen Bezüge zu Soziologie und Ökonomik hinzu -, andererseits von Erziehungswissenschaft (Sander 1997, 19 u. 21). Damit bleibt der disziplinäre Geltungsanspruch des politikdidaktischen Mainstreams bescheidener als der der Geschichtsdidaktik. Das gilt sowohl in der Dimension des Forschungsgegenstandes als auch in der des disziplinären Selbstbewusstseins.

Betrachtet man Geschichtsdidaktik und Politikdidaktik auf der Ebene von Zielvorstellungen und Prinzipien, findet man bei historischer und politischer Bildung eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Gemeinsame Felder bilden beispielweise Aufklärung und reflektierte Distanz gegenüber der Gegenwart und kommunikative Verflüssigung ihrer verfestigten Verhältnisse, Multiperspektivität, Perspektivenwechsel und Fremdverstehen, Pluralität und Kontroversität sowie Diskursfähigkeit trotz divergenter politischer Normen und Positionen.

Die meisten Dimensionen des Pandelschen Konzepts von Geschichtsbewusstsein gehören auch zum Kern der Politikdidaktik: Wirklichkeitsbewusstsein, Identitätsbewusstsein, politisches [/S. 114:] Bewusstsein, ökonomisch-soziales Bewusstsein und moralisches Bewusstsein (Pandel 1987, 132-138).

So viel Gemeinsamkeit bei Programmatik und Prinzipien lässt eine historisch-politische Bildung als naheliegend, sinnvoll und wünschenswert erscheinen. Aber auf der Ebene der allgemeinen Ziele zeigen sich nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Divergenzen zwischen politischer und historischer Bildung. Politische Bildung, so argumentiert Hans-Jürgen Pandel, solle Orientierung in der Gegenwart und für die absehbare Zukunft und für politisches Handeln geben, historische Bildung dagegen beanspruche Orientierung in der Zeit, ohne handlungsbezogen sein zu können (Pandel 1997, 321). Der "Bindestrichbegriff" politisch-historische Bildung verdecke diese beiden grundsätzlich unterscheidbaren Bewusstseinsstrategien, die gleichwohl aufeinander bezogen seien (S. 321). Politisches Bewusstsein sei auf Handeln in der Dimension Macht und Herrschaft gerichtet; historischem Bewusstsein dagegen gehe es um die kontingenten Erfahrungen der Lebenspraxis und darum, sie so zu deuten, dass ein sinnvoller Zeitzusammenhang, eine Geschichte konstruiert werden könne (S. 321 f.). Politisches Bewusstsein mache Bedingungen und Möglichkeiten des Handelns klar und verfügbar, historisches Bewusstsein gebe politischem Handeln Orientierung (S. 322).

Das Verhältnis der Disziplinen Politikdidaktik und Geschichtsdidaktik scheint seit langem durch eine merkwürdige Spannung zwischen Fremdheit und Nähe, Divergenz und Konvergenz, Konkurrenz und Kooperation geprägt. Beide blicken - aus unterschiedlichen Perspektiven - auf eine gemeinsame, wechselvolle Geschichte zurück. Man denke nur an die Auseinandersetzungen um die Eigenständigkeit einer politischen Bildung neben dem Schulfach Geschichte, an die heftigen Konflikte um die Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre oder an die faktische Fächerhierarchie der gymnasialen Oberstufe.

Das Verhältnis der beiden Fachdidaktiken ist unklar und ambivalent, eine historisch-politische Bildung steht theoretisch auf unsicherem Boden. Das zeigt auch ein kurzer Blick auf die Versuche, das Problem der fachdidaktischen Identität und der interdisziplinären Abgrenzung zu lösen, indem man auf unterschiedliche Disziplinbezüge und Erkenntnisweisen setzt.

 

2. Disziplinbezüge und Erkenntnisweisen als Problem

Fachdidaktiken und fachlich definierte Bildungen müssen sich zu möglichen wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen, Erkenntnisweisen und Paradigmen in ein Verhältnis setzen. Sie müssen entscheiden, worauf sie sich beziehen wollen und worauf nicht. Als vorrangig wird traditionell der Disziplinbezug betrachtet. Von der Bezugsdisziplin erwarten viele Fachdidaktiken die entscheidende Stütze ihrer Identität. Zumindest in den Sozial- und Kulturwissenschaften wird diese Stütze aber immer brüchiger.

 

2.1 Bezugsdisziplinen

Bei den jeweils vorherrschenden Bezügen auf fachwissenschaftliche Disziplinen haben historische und politische Bildung zu Beginn des 21. Jahr- [/S. 115:] hunderts wenig Gemeinsamkeiten. Die Fachdidaktik der historischen Bildung bezieht sich eher eindeutig und dominant auf Geschichtswissenschaft, die Fachdidaktik der politischen Bildung eher mehrdeutig und in wechselnden Gewichtungen auf Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomik; auch Zeitgeschichte spielt eine gewisse Rolle. Diese Differenz bezeichnet Pandel als Asymmetrie auf der Ebene der Bezugsdisziplinen (1997, 319). Seine Diagnose einer Asymmetrie gilt allerdings nur noch bedingt, da sich in der Politikdidaktik die Anhänger eines monodisziplinären Bezugs auf die Politikwissenschaft eher aus fachpolitischen denn aus fachdidaktischen Gründen immer mehr durchsetzen. Nichtsdestotrotz: Geschichtsdidaktik und Politikdidaktik beziehen sich auf unterschiedliche Disziplinen.

Verlässt man die globale Ebene dieser Großdisziplinen und betrachtet ihre Binnendifferenzierung, relativiert sich die bezugsdisziplinäre Differenz, und die traditionelle disziplinäre Trennschärfe verblasst. Einerseits differenzieren sich die traditionellen Disziplinen immer stärker aus und werden zu Großdisziplinen, deren Leitdifferenz in eine Mehrzahl unterschiedlicher Teildifferenzen zerfällt.

Andererseits arbeiten viele der Disziplinen, die zu einer der Großdisziplinen Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft oder Soziologie, aber auch Ökonomik, gehören, immer häufiger mit überdisziplinär geteilten Paradigmen. Es bilden sich disziplinübergreifende Paradigmen mit gemeinsamen Theoriekonzepten und Methodologien heraus. Beispiele sind der Rational-Choice-Ansatz in Soziologie, Ökonomik und Politikwissenschaft oder der Neue Institutionalismus in Ökonomik, Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte (vgl. Hedtke 2002).

Aus diesen Gründen wird es immer schwieriger, im Bezug auf eine Großdisziplin ein unterscheidungskräftiges und kommunikationsfähiges Proprium für Geschichtsdidaktik und für Politikdidaktik zu finden.

 

2.2 Erkenntnisweisen

Erkenntnisweisen könnten eine verlässlichere Orientierung als Großdisziplinen bieten. Die paradigmatisch unscharfe Gestalt der Disziplinen könnte durch deren unterschiedliche Erkenntnisweisen oder Methodologien schärfer konturiert werden. Man kann versuchen, über die Erkenntnisweisen eine je spezifische disziplinäre Identität zu begründen. Dazu benötigt man als Grundlage eine Typologie von Erkenntnisweisen. Für die Kulturwissenschaften hat Hans-Jürgen Pandel jüngst eine Typologie vorgeschlagen (Pandel 2001): historisch-hermeneutische, kritisch-dialektische, empirisch-analytische, quantitativ-statistische, narrativ-faktuale und empathisch-fiktionale Erkenntnisweise.

Aber auch hier stößt man bald wieder auf das Problem der Trennschärfe: Man kann diese Erkenntnisweisen - und auch sämtliche Erkenntnisweisen, die man durch andere Typologien erhalten würde - nicht disziplinär trennscharf einzelnen Fachwissenschaften zuordnen. Eine bestimmte Erkenntnisweise kann zum Fundament mehrerer Disziplinen gehören, eine Disziplin kann sich auf mehrere Erkenntnisweisen gründen. [/S. 116:] Nehmen wir die quantitativ-statistische Verfahrensweise als Beispiel. Wir finden sie als prominentes methodologisches Muster in Disziplinen aus unterschiedlichen Großdisziplinen: in der Wirtschaftsgeschichte, in der Wirtschaftssoziologie, in der Wahlforschung, in der Wirtschaftsstatistik und in der empirischen Makroökonomik. Wenn nicht Gegenstände, sondern Erkenntnis- und Frageweisen Disziplinen konstituieren, stehen sich die genannten Disziplinen wechselseitig wesentlich näher als den Großdisziplinen, denen sie jeweils zugerechnet werden.

Ein zweites Beispiel ist die historisch-hermeneutische Verfahrensweise. Auch sie wird multidisziplinär verwendet. Prominente Exempel dafür sind die historisch-kulturvergleichende Kapitalismusanalyse von Max Weber, die Sinndeutung des Demokratiebegriffs durch Wilhelm Hennis (Hennis 1973), phänomenologische Analysen von Lebenswelten in der Schütz'schen Tradition oder wissenssoziologische Untersuchungen nach dem Berger-Luckmann-Ansatz (Berger/Luckmann 1969).

Die Einsicht in die Unschärfe der Relation Großdisziplin - Erkenntnisweise bedeutet nun keineswegs, dass man auf eine möglichst scharfe Unterscheidung der wissenschaftlichen Erkenntnisweisen verzichten könnte oder sollte. Ganz im Gegenteil, die Erkenntnisweisen repräsentieren spezifische Sichtweisen auf die Welt, und zusammen mit den angewendeten Methoden konstruieren sie erst die unterschiedlichen Welten und ihre Gegenstände (Pandel 2001).

Deshalb könnten die Erkenntnisweisen nur um den Preis eines radikalen Erkenntnisverlustes aufgegeben werden (Pandel 1997 u. 2001). Insbesondere aus fachdidaktischer Sicht halte ich es für kontraproduktiv, Erkenntnisweisen unkontrolliert zu mischen und tendenziell zu homogenisieren. Ganzheitlichkeit ist ein fachdidaktischer Irrweg.

 

2.3 Neuordnung der Disziplinen?

Es bleibt festzuhalten, dass man die traditionelle Ordnung der Disziplinen nicht mehr überzeugend mit deren spezifischen Erkenntnisweisen begründen kann. Wenn Erkenntnisweisen konstitutive Faktoren von Disziplinen (und von Erkenntnisobjekten) sind, viele Disziplinen aber mit mehreren Erkenntnisweisen arbeiten und viele Erkenntnisweisen zu mehreren Disziplinen gehören, dann müsste man die Disziplinenordnung reorganisieren - wenn man Wert auf eine klare Systematik legen würde.

Wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftssoziologische Grundeinsichten warnen aber vor diesem Unterfangen. Zwar sind fachwissenschaftliche und fachdidaktische Strukturen historisch kontingent, aber daraus Hoffnungen abzuleiten, man könne sie ändern und neu schneiden, ist recht kühn. Bereits die öffentliche Absichtserklärung, diese Strukturen auch nur kommunikativ verflüssigen zu wollen, bedeutet eine Herausforderung. Dennoch: Die Debatte muss geführt werden - auch und gerade in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachdidaktiken.

Denn in der zunehmenden Lockerung der festen Kopplungen zwischen Erkenntnisweisen und Disziplinen liegen Chancen für die Fachdidaktiken. Sie können und müssen nun nach fachdidaktischen Kriterien entscheiden, welche Erkenntnisweisen für ihre Leitziele, Leitthemen und Leitkategorien [/S. 117:] - und für ihre fachpolitische Profilierung - besonders geeignet sind und welche nicht. Wie weit sie dabei gehen können, ist noch unklar. Kann man etwa eine Großdisziplin "historisch-sozialwissenschaftliche Didaktik" denken, deren unterschiedliche Disziplinen sich nach Erkenntnisweisen konstituieren? Könnte sich beispielsweise eine dieser Disziplinen durch die Kombination von historisch-hermeneutischer (intentionale Erklärung) und narrativ-faktualer (narrativistische Erklärung) Erkenntnisweise konstituieren? Diese Fragen müssen hier noch offen bleiben.

Die Fachdidaktiken müssen natürlich auch entscheiden, wie sie die ausgewählten Erkenntnisweisen curricular anordnen, thematisieren, methodisch realisieren und zueinander in Beziehung setzen wollen. Im Feld historisch-politischen Lernens kann ein sinnvolles Arrangement der einschlägigen Erkenntnisweisen nur erreicht werden, wenn die beteiligten Fachdidaktiken miteinander kommunizieren und kooperieren. Das gilt nicht nur für schulische, sondern auch für universitäre Bildung.

 

2.4 Fachinterne Divergenz und Integration

Die Großdisziplinen entpuppen sich also bei näherer Betrachtung als multimethodologisch und die Erkenntnisweisen als multidisziplinär. Innerhalb der Großdisziplinen bilden sich eigenständige Disziplinen heraus, charakteristisch ist fachinterne Divergenz. Die Vorstellung eines methodologisch mehr oder weniger geschlossenen Faches, auf das sich Fachdidaktik beziehen zu können meint, entpuppt sich immer mehr als fachpolitische Strategie und fachdidaktische Fiktion - und es kann sein, dass das fachdidaktische Bild von der Bezugsdisziplin in den Sozial- und Kulturwissenschaften nie etwas anderes als Fiktion gewesen ist.

Geschichtsdidaktik hat es schon längst mit Geschichtswissenschaften statt mit Geschichtswissenschaft zu tun, und Politikdidaktik sieht sich mit einer Mehrzahl von Politikwissenschaften konfrontiert - von der Soziologie ganz zu schweigen. Pandel konstatiert, "[d]ie quantitativ arbeitende Wirtschaftsgeschichte hat methodisch mehr Gemeinsamkeiten mit der Ökonomie als mit der weitgehend hermeneutischen Mediävistik" (Pandel 2001). Damit stellt sich die fachdidaktische Aufgabe einer Integration unterschiedlicher Fächer und Erkenntnisweisen schon innerhalb der jeweils ausgewählten einzelnen Bezugsdisziplin. Es ist eine verbreitete Illusion zu glauben, dass die Spannweite und Diversität dessen, was didaktisch innerhalb einer Großdisziplin zu integrieren wäre, wesentlich geringer sei als zwischen zwei Großdisziplinen wie Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft.

 

2.5 Fachinterne Divergenz und Integration

Wir haben es also im kultur- und sozialwissenschaftlichen Feld mit einem ausgeprägten Pluralismus der Erkenntnisweisen, Disziplinen und Paradigmen zu tun, der vielgestaltige Kombinationen hervorbringt und erlaubt. Diese Situation gibt den Fachdidaktiken der historischen und der politischen Bildung einen relativ hohen Freiheitsgrad bei ihren konstitutiven Entscheidungen: der Wahl von Erkenntnisweisen und Bezugsdisziplinen. [/S. 118:]

So gesehen wird die historisch gewachsene und fachpolitisch gesteuerte Zuordnung und Ausdifferenzierung von Großdisziplinen und Disziplinen für Fachdidaktiken zu einem, aus theoretischer Sicht zweitrangigen Aspekt ihres Selbstverständnisses. Das gilt besonders für Fachdidaktiken, die sich an Leitkategorien wie Geschichtsbewusstsein orientieren oder die sich an Politikbewusstsein oder Wirtschaftsbewusstsein orientieren könnten. Sie machen es sich zur Aufgabe, diese gesellschaftlich konstruierten, kollektiv geteilten und unterschiedlichen "Bewusstseine" zur Sprache zu bringen, erlebbar zu machen, zu beschreiben, zu irritieren, aufzuklären, weiterzuentwickeln und zu reflektieren. Als Wissenschaften vom fachspezifischen Lernen könnten sie ihr Interesse auf die nachwachsende Generation konzentrieren. Wie sich Fachdidaktiken auf Disziplinen und Erkenntnisweisen beziehen, sollten sie danach entscheiden, welche Erkenntnisweisen und welche Disziplinen leistungsfähige Beiträge zur Bearbeitung der fachdidaktischen Leitfragen und zur Aufklärung ihres Forschungsgegenstandes liefern können. So würde sich etwa eine Politikdidaktik, die sich durch die Leitkategorie Politikbewusstsein definiert, wesentlich stärker als bisher auf Kommunikationssoziologie, Medienforschung, Wissenssoziologie, Sozialpsychologie, Sozialisationsforschung und Demoskopie beziehen müssen - und auf Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik!

 

3. Fachdidaktische Rekonstruktion der Fachwissenschaft

Vor dem skizzierten Hintergrund ändert sich das Verhältnis von Fachdidaktiken und Fachwissenschaften. Fachdidaktiken, deren Perspektive sich auf Entwicklung, Formen und Inhalte gesellschaftlichen Bewusstseins und auf die damit verbundenen Sozialisations-, Lern- und Verständigungsprozesse richtet, können gegenüber den Fachwissenschaften an Autonomie und Selbstbewusstsein gewinnen. Denn diese Perspektive können sie auch auf die Fachwissenschaften selbst richten, um die Fachwissenschaft fachdidaktisch zu rekonstruieren. Fachdidaktische Rekonstruktion heißt, die implizite Didaktik der jeweiligen Bezugsdisziplin und ihres Verhältnisses zur externen (und internen) Öffentlichkeit zu beschreiben, zu erklären und möglicherweise zu kritisieren und umzugestalten. Fachdidaktiken, die Geschichtsbewusstsein, Politikbewusstsein oder Wirtschaftsbewusstsein in einer Gesellschaft in das Zentrum ihres Interesses stellen, machen auch didaktische Intentionen und Funktionen der einschlägigen Fachwissenschaften, die in der gesellschaftlichen Kommunikation über Geschichte, Politik und Wirtschaft zum Tragen kommen, zum fachdidaktischen Forschungsgegenstand. Fachdidaktik analysiert die implizite - und explizite! - Didaktik der Fachwissenschaften und stellt sie so in einen auf gesellschaftliche Kommunikation gegründeten und gerichteten Kontext. Tilman Grammes' kommunikative Fachdidaktik, die die unterschiedlichen Wissensformen zentral stellt (Grammes 1998), erhält dann eine neue Dimension: Fachdidaktik kann zu einem Ort der Selbstreflexion von Fachwissenschaft werden (vgl. Bergmann 1997, 248). Wollen Fachdidaktiker so unbescheiden sein? [/S. 119:]

Das didaktische Interesse und die didaktische Wirkung der Fachwissenschaft ist der Geschichtsdidaktik offensichtlich bewusst (S. 248 f.). So betont Jeismann, dass die Geschichtswissenschaft nicht unwesentlich zur "Selbstverständigung der Gegenwart" beitrage und "in Motivation und Wirkung didaktischer Natur" sei (Jeismann 2000a, 82). Diese Diagnose gilt meines Erachtens erst recht für Politikwissenschaft, Soziologie oder Ökonomik. Der ökonomische Mainstream beispielsweise ist tief erfüllt von der Mission, der Gesellschaft die Überlegenheit des marktwirtschaftlichen Koordinationsmechanismus nachzuweisen und sie dazu zu bringen, ihre Institutionen nach dem Modell des Marktes neu zu gestalten.

Die fachdidaktische Rekonstruktion der Fachwissenschaft scheint der Geschichtsdidaktik mit der Leitkategorie Geschichtsbewusstsein ein Stück weit gelungen zu sein, während die Politikdidaktik mehrheitlich noch weit davon entfernt ist. Andere Fachdidaktiken müssen beides noch entdecken. Allerdings relativiert Bodo von Borries mit empirischen Befunden aus seinen groß angelegten Studien die bewusstseinsprägende Rolle der Geschichtswissenschaft und betont die Prägekraft nationaler Geschichtskulturen (von Borries 1999, 374). In ähnlicher Weise beklagen einige Politikwissenschaftler Wissenslücken, Vorurteile und Lernwiderstände der Bürger (z. B. Patzelt 1996) - und dokumentieren damit zugleich den didaktischen Impetus ihrer Disziplin und dessen begrenzte Wirkung.

 

4. Differenzierung und Integration über Leitkategorien und Erkenntnisweisen

Angesichts des unübersichtlichen theoretischen Status der Fachdidaktiken im gesellschafts- und geschichtswissenschaftlichen Feld kann man zur Zeit weder eine Integration historisch-politischer Bildung noch deren klare Trennung theoretisch überzeugend begründen.

Das traditionelle Muster, mit dem Fachdidaktiken ihre disziplinäre Identität herstellen und sichern wollen, besteht darin, sich mehr oder weniger eindeutig auf Großdisziplinen und/oder auf deren typische Erkenntnisweisen zu beziehen. Dieses Muster wird angesichts der Doppelbewegung von Differenzierung und Konvergenz der Disziplinen zunehmend obsolet: einer starken disziplinären und binnendisziplinären Ausdifferenzierung der Sozial- und Kulturwissenschaften stehen paradigmatische und methodologische Konvergenzen zwischen den Disziplinen gegenüber. Auch die aktuelle Debatte um das integrative Paradigma der Kulturwissenschaft und einer kulturwissenschaftlichen Methodologie schwächt das traditionelle Muster fachdidaktischer Identität. Vor allem in den siebziger Jahren hat sich die Geschichte mit dem Paradigma der Historischen Sozialwissenschaft in ihrer Fragestellung und ihrer Methodologie den Sozialwissenschaften angenähert. In der jüngsten Vergangenheit kann man nun feststellen, dass sich die Sozialwissenschaften unter dem Paradigma der Kulturwissenschaft ihrerseits der historischen Methodologie annähern. Das gilt insbesondere für die so genannte "kulturwissenschaftliche Wende" der Soziologie, die sich auf die Leitkategorien wie Sinn, Kultur und Historizität richtet (vgl. Lichtblau 2001; Barrelmeyer/Kruse 2002). [/S. 120:]

Vor diesem Hintergrund ist es dringender und schwieriger denn je, historische und politische Bildung von einander zu unterscheiden und unter Aufrechterhaltung und Akzentuierung ihrer Unterschiedlichkeit aufeinander zu beziehen. Die fehlende disziplinäre Trennschärfe der fachwissenschaftlichen Erkenntnisweisen wäre dann für Fachdidaktiken weniger ein Problem als eine Chance, wenn diese sich als eigenständige Disziplinen begreifen oder dazu werden wollen.

Ein eigenständiges, sowohl gemeinsames wie unterschiedenes theoretisches Fundament könnten die Fachdidaktiken des sozial- und kulturwissenschaftlichen Feldes in der Leitkategorie "gesellschaftliches Bewusstsein" und deren Ausdifferenzierung in historisches, politisches und ökonomisches Bewusstsein finden. Darüber hinaus könnte jede Fachdidaktik ihr Spezifikum durch die begründete Wahl derjenigen Erkenntnisweisen schärfen, auf die sie sich konzentrieren will. Geschichts-, Politik- und Wirtschaftsdidaktik wären damit einerseits integriert, nämlich über die allgemeine Leitkategorie gesellschaftliches Bewusstsein und über die Schnittmengen und wechselseitigen Zusammenhänge von historischem, politischem und ökonomischen Bewusstsein. Andererseits wären sie deutlich differenziert, nämlich durch die je unterschiedlichen Leitkategorien Geschichts-, Politik- und Wirtschaftsbewusstsein, durch die spezifischen Erkenntnisweisen, mit denen sie diese Leitkategorien bearbeiten, und nicht zuletzt durch die wesentlichen Differenzen in der Handlungsdimension (auf die ich hier nicht näher eingehen kann).

Mit der Leitkategorie Geschichtsbewusstsein und der Fokussierung auf das narrativistische Paradigma scheint die Geschichtsdidaktik in dieser Richtung bereits einigermaßen erfolgreich zu sein, jedenfalls erfolgreicher als die Politikdidaktik, die sich zunehmend unter die Obhut der Politikwissenschaft flüchtet. Würden sich Politikdidaktik auf die Leitkategorie politisches Bewusstsein und Wirtschaftsdidaktik auf die Leitkategorie ökonomisches Bewusstsein orientieren, könnten sie mit der Geschichtsdidaktik an einem gemeinsamen Ziel arbeiten: Geschichts-, Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsbilder als perspektivische und aufeinander bezogene Konstrukte durchschaubar zu machen und "die gegenwärtige Gesellschaft in ein 'bewusstes' Verhältnis" zu ihrer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu setzen (Jeismann 1990/2000, 47). Im Spannungsfeld zwischen Erwartung und Erinnerung würde damit zugleich die von Jörn Rüsen eingeforderte "kulturelle Erinnerungsarbeit" zur "Öffnung des historischen Bewusstseins für die Zukunftsgestaltung" möglich (Rüsen 1998, 232 u. 228).

Wie weit die Leitkategorie "gesellschaftliches Bewusstsein", der wechselseitige Zusammenhang von Geschichts-, Politik- und Wirtschaftsbewusstsein und die didaktische Rekonstruktion der Fachwissenschaften tragen, wäre aber auch empirisch zu überprüfen. Das zeigt sich exemplarisch am Geschichtsbewusstsein. Der Vorschlag, Geschichtsbewusstsein prospektiv für die Zukunft zu aktivieren, überzeugt im Jeismann-Rüsen-Konzept zwar theoretisch; aber von Borries zeigt, dass sich dazu zumindest bei Jugendlichen empirisch kaum ein Korrelat findet (von Borries 1999, 378-381). Dieses Forschungsfeld, das sich für Denkmuster und [/S. 121:] Denkprozesse des gesellschaftlichen Bewusstseins bei Jugendlichen interessiert und zusätzlich nach den didaktischen Effekten der einschlägigen Fachwissenschaften fragt, kann gut mit der empirischen Unterrichtsforschung verknüpft werden.

Angesichts des "Abgrunds ungeklärter Fragen" kann eine seriöse Theorie einer historisch-politischen Bildung und ihrer Fachdidaktiken derzeit nicht vorgelegt werden. Die Fachdidaktiken des kultur- und sozialwissenschaftlichen Feldes, nicht nur die Geschichts- und die Politikdidaktik, müssen eine Debatte darüber beginnen, wie sie sich angesichts der wissenschaftstheoretischen Unübersichtlichkeit positionieren und zueinander verhalten wollen. Fachdidaktische Selbstentwürfe, die voluntaristisch oder autistisch argumentieren, bleiben allemal unterkomplex. Einen einigermaßen rationalen und wissenschaftstheoretisch anspruchsvollen Diskurs unter den einschlägigen Fachdidaktiken zu beginnen, der über eine rein fachstrategisch motivierte Kommunikation hinausreicht, ist zwar mühsam, aber unvermeidlich.

 

Literatur

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Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.

Bergmann, Klaus (1997): Geschichte in der didaktischen Reflexion. In: Bergmann, Klaus; Fröhlich, Klaus; Kuhn, Annette; Rüsen, Jörn; Schneider, Gerhard (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber: Kallmeyer, Seite 245-254.

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Borries, Bodo von (1995): Das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher. Eine repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland. Weinheim, München: Juventa.

Borries, Bodo von (1999): Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht. (Schule und Gesellschaft; 21). Opladen: Leske + Budrich.

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Grammes, Tilman (1998): Kommunikative Fachdidaktik. Politik, Geschichte, Recht, Wirtschaft. Opladen: Leske + Budrich.

Hedtke, Reinhold (2002): Wirtschaft und Politik. Über die fragwürdige Trennung von ökonomischer und politischer Bildung. Schwalbach/Ts.: [/S. 122:] Wochenschau.

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Patzelt, Werner J. (1996): Ist der Souverän aufgeklärt? Die Ansichten der Deutschen über Parlament und Abgeordnete. Dresden.

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Sutor, Bernhard (1997): Historisches Lernen als Dimension politischer Bildung. In: Sander, Wolfgang (Hg.): Handbuch politische Bildung. (Politik und Bildung; 11). Schwalbach/Ts.: Wochenschau, Seite 323-337.

 

Jeismann, Karl-Ernst (1992): Thesen zum Verhältnis von Politik- und Geschichtsunterricht

 

1.

"Zur Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht" - unter diesem Titel hat Rolf Schörken (1978) einen Sammelband herausgegeben. Sein Ziel war, die lange Diskussion über dieses Thema weiterzubringen in der Hoffnung, dass daraus eine auch in Richtlinien, Stundenplänen und Unterrichtsmaterialien fundierte Kooperation beider Fächer werden könne. Der Zeitpunkt war nicht schlecht gewählt: Die Curriculumrevision war in vollem Gange, die wissenschaftlichen und didaktischen Problemfelder der Fächer wurden neu vermessen. Das war Begleitumstand und Folge eines doch recht tiefgreifenden Prozesses der Umgestaltung der politischen Kultur einerseits, der historischen Perspektiven und Erkenntnisweisen andererseits, die seit zehn Jahren Bewegung in das politische und gesellschaftliche Selbstverständnis gebracht hatte. Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien waren in der Öffentlichkeit und in Parlamenten zu politischen Streitpunkten geworden. Das Verhältnis von Geschichte und Gesellschaftswissenschaften, Geschichtsunterricht und politischem Unterricht war einer der Brennpunkte dieses Streites, der sich insbesondere in der Auseinandersetzung um die Hessischen Rahmenrichtlinien und die Rahmenpläne für die Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen zugespitzt hatte. Aus dieser, in den späten 70er Jahren steril werdenden und politisch instrumentalisierten Kontroverse sollte der Band herauszuführen helfen.

Schörken leitete ihn ein mit dem Satz: "Es gibt niemanden, der mit der Zusammenarbeit von Geschichts- und Politik-Unterricht (Sozialkunde), wie sie gegenwärtig an den Schulen der Bundesrepublik praktiziert wird, wirklich zufrieden ist." (Schörken 1978: 9).

Fragt man nach über einem Jahrzehnt, ob nunmehr Grund zur Zufriedenheit besteht, wird man schwerlich zu einer positiven Antwort finden. Die damals noch relativ offene Diskussion der Richtlinien ist inzwischen zur Ruhe gekommen. Auch wenn Lehrpläne immer wieder überarbeitet werden, so sind doch die curricularen Vorgaben verfestigt. Es ist nirgendwo gelungen, eine Kooperation von Geschichts- und Politikunterricht in den Richtlinien, in den Stundenplänen, in den Unterrichtsmaterialien oder durch institutionalisierte Zusammenarbeit von Geschichts- und Politiklehrern zur Regel zu machen. Vielmehr hat sich jedes Fach in seinen Bezirken eingerichtet. Dass hin und wieder ein Blick über die Grenzen geworfen wird, dass Unterrichtsmaterialien entstanden sind, die es dem engagierten Lehrer ermöglichen, eine Verbindung der Perspektiven und Lernziele beider Fächer zustande zu bringen, ist sicher richtig, kann aber nicht über das Scheitern der Ansätze einer didaktisch fundierten, im Curriculum verorteten wechselseitigen Beziehung beider Fächer hinweg täuschen (2).

Ich habe nun nicht zu sprechen über die kulturpolitischen und auch standespolitischen Hintergründe, über die schulpraktisch-organisatorischen, stundenplantechnischen Schwierigkeiten, die einer solchen Zusammenarbeit im Wege standen und stehen. Ich will vielmehr einige grundsätzliche Gedanken zum Problem der Zusammenarbeit beider Fächer äußern.

 

2.

Beide Fächer gehören, wie der Religionsunterricht, aus dem sie, historisch betrachtet, sich ableiten, zu jener schwierigen Fächergruppe, deren Aufgabe nicht die Vermittlung von Kulturtechniken und Fertigkeiten im spezifischen Sinne ist - wie es für die Fremdsprachen, die Mathematik, die Naturwissenschaften, die Leibeserziehung zutrifft: Fächer, die zwar auch einen &Uml;berschuss über diese Techniken enthalten, aber zunächst doch auf die operationalisierbare und evaluierbare Vermittlung von Fertigkeiten zielen. Es geht in unseren Fächern vielmehr um ein Bündel von nie eindeutig zu gebenden Antworten auf die Frage, was der Mensch und was seine Mitmenschen seien und wie sie ihr Zusammenleben gestaltet haben oder gestalten sollten - die alte Frage Walthers von der Vogelweide: "wie man zer werlte solte leben". Diese Fächer sind, weil sie dem historischen Wandel stärker unterliegen als andere, in hohem Grade selbst "historische" Fächer, Kinder ihrer Zeit; sie sind, weil sie die jeweils gegenwärtigen Bedürfnislagen und Zustände von Staat und Gesellschaft als unvermeidliche Bestimmungsfaktoren in sich tragen, auch unmittelbar politische und also umstrittene Fächer. Wie sie sich im Bildungsganzen definieren, wie sie ihren Zusammenhang untereinander und mit anderen Fächern sehen, das ist Ausdruck der gesellschaftlichen Befindlichkeit des Raumes und der Zeit, in der sie stehen.

Ich kann nicht der Versuchung nachgeben, das Verhältnis dieser beiden Fächer anhand bildungsgeschichtlicher Perspektiven in die historische Dimension zu rücken. Als Prinzipien des Unterrichts, längst ehe sie zu eigenen Fächern mit eigenen Fachlehrern wurden, waren historische und politische Bildung zeitspezifisch immer in den verschiedensten Formen vorhanden und miteinander verbunden; der Blick auf die Geschichte dieser Verbindung hätte den Vorzug, festgefahrene Positionen der Gegenwart zu verflüssigen und in ihrer Relativität zu verdeutlichen. Ich muss statt des langen Weges durch die Geschichte den kurzen Weg systematischer Bestimmung dieser Fächer wählen - ungeachtet der damit verbundenen Notwendigkeit zu grober Vereinfachung - und erst zum Schluss wieder zum Eingang zurückkehren mit der Frage, ob die Diskussion der 70er Jahre uns nicht doch emsige grundsätzliche Einsichten und pragmatische Hinweise hinterlassen hat, an die anzuknüpfen sich lohnt, wenn man der Zusammenarbeit beider Fächer wieder näher treten will.

 

3.

In Thesenform und scharf zugespitzt will ich das, was den Geschichtsunterricht und den Politikunterricht - wobei ich ihn nicht im engen Sinne einer Staatsbürgerkunde, sondern im modernen Sinne als Gesellschaftslehre fasse - verbindet und was sie trennt, formulieren. Dieser Versuch impliziert wissenschaftstheoretische und didaktische Entscheidungen, die wie ich denke, deutlich werden, ohne dass ich sie vorab entwickle. Drei Thesen beziehen sich auf den Gegenstand, die Bezugswissenschaften und die Lern- oder Bildungsziele beider Fächer. These 1: Geschichtsunterricht und Gesellschaftslehre haben es mit demselben Wirklichkeitsbestand, also mit demselben Gegenstand oder "Stoff" zu tun.

Dies mag überraschen und mit den Befunden in den Lehrplänen und Schulbüchern nicht übereinstimmen; darauf komme ich zurück. Gleichwohl gilt, dass grundsätzlich die Begriffe der Gesellschaft und der Geschichte voneinander nicht getrennt werden können. Die Geschichte ist der Prozess der Gesellschaft oder, wie man früher sagte, der "Menschheit"; der jeweilige Gesellschaftszustand mit all seinen verschiedenen Sektoren ist ein Augenblick im Prozess der Geschichte, der Vergangenheit und Zukunft in sich enthält.

These 2: Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft (Sozialwissenschaften) konstituieren sich angesichts des gemeinsamen Gegenstandes als eigene Disziplinen nicht durch ihren Stoff, sondern durch ihre Erkenntnisziele und Fragestellungen.

Die Wissenschaftsgeschichte zeigt die enge Verbindung beider Disziplinen: Der Historiker Dahlmann schrieb eine vielbeachtete "Politik" und Sozialwissenschaftler, Max Weber an herausragender Stelle trieben die historische Forschung weiter. Dennoch entstehen durch die spezifische Erkenntnisrichtung - Kant hat gesagt, es sei nicht der Gegenstand, sondern die "Idee", die eine Disziplin schaffe - spezifische Unterschiede. Man hat sie zu Beginn unseres Jahrhunderts in der Methode zu finden gesucht: die Geschichtswissenschaft gehe idiographisch, das Individuelle suchend vor, während die Sozialwissenschaften das Systematische, das Generelle und Allgemeine auf den Begriff zu bringen suchten. Jene sei hermeneutisch verstehend, diese analytisch erklärend angelegt.
Diese Unterscheidung, wenngleich immer noch durchschimmernd, ist nicht mehr spezifisch. Spezifisch hingegen ist der Unterschied zwischen dem Willen, Vergangenheit in Zustand und Prozess als solche wahrzunehmen einerseits, und dem Ziel andererseits, die gesellschaftlichen Verhältnisse, ob gegenwärtige oder vergangene, als Modelle von Vergesellschaftung in ihren theoretischen und praktischen Formen und Voraussetzungen zu begreifen, ihre Wirkungsweise auf den Begriff zu bringen und schließlich auch, in nicht nur erklärender, sondern praktischer Absicht für die Gegenwart Handlungsmaximen zu begründen - Politikberatung entweder wissenschaftlich zu fundieren oder gar selber zu sein. Geschichtswissenschaft versteht sich als Explikation des Humanen, wie es sich in der Vergangenheit zeigt, die Sozialwissenschaft ist die Explikation von Formen der Vergesellschaftung mit dem Interesse an der Erklärung der Gegenwart. In der Beschreibung der Genese der Gegenwart oder der Untersuchung von Analogien überschneiden sich beide Wissenschaften; dennoch gibt ihnen das unterschiedliche Erkenntnisziel unterschiedliche Profile. Dass dabei insbesondere die Zeitgeschichte und die Politikwissenschaft enger zusammenrücken, ist nur ein akzidentieller, kein systematischer Befund.

These 3: So wie sich die Bezugswissenschaften beider Fächer durch ihre Erkenntnisrichtungen berühren und unterscheiden, so die Fächer in der Schule durch ihre grundlegenden Lern- oder Bildungsziele.

Da im Unterricht nicht die gleiche Unendlichkeit und Freiheit der Fragestellungen und Themenwahl herrschen kann wie in der Wissenschaft, treten, erzwungen durch die Notwendigkeit scharfer didaktischer Reduktion und durch die jeweiligen Lerngruppe, einerseits die Spezifika beider Fächer schärfer hervor als in den Bezugswissenschaften; andererseits sind aber auch die Ansprüche der eng verwandten Fächer stärker, die jedes auf den Gegenstands- und auf den Bildungsbereich des anderen macht. Die bekannte Argumentationsfigur, dass die wahre und richtige politische Bildung nur durch den Geschichtsunterricht erfolgen, und die gegenteilige, dass eine relevante, zu verantwortende historische Bildung nur im Rahmen eines bestimmten Politikverständnisses erfolgen könne und von daher zu entwerfen sei, sind hinlänglich bekannt.
 

4.

Vor diesem Hintergrund unterscheide ich im folgenden allein für den Bereich des Unterrichts - 3. These - in scharfer Verkürzung drei gleichsam "reine Formen" des Verhältnisses von Politik- und Geschichtsunterricht. Sie sind keine willkürlichen didaktischen Setzungen, sondern erfassen didaktische Konzeptionen und Zustände im Grundsätzlichen; diese sind wiederum Ausdruck gesellschaftlicher Verfasstheit und Selbstinterpretation, die sich in der Organisation des staatlich veranstalteten Unterrichts niederschlägt. Diese historisch wechselnden Beziehungen sind im weitesten Sinne selbst ein Politikum, Gegenstand nicht nur wissenschaftstheoretischen und didaktischen, sondern vor allem politischen Streites.

Drei Grundformen des Verhältnisses beider Fächer verdeutliche ich an dem - natürlich schiefen - bildlichen Vergleich, indem ich es mir als unterschiedliches Verhältnis von Kreisen vorstelle.

 

4.1

Beide Fächer verhalten sich wie konzentrische Kreise. Welcher den anderen in sich enthält ist In den Konzeptionen verschiedener Zeiten unterschiedlich, im Grunde aber auch belanglos. Die jüngste Konzeption ist das in den 70er Jahren vieldiskutierte "Integrationsmodell".

Dieses Verhältnis war lange Zeit das herrschende - solange, bis sich aus der noch zaghaften Entwicklung der Staatsbürgerkunde und auf der Basis der Entwicklung der Sozialwissenschaften schließlich ein eigenes Fach herauskristallisierte, das nicht nur als "Gemeinschaftskunde" spezifische Prinzipien bündelte, sondern sich autonom verstand als politischer Unterricht, Gesellschaftslehre, Sozialkunde.

Der Geschichtsunterricht hat sich seit seiner Institutionalisierung im frühen l9. Jahrhundert immer auch als das Fach der politischen Bildung verstanden. Der Konflikt zwischen historischer und politischer Bildung wurde in den Grenzen des Faches selbst ausgetragen Ich erinnere an den Protest Oskar Jägers gegen die Versuche in der Wilhelminischen Zeit den Geschichtsunterricht politisch zu instrumentalisieren, seinen Kreis also genau in den übergeordneten Kreis politischer Bildung einzupassen: "Wenn man fragt, wie sich unser Unterricht national, nationaler, am nationalsten, deutsch, deutscher, am deutschesten gestalten lasse, so antworten wir einfach - indem man sich ... bemüht, ihn immer wahrer zu gestalten."(zit. nach Weymar 1961: 222). Jäger war kein Kritiker des nationalen Staates, war kein Gegner deutscher nationaler Bildung, aber er war ein Gegner der Subordination historischen Lernens unter politische Ziele, anders ausgedrückt, er verteidigte mit dem, was er "Wahrheit" der Historie nannte, den über die "Deutschheit" räumlich, zeitlich und sachlich hinausreichenden Bildungs- und Erkenntnisraum der Geschichte. Anders als Jäger hat der letzte bedeutende Geschichtsdidaktiker, der aus der Weimarer Zeit bis in unsere Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg hinaus gewirkt hat, Erich Weniger, den Geschichtsunterricht in didaktischer Reduktion den Zielen der politischen Bildung untergeordnet. Das Verständnis der Entwicklung des nationalen, republikanischen Staates, der ihn erhaltenden Kräfte und die Fähigkeit, in solchem Staate Verantwortung zu tragen, galt ihm als das "Herz" des Geschichtsunterrichtes, der eine spezifische Form der politischen Bildung sei. Dass Geschichtsunterricht überhaupt sei, wird aus seiner politischen, staatsbürgerlichen Funktion legitimiert (3). Auf ganz andere Weise haben die rudimentären Ansätze einer Neuordnung des Geschichtsunterrichts im Nationalsozialismus und die elaborierten geschichtsmethodischen Instrumente in den kommunistischen Staaten, besonders konsequent in der DDR, den Geschichtsunterricht als politischen Unterricht verstanden - in dem weiten Sinne freilich, dass man auch umgekehrt den politischen Unterricht - Marxismus-Leninismus oder Staatsbürgerkunde - als weltgeschichtlich historischen Unterricht hätte bezeichnen können. Das war möglich durch die Grundannahme des Histomat, die als wissenschaftliche Wahrheit verstandene Geschichtsphilosophie (4).

Die konzentrische Kreisform des Verhältnisses beider Fächer deutet auf ein politisches und historisches Bewusstsein hin, das sich des Sinnes und Zieles der Universalgeschichte oder begrenzterer Sinngebungen, etwa der nationalen Geschichte, gewiss ist und diese Gewissheiten nicht befragen lässt, sondern als historisch evident setzt. Formal macht es dabei keinen Unterschied, ob die politische Bildung, welche den Geschichtsunterricht in ihren Dienst nimmt, auf den dynastisch-monarchischen Staat, die nationale Republik, die "Volksgemeinschaft", die klassenlose Gesellschaft hinzielt: Immer ist es das Ziel politischer wie historischer Bildung, den Heranwachsenden zu befähigen, in &Uml;berzeugung und Handlungsbereitschaft sich in den Dienst dieser historisch-politisch als fraglos richtig verstandenen Zielvorgabe zu stellen.

An dieser Stelle des Gedankens wird man sich die schwierige Frage vorlegen müssen, ob ein solches Verhältnis der Fächer mit seinen Auswirkungen auf die Wahl des Gegenstands, auf Deutung und Werturteil zu verurteilen oder zu rechtfertigen ist, je nachdem, ob die Überzeugung vom Geschichtsverlauf und von der zu erhaltenden oder zu erreichenden politisch-gesellschaftlichen Ordnung richtig oder falsch, besser: erwünscht oder unerwünscht ist. Wir kämen bei einer solchen Behauptung in eine heikle Situation, sobald unser als richtig verstandenes Ziel politischer Bildung möglicherweise durch den Verlauf der Geschichte selbst Korrekturen erfährt. In der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts ist dies bislang dreimal der Fall gewesen, aber in der Diskussion des Verhältnisses von Geschichts- und Politikunterricht spielt die Figur der konzentrischen Kreise bis in unsere Tage weiterhin eine bedeutende Rolle, indem die Sinn- und Zielrichtungen der Geschichte zugleich mit den Normen richtiger politischer Ordnung neu definiert werden.

So hat Hermann Giesecke in einer lesenswerten Fortführung und Erweiterung der Konzeption von Erich Weniger den Geschichtsunterricht politisch begründet, indem er den noch formalen, republikanischen Staatsbegriff Wenigers erweiterte zum Begriff einer demokratisch verfassten Gesellschaft - nicht etwa wie sie existiert sondern wie sie werden soll (Giesecke 1978). Die Geschichte wird für die Geburt der besseren, der wahrhaft demokratischen Welt zu Hilfe gerufen als Nachweis dafür, dass nichts so bleibt, wie es ist, dass die Welt veränderbar ist, die Zukunft die bessere Alternative zur Vergangenheit sein müsse. Dahinter steht ein Totalentwurf der menschlichen Gesellschaft, wie sie sein soll; daher ist nach Giesecke ohne den Bezug auf die "Kritische Theorie" eine Begründung und Legitimierung des Geschichtsunterrichtes nicht möglich. Bei Annette Kuhn erscheint dann die Geschichte in gleicher Tendenz als eine Kette von Defiziten, aus der die Versuche erinnerungswürdig sind, sie zu überwinden (Kuhn 1974: 15f.) - das ist eine alte Denkfigur, viel klarer als bei den Modernen, aber auch viel vorsichtiger schon dargestellt in Kants Skizze zur Idee einer Universalgeschichte in weltbürgerlicher Absicht (Kant 1968).

Diese Rechtfertigungen historischen Lernens aus emanzipatorisch politischer Zielsetzung sind nur dem Vorzeichen, nicht der Struktur nach unterschieden von jenen, welche die Geschichte als Tradition beschwören, nicht zur Emanzipation, sondern zur Identitätsbildung aufrufen, entweder, um die gegenwärtigen Zustände als gewordene zu rechtfertigen, oder aber, um sie angesichts besserer Vergangenheit zu kritisieren und zur Rückkehr aufzufordern. Ein Musterbeispiel für die "emanzipatorische" Konstruktion des Verhältnisses der beiden Fächer des konzentrischen Kreises waren die Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre (1972). Der letzte gegenläufige, affirmativ-konservative Versuch, politische Bildung durch Geschichte unmittelbar zu legitimieren und Geschichte als Beweis des Existenzrechts gegenwärtiger Ordnung zu nehmen, waren die kräftigen - keineswegs aber durchschlagenden - Initiativen einer monarchisch-nationalistischen historisch-politischen Didaktik (5).

Diese Konzepte, mehr oder weniger stringent, mehr oder weniger dogmatisch angelegt, wurzeln in einer Geschichtsgewissheit - begründet in Tradition oder durch Utopie - und im Glauben an die Normativität einer Gesellschaftsvorstellung. Indem sie das historische Lernen darauf ausrichten und in Selektion der Thematik wie der Wertungen allein in diese Perspektive einstellen, verzichten sie darauf, das kritische Potential an der eigenen Interpretation zu mobilisieren, welches die Geschichte bereithält, und fixieren den Schüler auf eine bestimmte historische Lehre. Das ist im Sinne der Traditionalisten politisch verständlich, ganz unverständlich aber in der Denkweise derer, die Emanzipation als Sinn der Geschichte propagieren, jedoch die historischen Formen von Emanzipation selbst der Kritik entziehen. Das zeigt sich z.B. in den didaktischen Entwürfen dieser Art am undifferenzierten, unreflektierten Gebrauch des Begriffs der "Demokratie". Er erscheint als nicht mehr hinterfragbarer Legitimationsbegriff und wird abstrakt (6). Die Vergangenheit wird mediatisiert angesichts des Zukunftsentwurfs. Die ambivalente Geschichte dessen, was alles mit dem Demokratiebegriff sich rechtfertigte, verschwindet. Im Extremfall führt das zum Wirklichkeitsverlust und damit nicht nur zur Verkürzung der historischen, sondern auch zur Untauglichkeit der politischen Bildung. So läuft die Betrachtung des konzentrischen Verhältnisses beider Fächer auf die Frage zu, wie es zu verhindern ist, dass historisches Lernen zur bloßen Bestätigung politischer Doktrin und damit zur Verfälschung von Geschichte missrät - und umgekehrt.

 

4.2

Während man über die in konzentrischen Kreisen zu veranschaulichende Struktur an vielen Beispielen noch lange diskutieren könnte, ist die nächste Figur relativ kurz abzutun: Die nebeneinander stehenden, voneinander isolierten Kreise. Das wäre eine politische Bildung, die den Bezug zur Geschichte, zur Veränderbarkeit der Welt verloren hat und nur noch auf das Funktionieren in gegebenen Systemen abzielt. Eine Art kybernetische Didaktik, die Denken, Urteilen und Verhalten nach der systemimmanenten Rationalität einübt. Herwig Blankertz (1974: 51ff.) hat das beschrieben, und ich gehe hier nicht weiter auf solche Entwürfe ein. Die Entsprechung beim historischen Lernen wäre die Präsentation einer Geschichte, die mit der Gegenwart nichts zu tun haben will, Gegenwartsbezüge als Verformung der historischen Wahrheit ablehnt in der Ansicht, nur auf solche Weise Parteilichkeit und Verzerrung der Geschichte vermeiden zu können. Es gibt solchen gegenwartsabstinenten Positivismus nach großen historischen Enttäuschungen oder Zusammenbrüchen als eine Art Flucht in die Geschichte; aber im Grunde erliegt eine solche Konzeption der bekannten Selbsttäuschung, die ihre geheimen steuernden und sehr gegenwärtigen Antriebe nicht erkennt oder nicht wahrhaben will.

Theoretisch ist über diese Modell nicht viel zu diskutieren. Aber praktisch kann es sich sehr wohl einstellen, wenn sich die Vertreter des Politikunterrichts und des Geschichtsunterrichts, genervt durch jahrelange Auseinandersetzungen oder durch Lehrplan- und Stundentafeln getrennt, auf ihre Bastionen zurückziehen, wenn im Schulalltag kein fachliches Gespräch zwischen beiden zustande kommt, wenn die Lehrpläne nur ein isoliertes Nebeneinander vorsehen und wenn nicht die Lehrer selbst je für sich diese Schwächen durch einen Geschichts- oder Politikunterricht vermeiden, der die Gegenwartsdimension der Geschichte und den Prozesscharakter des Politischen berücksichtigt.

Durchdenkt man dieses Modell nicht bis in seine Konsequenzen, sondern sieht es pragmatisch, kann natürlich eine Menge an für die politische Bildung wichtigem Wissen und auch an nützlichen Verhaltensformen für die Gegenwart herauskommen, kann das Bildungspotential der Geschichte jenseits von politischer Bildung entfaltet werden, kann anschauende Kontemplation, Empathie, kann Staunen geweckt werden. Die Frage ist jedoch, ob dies dem Auftrag der öffentlichen Erziehung entspricht und ob es den Bildungsbedürfnissen der Jugendlichen angemessen ist, wenn der Politikunterricht absieht vom vergangenen Prozess und also auch von der kommenden Geschichte, von der Zukunft, der Geschichtsunterricht aber Menschen in einem Alter, das nach Selbstfindung, nach Deutung der gegenwärtigen Welt strebt, in ein Panoptikum führt, das der alte Mensch vielleicht einordnen kann in Lebenserfahrung und Bildungswissen, um, wie der späte Burckhardt, "weise für immer" zu sein, das dem jungen Menschen aber als belanglos, ohne Beziehung zu seiner eigenen Welt erscheinen wird.

 

4.3

Das dritte Modell lässt sich durch die Figur der sich überschneidenden Kreise veranschaulichen. Geschichtsunterricht und Politikunterricht sind in ihren Lernzielen und in ihren Bildungsperspektiven nicht identisch, aber aufeinander verwiesen. Sie haben ein Gebiet gemeinsamer Gegenstände, Methoden und Ziele sowie gemeinsamer Rückgriffe auf die Bezugswissenschaften. Diesen &Uml;berschneidungsbereich als das eigentliche Feld ihrer Zusammenarbeit gilt es zu bestimmen und von dem jeweils eigenen, geschichts- oder politikspezifischen Feld zu unterscheiden.

Obgleich immer wieder von den Prinzipien politischer Bildung im Geschichtsunterricht hier, von der historischen Perspektive im Politikunterricht dort gehandelt wurde, fehlt es an einer generellen Bestimmung des &Uml;berschneidungsbereiches beider noch weithin. Mit dem Hinweis auf den gemeinsamen Stoff, den die Zeitgeschichte liefert, ist zwar Richtiges, aber durchaus Vorläufiges über die Schwierigkeiten beider Fächer gesagt. Eine Annäherung an die Bestimmung der Gemeinsamkeiten lässt sich vielleicht am besten durch den Versuch erreichen, das Unterschiedliche zu benennen.

Historisches und politisches Lernen zielen gleichermaßen auf den Erwerb von Kompetenzen, sich in Gegenwart und Zukunft unserer Welt zuverlässig zu orientieren und verantwortlich zu verhalten. Aber in verschiedener Weise. Wie in den Bezugswissenschaften des politischen Unterrichts das Erkenntnisinteresse auf die gegenwärtige Gesellschaft zielt, sie zu erklären und ihren praktischen Handlungsbedarf zu ermitteln sucht, so geht es der poetischen Bildung um Erkenntnis der Grundstrukturen dieser Gegenwart und die Vermittlung der Fähigkeit, sich in ihnen angemessen zu orientieren und zu verhalten. Dem widerspricht nicht, dazu gehört vielmehr, dass Erkenntnis der Gegenwart angewiesen ist auf das Wissen und die Erfahrung des Gewordenseins und der Veränderlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft. Mit dieser historischen Perspektive wird nicht die Geschichte selbst zum Ziel der Erkenntnis. Greifen die Sozialwissenschaften in die Vergangenheit zurück, tun sie es, um entweder die Genese der Gegenwart oder, durch historischen Vergleich, ihre Strukturen deutlicher zu erfassen; so auch die politische Bildung, welche bestimmte, dazu dienliche geschichtliche Zustände oder Prozesse in Kontrast oder Ähnlichkeit oder in Betrachtung von Ursache und Wirkung, also als Vorgeschichte der Gegenwart zu deren Erklärung heranzieht. Historisches hat in dieser Perspektive keinen Eigenwert, sondern bleibt notwendig (und bisweilen problematisch) in einer Hilfsfunktion. &Uml;ber diese historischen Verständnishilfen hinaus gibt es für die politische Bildung angesichts der komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse einen so ausgeweiteten Kenntnis- und Einsichtbedarf, den der Geschichtsunterricht bei noch so intensivem Gegenwartsbezug nicht befriedigen könnte, dass schon allein deshalb der politischen Bildung ein breiter Raum eigener Kenntnis- und Einsichtsvermittlung verbleibt (7).

Noch wichtiger für die Begründung der Selbständigkeit politischen Unterrichts: Seine Bildungsziele umfassen den kognitiven Bereich, greifen aber darüber hinaus in den affektiven und instrumentalen Lernzielraum: politische Bildung erfährt ihre Vollendung nicht in der Kenntnis und Einsicht, sondern im politischen und sozialen Verhalten, das aus Einsicht und Engagement zugleich erwächst. Insofern ist der politische Unterricht handlungsorientiert. Hier entsteht nun sein ureigenstes Problem: In einer Gesellschaft hochgradiger Komplexität, in der nur noch Experten einen kleinen Bereich politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Lebens zu durchschauen und zu beurteilen vermögen, gilt dennoch das Postulat universaler Partizipation, der Anspruch eines jeden - und an einen jeden -, mindestens über alles Grundsätzliche mitzubestimmen und auf den verschiedensten Wegen an Entscheidungsfindungen teilnehmen zu können, deren Auswirkungen er - häufig nicht einmal auf seine eigenen Interessen bezogen - kaum kalkulieren kann. In dieser Situation die Balance zwischen Kompetenz und Teilhabe zu gewinnen, ist die wichtigste und schwierigste Aufgabe politischer Bildung - der Geschichtsunterricht wird hier bestenfalls mittelbar helfen können.

Politischer Unterricht überschneidet sich - wie gesagt - mit dem Lernzielraum des Geschichtsunterrichts im genetischen oder vergleichenden Rückgriff auf die Geschichte. Der Geschichtsunterricht aber kann sich nicht im Aufweiß von Genese oder Analogie erschöpfen - kann nicht die "Gegenwart" allein zum Maß für die Wahrnehmung der Vergangenheit machen. Er richtet die Aufmerksamkeit darüber hinaus auf die Eigenart der Vergangenheit selbst, die durch ihre gegenwartsbestimmenden Erscheinungen nicht ausdefiniert ist, sondern immer einen &Uml;berschuss an Andersartigem, Fremdem enthält. Er kann uns als abgetan vorkommen und wird von den Fragerichtungen und Erkenntniszielen, auch von den Verhaltensnormen, die der Politikunterricht anstrebt, nicht erfasst, gehört aber zu den wesentlichen Elementen historischer Bildung. Geschichte ist nicht Echo der Gegenwart, sondern Frage, Kommentar, Widerspruch. Als Analogon und durch die Erhellung der Genese der Gegenwart leistet historische Bildung einen Beitrag zur politischen Bildung des Bürgers; als Bemühung um Erkenntnis der Fremdheit, der Andersartigkeit, der besonderen Existenz von Mensch und Gesellschaft, die ganz unabhängig von ihrer Gegenwartsbedeutung von Belang ist, bestimmt er seinen eigenen Lernzielbereich für eine Bildung des Menschen. Auf diesem "immediaten" Zugang zur Vergangenheit muss der Geschichtsunterricht schon deshalb bestehen, weil man nie weiß, welche Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft relevant werden wird - das führt uns heute die geschehende Geschichte in Ost- und Südosteuropa vor Augen.

Stärker als durch verborgene Kontinuitäten lässt sich die Eigenbedeutung der Vergangenheit durch unmittelbare humane Relevanz begründen: Gerade Anschauung und Verständnis der zeitlich, politisch, kulturell fremden, unvertrauten, ganz eigenartigen Lebens- und Denkweisen kann Solidarität mit der "Menschheit", ihren Leistungen und ihrem Leiden anbahnen, auch wenn uns beides nicht direkt und real betrifft. Der Geschichtsunterricht bietet damit ein Gegengewicht zum Gegenwartsbezug und zum Selbstbezug - beide haben ja neben ihren pädagogischen Vorzügen auch die Nachteile der Befangenheit. Deshalb wird der Geschichtsunterricht, so wenig er vor der genetischen Erklärung der Gegenwart oder dem Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit zurückscheut, immer wieder auch Distanz zur Gegenwart schaffen müssen.

Mit dieser erkenntniserweiternden Distanz bringt er in die politische Bildung einen Reflexionswiderstand ein, der zur Vorsicht und Abwägung bei Urteilen mahnt und den schnellen direkten Handlungsimpuls bremst, den Drang zum Aktionismus zügelt. Dass politisch in der Gegenwart ohne letzte Sicherheit gehandelt werden muss, bleibt davon unberührt - aber es sollte im Wissen um diese letzte Unsicherheit gehandelt werden. Der "Machthaber" muss sich nicht auch als "Rechthaber", gar als alleiniger, fühlen dürfen, und die Bürger sollten aus historischer Kenntnis und Bildung so auftretenden Politikern nicht als den charismatischen Führern folgen, sondern sie mit Skepsis beurteilen können - auch das ist eine handlungsorientierte Zielvorstellung, in der sich Lernziele des Geschichtsunterrichts gerade wegen ihrer Distanz vom unmittelbaren Gegenwartsbezug wieder mit denen des politischen Unterrichts treffen.

Positiv kann man diese Reflexionshürde, die historische Bildung vor politisches Handeln setzt, als "Besonnenheit" bezeichnen. Kern dieser Besonnenheit ist das durch Vergegenwärtigung geschichtlicher Abläufe, Ursachen und Wirkungen gewonnene Wissen um die Ambivalenz und die Kontingenz politischer Programme und Maßnahmen, Planungen und Wirkungen, um die Bedeutung der ungewollten Nebenfolgen und letztlich um die Ungewissheit und also um die ständige Korrekturbedürftigkeit politischen Verhaltens und Handelns.Das ist kein Plädoyer für einen historisch legitimierten Quietismus. Historisches Lernen steht politischem Wollen und Handeln nicht im Wege. Die kognitiven und zugleich "empathischen", den Horizont des Verständnisses über die offensichtlichen Gegenwartsbelange hinaus weitenden Lernziele des Geschichtsunterrichts fügen der Handlungsorientiertheit, die aus politischem Willen, aus Interesse und Vision, aus Einsicht und Moral sich speist, den Verweis auf sekundäre Erfahrung hinzu. Sie kann zugleich Vorsicht und Entschiedenheit bewirken, vor allem aber &Uml;berhebung und falsche Selbstgewissheit verhindern.

Wie die schwierigste Aufgabe des politischen Unterrichts darin besteht, die Spannung zwischen allgemeinem Partizipationsanspruch und hochkomplexer Realität durch politische Bildung verantwortbar zu vermitteln, so die des Geschichtsunterrichts, die Unendlichkeit und Vielfalt historischer Anschauung zu historischer Bildung zusammenzufügen. Beliebigkeit des historischen Wissens, Blindheit des historischen Gefühls, des "Geschichtsbegehrens", ebenso zu vermeiden wie anmaßende Geschichtsgewissheit. Der Versuch, das Lernzielspektrum dieses Faches durch den Leitbegriff des "Geschichtsbewusstseins" zu bündeln und durch die Ausfächerung der dadurch bezeichneten Leistungen zu konkretisieren, steht im Dienst dieses Bemühens, das sich schon lohnt, wenn es nur annäherungsweise sein Ziel erreicht (8).

Dieser Ansatz braucht hier nicht entfaltet zu werden; er gehört zu den ausführlich diskutierten Themen der Geschichtsdidaktik. Im Hinblick auf die indirekte Bedeutung für die politische Bildung soll nur auf den Gegenwartsverständnis und Vergangenheitsdeutung verbindenden Bereich der historischen Wertungen verwiesen werden, die in der Regel in unmittelbarem Zusammenhang mit politischen Positionen der Gegenwart stehen. Alle Legitimierungen politischen Handelns oder politischer Zustände durch historische Bezüge lehrt ein so verstandener Geschichtsunterricht durch die Kritik des historischen Sachurteils und der Zeitanalyse zu schicken, auf ihre Stichhaltigkeit zu befragen, zu differenzieren und damit zuverlässiger zu machen oder als Agitationsfigur abzutun. Dass mit solcher Leistung kontroverse politische Positionen der Verhärtung entzogen und in ein diskursives Verhältnis zueinander gesetzt werden können, ließe sich am Beispiel der internationalen Schulbuchforschung nachdrücklich zeigen.

Der Gedankengang hat uns über den Versuch, den je eigenen Bereich des politischen und historischen Unterrichts zu umreißen, unversehens zu der Einsicht geführt, dass gerade bei Anerkennung der Eigenständigkeit des historischen Bildungsinteresses - neben den direkten Zusammenhängen beider Fächer, also dem Schnittmengenbereich - ein mittelbarer, indirekter Einfluss historischer auf politische Bildung sich ergibt - und zwar gerade dadurch, dass man die eine nicht von der anderen ableitet und beide in konzentrischen Kreisen integriert. Das lässt sich in Umkehrung der Betrachtung auch auf die indirekte Bedeutung eines seine eigenen Ziele entwickelnden politischen Unterrichts für die historische Bildung zeigen. Zur Erklärung und zum Verständnis historischer Zustände, Prozesse, Verhaltensweisen sind die Instrumente der politischen Wissenschaft und der Sozialwissenschaft für den Historiker unerlässlich und anwendbar auch auf vergangene gesellschaftliche, politische und kulturelle Formationen geworden. Der Beitrag der Sozialwissenschaften für die Geschichte als Wissenschaft, aber auch für die Geschichte als Unterricht braucht heute nicht mehr dargetan zu werden; dies ist eine unmittelbare Ergänzung und Hilfestellung, die der politische Unterricht dem Geschichtsunterricht geben kann und sollte. Indem er aber die Gegenwart selbst für Erkenntnis und Verhalten zum Bezugspunkt seiner Ziele macht, stellt er die der Geschichtsbetrachtung immer innewohnende Perspektive der Gegenwartserklärung und der Gegenwartsbezogenheit auch unmittelbar unter einen reflektierten Erkenntniszwang angesichts der nicht mehr unverstanden hingenommenen Gegenwart. Den einer bloß historisch ansetzenden Erklärung der Gegenwart innewohnenden Gefahren der vorschnellen Identifikation und Traditionsbildung, sei es konservativer, sei es progressiver Art, setzt der politische Unterricht durch Erhellung der Komplexität der Gegenwart ein kritisches Fragezeichen an die Seite, indem er seinen eigenen Lernzielen folgt. Wird also der Geschichtsunterricht z.B. jener Legitimierung der Gegenwart aus einem zu pauschalen Begriff der "Demokratie", wie ich ihn eben zitierte, mittels der historischen Erfahrung von der Widersprüchlichkeit dieser Erscheinung dem politischen Urteil Distanz und Besonnenheit geben, so wird der Politikunterricht durch Vergegenwärtigung der komplexen Strukturen unseres demokratischen Systems einer vorschnellen Traditionsbildung und damit falschen Identitätsstiftung, welche etwa von der athenischen Demokratie über die Kommunen des Mittelalters, die ständischen Freiheiten der Magna Charta bis zur Oligarchie des englischen Parlamentarismus im 19. Jahrhundert eine scheinbar historisch schlüssige teleologische Linie zu ziehen geneigt ist, widersprechen müssen und die Eigenart der Gegenwart gegenüber einem falsch verstandenen historischen Traditionsanspruch zu behaupten haben (9).

Ich belasse es bei diesen Andeutungen. Es genügt, wenn daraus die Notwendigkeit hervorgeht, dieses Modell der sich überschneidenden Kreise genauer und am konkreten Fall zu durchdenken und für die Unterrichtsplanung in Richtlinien und Materialien fruchtbar zu machen. Dass dies nur in Zusammenarbeit von Vertretern beider Fächer geschehen kann, liegt auf der Hand.

 

5.

Ich will zum Schluss mit einigen Hinweisen auf den Beginn zurückkommen: Ist von den Bemühungen der 70erJahre gar nichts geblieben? Haben sich beide Fächer in ihren Stellungen verschanzt? Sind getrennte Lehrplangleise gezogen, die es nicht zulassen, dass die Zusammenarbeit zwischen Geschichtsunterricht und Politikunterricht nicht nur didaktisch und theoretisch begründet, sondern auch im Unterricht praktiziert werden kann?

Folgendes ist geblieben:

  1. Eine gründliche Diskussion von den verschiedensten Positionen her liegt bereit, ein Material, auf das man zurückgreifen muss, wenn man Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht plant. Ich sehe dabei als wichtigste, bisher noch nirgends klar herausgearbeitete Erkenntnis, dass nicht "der" Politikunterricht und nicht "der" Geschichtsunterricht, sondern dass in beiden Fächern die unterschiedlichsten Konzeptionen das gegenseitige Verhältnis bestimmen. Ich habe indirekt durch die Illustration mit Hilfe der Kreise gesagt, welche Konzeptionen von Politik- und Geschichtsunterricht ich für untauglich halte für eine Zusammenarbeit, nämlich die isolationistischen einerseits und die holistischen andererseits. Immer wieder verweise ich in diesem Zusammenhang auf den Aufsatz von Dahrendorf (1964) "Ungewissheit, Wissenschaft und Demokratie", in dem politische Institutionen, wissenschaftliche Erkenntnisweisen und damit auch intentionale, öffentliche Lehre mit Wissen um die Begrenztheit und legitime Widersprüchlichkeit menschlicher Erkenntnis in ein Verhältnis gesetzt werden, das der wechselseitigen Begrenzung und Infragestellung bedarf, um der Dogmatisierung des Irrtums vorzubeugen.
  2. Neben diesem in den 70er und den frühen 80er Jahren produzierten Reflexionspotential bleiben uns auch eine Reihe praktischer und verwendbarer Materialien, auf die zurückgegriffen werden kann, die aber auch weiterzuentwickeln sind und im Alltag des Unterrichts brauchbar bleiben. Ich verweise auf die Vielzahl von Unterrichtseinheiten zum politischen und zum historischen Unterricht, die ein breites &Uml;berschneidungsspektrum aufweisen, auf die selbst in die Richtlinien eingegangenen nützlichen Hinweise zu Gemeinsamkeiten der Lernziele. Freilich bedarf es einiger Anstrengung des Lehrers, sich dieses Material zu eigen zu machen und es im Unterricht einzusetzen.
  3. Am wenigsten zufriedenstellend fällt die Erbschaft der 70er und 80er Jahre im Hinblick auf die Richtlinien aus. Nachdem für die Sekundarstufe I und die Sekundarstufe II der gleichsam imperialistische Zugriff der Gesellschaftslehre auf den Geschichtsunterricht scheiterte, entstand im breiten Feld bundesrepublikanischer Lehrpläne als Hauptlinie eben nicht eine durchdachte, in den Richtlinien vorgezeichnete Zusammenarbeit, sondern eine jeweils besondere Lehrplanspur der Fächer. Ich schwanke in meinem Urteil, ob dies eher schädlich oder eher nützlich ist. Nützlich insofern, als es problematisch ist, eine Zusammenarbeit in Amtsblättern mit Rechtskraft festzuschreiben, die didaktisch und methodisch nicht fundiert ist; schädlich insofern, als es von jeder Zusammenarbeit überhaupt abzusehen erlaubt.

Ich möchte zum Schluss eine Empfehlung geben, von der ich allerdings weiß, dass sie dem administrativen Perfektionsdrang ebenso wie dem curricularen Systemzwang widerspricht, der sich in der Erarbeitung der jetzt geltenden Richtlinien in so starker Weise niedergeschlagen hat und in den Neubearbeitungen, soweit ich sehe, sich wiederum zeigt - vielleicht haben die neuen Bundesländer in ihrer plastischen Situation die Chance, nicht nur die neueren Industrieanlagen, sondern auch besser koordinierte Richtlinien zu entwickeln. Richtlinien oder ministerielle Anweisungen sollten die Geschichtslehrer und die Lehrer des politischen Unterrichts an den Schulen auffordern, in Zusammenarbeit nach dem Prinzip der Anstaltslehrpläne für jede Klassenstufe Sequenzen zu entwickeln, die Geschichtsunterricht und politischen Unterricht an bestimmten Gegenständen und mit ausgewiesenen Lernzielen zusammenführen. Sie sollten Freiraum für solche Versuche lassen - und zwar in echter Form (10). Die Ministerien sollten Gelegenheit geben, wie es früher bei der Einführung neuer Lehrpläne üblich war, auf Fachtagungen den Austausch von Erfahrungen und Vorschlägen zwischen den verschiedenen Schulen zu ermöglichen. Die Aufsicht der Schulbehörde könnte sich auf die Kenntnisnahme und Approbation, gegebenenfalls Diskussion solcher Unterrichtssequenzen durchaus beschränken, zugleich aber fordern, dass sie umgesetzt und in Erfahrungsberichten zur Diskussion gestellt werden. Dies wäre ein Weg, die Zusammenarbeit von Politik- und Geschichtsunterricht, da sie sich didaktisch und administrativ mit Aussicht auf ihr Gelingen nicht von oben verordnen lässt, von unten in Gang zu setzen.

 

Anmerkungen

(1) Der Text lag einem Vortrag in Bad Harzburg am 30. November 1991 zugrunde. In den Anmerkungen gebe ich nur Nachweise oder Hinweise auf unmittelbar genannte oder berührte Literatur. Die wissenschaftstheoretische und didaktische Literatur zum Verhältnis von Geschichte und Politik in Wissenschaft und Unterricht ist kaum noch zu überblicken.

(2) Einen solchen Versuch hatte eine Herausgebergruppe gemacht. s. Behrmann, G. C. u.a. (1976) Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn. und dies. (Hrsg.) (1976ff.) Geschichte/Politik. Unterrichtseinheiten für ein Curriculum. Paderborn. Die einzelnen Unterrichtseinheiten fanden weithin Anklang; die Gesamtkonzeption eines kooperativen Curriculums konnte sich nicht durchsetzen.

(3) Siehe Weniger, Erich (1949) Neue Wege im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. dazu Quandt, Siegfried (Hrsg.) (1978): Deutsche Geschichtsdidaktiker des 19. und 20. Jahrhunderts. Wege, Konzeptionen, Wirkungen. Paderborn. darin ders.: Weniger, Erich (1894-1961), S. 327-364; Weniger, Erich (1989) Erziehung, Politik, Geschichte. Politik, Gesellschaft, Erziehung in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Ausg. und komm. von Gaßen, Helmut. Bd.4. Weinheim, Basel.

(4) Auf die ausgedehnte Diskussion zum Verhältnis von Theorie und Praxis, das aus der marxistischen Geschichtsteleologie folgt, kann hier nicht im einzelnen verwiesen werden. Zu ihrem methodischen Niederschlag auf den Geschichtsunterricht s. die jüngeren Titel der DDR-Literatur in knapper Auswahl bei Schmid, Hans Dieter (1979) Geschichtsunterricht in der DDR, Stuttgart. und Jeismann, Karl-Ernst; Kosthorst, Erich (1956) Deutschlandbild und Deutsche Frage in den geschichtlichen Unterrichtswerken der Deutschen Demokratischen Republik. In: Wolfgang Jacobmeyer (Hrsg.) (1956): Deutschlandbild und Deutsche Frage in den historischen, geographischen und sozialwissenschaftlichen Unterrichtswerken der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 bis in die 80cr Jahre. Braunschweig. (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 43); ferner Gies, Horst (1989) Geschichtsbewusstsein und Geschichtsunterricht in der Deutschen Demokratischen Republik. In: GWU 40 (1989), S. 618-625; die marxistische Position während der letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik bei Jung, Ernst (Hrsg.): Marxismus im historisch-politischen Unterricht. Stuttgart 1979 (Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung, 24).

(5) Siehe Schneider, Gerhard (1988): Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht am Ende des Kaiserreichs (vorwiegend in Preußen). In: Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen. Stuttgart, 54-67. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht Tendenzen, Urteile und Wertungen in der Geschichte übergeschichtlich - aber säkular - zu fundieren. Am bekanntesten die Schlusswendung Friedrich Meineckes(1948) in "Die deutsche Katastrophe", S. 168; s. auch Wilmanns, Ernst (1950) Geschichtsunterricht, Weltanschauung und Christentum. In: GWU 1, 1989, S. 65-80; und ders.: Geschichtsunterricht. Grundlegung seiner Methodik. Stuttgart 1949. Ein &Uml;berblick über diese Problematik bei Jeismann, Karl-Ernst (1989) Der Geschichtslehrer im Spannungsfeld von Politik, Erziehung und Wissenschaft. In: GWU 40 (1989), S. 515-533.

(6) Die immer wieder zu lesende Beschwörung eines "demokratischen Geschichtsunterrichts" ist bestenfalls eine Verkürzung dessen, was legitimerweise allein gemeint ist: Geschichtsunterricht in einem demokratischen, und zwar parlamentarisch-liberal verfassten demokratischen Rechts- und Sozialstaat. Sonst wäre "demokratischer" Geschichtsunterricht nichts anderes als dynastische (hohenzollernsche oder wittelsbach'sche), nationale ("deutsche"), nationalsozialistische, sozialistische usw. Indoktrinierung mit historischem Anschauungs- und Argumentationsmaterial. "Demokratisch" kann in diesem Zusammenhang nicht den Inhalt und die Urteile meinen, sondern allein das Verfahren der Urteilsbildung und Wertung, das sich auf Nachweis, Argument und Diskussion stützen und dogmatische, Herrschaft beanspruchende Auslegung nicht gelten lässt. Zum Begriff "Demokratie" und seinen Objektivationen in der Geschichte s. Meier, Christian; Reimann, Hans Leo; Maier, Hans; Koselleck, Reinhart; Conze, Werner (1972) Demokratie. In: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Hrsg.) (1972) Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart, 821-899. Zur aktuellen Problematik s. die differenzierte Diskussion in der Historischen Kommission der SPD bei Miller, Susanne (Hrsg.) (1985) Geschichte in der demokratischen Gesellschaft. Düsseldorf.

(7) Er ist in der didaktischen Grundliteratur zur politischen Bildung ebenso umschrieben wie in einer Vielzahl von Unterrichtsmodellen konkretisiert und braucht hier nicht näher bezeichnet zu werden. Schon 1971 zählte eine Bibliographie (Politische Bildung. Eine Bücherkunde. Hrsg. v.d. Landeszentrale für politische Bildung. Nordrhein-Westfalen, 4. Aufl. Bonn - Bad Godesberg 1971) 177 einschlägige Titel auf. Ich verweise nur auf einige grundlegende und die Formierungsphase des Politikunterrichts prägende Werke: Giesecke, Hermann (1972 ) Didaktik der politischen Bildung. Neue Ausgabe. München; Sutor, Bernhard (1971) Didaktik des politischen Unterrichts. Eine Theorie der politischen Bildung. 2. Aufl. Paderborn; Hilligen, Wolfgang (1985) Zur Didaktik des politischen Unterrichts. 4. Aufl. Opladen; Behrmann, Günther C.(1972) Soziales System und politische Sozialisation. Eine Kritik der politischen Pädagogik. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz; Schörken, Rolf (Hrsg.) (1974) Curriculum "Politik". Von der Curriculumtheorie zur Unterrichtspraxis. Opladen.

(8) Siehe dazu die Beiträge in Schneider, Gerhard u.a. (Hrsg.) (1988) Geschichte und Geschichtsbewusstsein. Jahrbuch der Geschichtsdidaktik 1. Pfaffenweiler. Die grundlegenderen neueren geschichtsdidaktischen Veröffentlichungen erschienen als Antworten auf die Herausforderungen durch die neuen Ansätze im politischen Unterricht (s. Anm. 7); Süssmuth, Hans (Hrsg.) (1972) Geschichtsunterricht ohne Zukunft- 2 Bde., Stuttgart. eröffnete, noch deutlich in älteren Diskussionen z. B. um das exemplarische Lernen befangen, die neue Periode der didaktischen Fundierung des Geschichtsunterrichts. Zum Fortgang der Diskussion s. die Hinweise in der umfangreichen Bibliographie bei Rohlfes, Joachim (1986) Geschichte und ihre Didaktik. Göttingen, 389 f.

(9) Das gilt selbst für die Rückbeziehung auf die deutsche nationaldemokratische Bewegung des Vormärz und der Revolution von 1848 in politisch-pädagogischer Absicht, wie sie der Bundespräsident Gustav Heinemann einem demokratisch-patriotischen Geschichtsunterricht zur historischen Identitätsstiftung empfahl (s. Susanne Miller S. 12 f.). So wichtig es ist, diese &Uml;berlieferung deutlicher in Forschung und Lehre zu kennzeichnen, als es in der Tradition des nationalstaatlichen, bildungsbürgerlichen Geschichtsunterrichts geschah, so wenig handelt es sich um eine einfache Ableitung unserer Gesellschaftsordnung aus unproblematischen historischen Beständen. Die sozial-psychisch verständliche Suche nach "founding fathers" bedarf der historischen Kritik, soll sie nicht zu erstarrten, schließlich falsch orientierenden Monumentalbildern führen, die, wie in den USA, nur mit großer Mühe und gesellschaftlichen Schmerzen auf das richtige Maß reduziert und in erkenntnisfördernde Beleuchtung gerückt werden können. Der Gefahr, aus "politisch-pädagogischem Wirkungswillen" in direkter Aktion geschichtliche Bildung in "Schwarz-weiß"-Bilder zu sortieren, ist auch Helga Grebing trotz aller vorweggeschickten Einschränkungen nicht entgangen: s. Grebing, Helga (1988) Bismarck und Bebel - zweierlei Kontinuität- Die schwarze und die weiße Linie in der deutschen Geschichte. In: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (1988) Streitfall Deutsche Geschichte. Geschichts- und Gegenwartsbewusstsein in den 80er Jahren. Essen, 71-86.

(10) Nicht einlösbar wegen der Zahl verbindlicher Themen ist z. B. der in den Lehrplänen mehrerer Länder dem Lehrer eingeräumte Stundenfreiraum für eigene Schwerpunktsetzung - so z. B. in den Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe in NRW von 1982; s. dazu Jeismann, Karl-Ernst; Schönemann, Bernd (1989) Geschichte amtlich. Lehrpläne und Richtlinien der Bundesländer. Analyse, Vergleich, Kritik. Frankfurt, S. 79 ff., 151.

 

Literatur

Behrmann, Günter C. u.a. (1976): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn: Schöningh.

Behrmann, Günter C. u.a. (Hg.) (1976): Geschichte/Politik. Unterrichtseinheiten für ein Curriculum. Paderborn: Schöningh.

Blankertz, Herwig (1974): Theorien und Modelle der Didaktik. 8. Aufl. München: Juventa.

Dahrendorf, Ralf (1964): Ungewissheit, Wissenschaft und Demokratie. In: Delius Harald; Patzig Günther (Hg.): Festschrift für Josef König. Göttingen.

Dahrendorf, Ralf (1972): Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft. München: Piper.

Giesecke, Hermann (1978): Skizzen zu einer politisch begründeten historischen Didaktik. In: Neue Sammlung. Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft. Jg. 18. 1978. (1), Seite 55-73.

Gies, Horst (1989): Geschichtsbewußtsein und Geschichtsunterricht in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Jg. 40, Seite 618-625.

Jeismann, Karl-Ernst; Kosthorst, Erich (1956): Deutschlandbild und Deutsche Frage in den geschichtlichen Unterrichtswerken der Deutschen Demokratischen Republik. In: Jacobmeyer, Wolfgang (Hg.): Deutschlandbild und Deutsche Frage in den historischen, geographischen und sozialwissenschaftlichen Unterrichtswerken der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 bis in die 80er Jahre. Braunschweig: Georg-Eckert-Inst. für Internat. Schulbuchforschung (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 43).

Jeismann, Karl-Ernst (1989): Der Geschichtslehrer im Spannungsfeld von Politik, Erziehung und Wissenschaft. In: GWU. Jg. 40, Seite 515-533.

Jung, Ernst (Hg.) (1979): Marxismus im historisch-politischen Unterricht. Stuttgart: Klett. (Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung, 24).

Kant, Immanuel (1968): Werke in 10 Bänden. Weischedel, Wilhelm (Hg.) Bd. 9. Darmstadt: Wiss. Buchges.

Kuhn, Annette (1974): Einführung in die Didaktik der Geschichte. München: Kösel.

Meinecke, Friedrich (1948): Die deutsche Katastrophe. Wiesbaden: Brockhaus.

Quandt, Siegfried (Hg.) (1978): Deutsche Geschichtsdidaktiker des 19. und 20. Jahrhunderts. Wege, Konzeptionen, Wirkungen. Paderborn: Schöningh.

Schmid, Hans Dieter (1979): Geschichtsunterricht in der DDR. Stuttgart: Klett.

Schneider, Gerhard (1988): Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht am Ende des Kaiserreichs (vorwiegend in Preußen). In: Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen. Stuttgart: Klett, Seite 54-67.

Schörken, Rolf (1978): Zur Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht. Stuttgart: Klett.

Weniger, Erich (1949): Neue Wege im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M: Schulte-Bulmke.

Weniger, Erich (1989): Erziehung, Politik, Geschichte. Politik, Gesellschaft, Erziehung in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Ausg. und komm. von Gaßen, Helmut. Bd.4. Weinheim, Basel.

Weymar, Ernst (1961): Das Selbstverständnis der Deutschen. Ein Bericht über den Geist des Geschichtsunterricht der höheren Schulen im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Klett.

Wilmanns, Ernst (1949): Geschichtsunterricht. Grundlegung seiner Methodik. Stuttgart: Klett.

Wilmanns, Ernst (1950): Geschichtsunterricht, Weltanschauung und Christentum. In: GWU. Jg. 40 (1), Seite 65-80.

 

Körber, Andreas (2004): Der Abgrund im Bindestrich? Überlegungen zum Verhältnis von historischem und politischem Lernen

 

1. Einleitung

JÖRN RÜSEN hat einmal sehr nebenbei bemerkt, dass im Bindestrich der Formulierung "historisch- politische Bildung" oder "historisch-politisches Lernen" ein "Abgrund ungeklärter Fragen" stecke (1). Das Problem der Abgrenzung und/oder des Zusammenhanges mag als ungeklärt gelten, keineswegs aber ist es neu. Es zieht sich durch die Fachdidaktik in der deutschen Nachkriegsgeschichte hindurch, ist aber auch schon in den Ansätzen zur Entwicklung einer politischen Bildung als Prinzip für alle Unterrichtsfächer während der Weimarer Republik spürbar. Andererseits: Es ist kein ausgetretenes Thema, kein Scheinproblem, bei dem sich die Diskussion mit immer wiederkehrenden, gleichen Argumenten im Kreise drehen würde. Vielmehr sind deutliche Veränderungen in den Konzeptionen festzustellen, von denen ich einige im Folgenden aufzeigen möchte (2), bevor ich meine eigene Konzeption im partiellen Anschluss an eine aktuelle Position skizziere. Ich werde mich dabei an eine aktuelle Differenzierung von Kooperationsmodellen anlehnen, die DIRK LANGE kürzlich in seiner Dissertation vorgelegt hat (3). Er unterscheidet (Tab 1):

  • integrative Modelle historischer und politischer Provenienz
  • Kooperationsmodelle
  • korrelative Modelle, denen er auch sein eigenes Konzept zuordnet.

Indem ich diese Unterscheidung aufgreife, möchte ich zeigen, wie sich die ihnen jeweils zu Grunde liegenden theoretischen Vorstellungen von Definition und Aufgabe der Fächer verändert haben, welche Möglichkeiten in dem Neuansatz stecken und wo ich noch Klärungsbedarf bzw. die Notwendigkeit weiteren Nachdenkens sehe.

 

Tab.1: Modelltypen der Koordination historischen und politischen Lernens nach LANGE 2002/2004.

Integrationsmodelle (50er, 60er Jahre)

  • Historisches Integrationsmodell
    1. Geschichte als einziges und hinreichendes Feld für politisches Lernen;
  • Politisches Integrationsmodell
    1. Behandlung der Analyse aktueller politischer Probleme reiche als historische Bildung hin;

Kooperationsmodelle (1970er, 1980er)

  1. Eigenständigkeit der fachspezifischen Erkenntnisinteressen und Arbeitsweisen
  2. thematischer Verbindung über generalisierte Oberthemen
  3. Beibehaltung der jeweils fachspezifischen Zugriffe und Themenformulierungen

Korrelative Modelle (Entwicklung sei 1989)

  • Unterscheidung von "Fächern" nicht über vorgegebene Gegenstände, sondern spezifische Denk- und Erkenntnisweisen
  • Konzentration auf Lehre der Denkweisen und Methoden
  • Fachspezifik der Denk- und Arbeitsweisen sei daher beizubehalten
  • Gegenstände und Anwendung der Methoden überlappten sich
 

2. Zur Begriffskombination "historisch-politisch"

Die Zusammenstellung der Adjektive "historisch" und "politisch" ist älter als die didaktische Diskussion um das Verhältnis der jeweils mit ihnen bezeichneten Disziplinen. Im 18. Jahrhundert findet sie sich in Johann Friedrich Camerers "Vermischte[n] historisch-politische[n] Nachrichten" aus Schleswig-Holstein (4),seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhundert im Titel Leopold von Rankes "Historisch-politische[r] Zeitschrift" (5), sowie in den "Historisch-politische[n] Blättern für das katholische Deutschland" (6). Dies nur als einige beliebig heraus gegriffene Beispiele. Eine ausgearbeitete Vorstellung des Verhältnisses von "Historischem" und "Politischem" findet sich dort - etwa in den programmatischen Eröffnungsartikeln - allerdings nicht.

In der didaktischen und methodischen Literatur wird die Begriffsdoppelung seit vielen Jahren in vielfältigen Publikationen verwendet (z.B. auch im Untertitel meiner eigenen Dissertation) (7) - aber auch hier, ohne dass ein einheitliches, geklärtes Verhältnis der Beziehungen festzustellen wäre.

Andererseits gibt es durchaus eine Tradition grundsätzlicher Überlegungen zum hier in Frage stehenden Problem, in die fachdidaktischen Diskussion haben sie vor allem seit der Einführung der "Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre", Eingang gefunden, die selbst ein Ausdruck einer bestimmten Zuordnung der beiden Bereiche waren. Auf einige der Stationen und Positionen dieser Diskussion werde ich noch zurückkommen. Angemerkt sei hier zunächst lediglich noch, dass in der Handbuchliteratur das Thema keineswegs mehr den grundsätzlichen Stellenwert einnimmt, den die Formulierung Rüsens suggeriert. Im Handbuch für Geschichtsdidaktik zum Beispiel findet sich ein zentraler Aufsatz von Hans-Jürgen Pandel , der bereits in neuere Entwicklung zu den korrelativen Modellen hineingehört, ansonsten jedoch auch nur ein einziger Artikel mit der Begriffskombination im Titel - dieser ist jedoch wieder bezeichnenderweise ein Beitrag, der das Verhältnis gerade nicht systematisch untersucht, sondern einen Lernort (Bundeswehr) und seine Besonderheiten beschreibt (8). Allenfalls ist in diesem Band vom Titel her allenfalls noch der Aufsatz "Geschichte und politische Praxis" von Katherina Oehler einschlägig (9). Schon eher wird das Thema in den Handbüchern zum politischen Lernen thematisiert, sei es in Mickels Handbuch zur politischen Bildung und in Sanders Handbuch politische Bildung (10).

 

3. Von den integrativen zu den kooperativen Modellen

Das erste Modell, das integrative, prägte die didaktische Diskussion vor allem in den 50er und 60er Jahren. Es ging in seiner historischen Variante aus von der Vorstellung, dass ein eigenständiges politisches Lernfeld für junge Menschen nicht gegeben sei. Die Geschichte sei das Gebiet, welches die Themen, die Probleme und Konflikte bereitstelle, an denen allein politisch gelernt werden könne. Durch das Aufkommen der Politikwissenschaft als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin und der politischen Bildung, die nun gegenwartsbezogene politische Themen didaktisch bearbeitete, wurde die andere Variante in die Diskussion gebracht: Da Lernende zum Handeln in der heutigen Gesellschaft befähigt werden müssten, müsse sich das Lernen auf die Gegenwart konzentrieren. Geschichte sei nur noch insofern von Bedeutung, als die historischen Aspekte der gegenwärtigen politischen Problemlagen zu klären seien.

Die erste systematische Diskussion entspann sich daher an der Herausforderung des traditionellen Geschichtsunterrichts und seines Selbstverständnisses durch diese neueren Konzepte einer gegenwartsorientierten politischen Bildung bzw. durch die sozialwissenschaftliche Gesellschaftslehre in den 1960er Jahren. Die Diskussion darum war nicht zuletzt von geschichtsdidaktischer Seite auch ein Versuch, die in Frage gestellte Eigenständigkeit neu zu begründen. Diese frühe Diskussion war bei allen Versuchen, eine Kooperation zu etablieren, stark von einem Verständnis traditioneller Fachinhalte, vorgegebenen Unterrichtsgegenstände geprägt. Es ging nicht zuletzt auch darum, diese für das jeweils eigene Fach zu reklamieren (11). Dahinter stand eine Auffassung, welche die einzelnen Fächer durch von außen vorgegebene Gegenstände und ihnen angemessene Methoden definierte (12). Auf dieser Basis ergaben sich Konzepte punktueller Kooperation, wie z.B. zum einen dasjenige, jedem historischen Thema einen politischen Anhang beizugeben und umgekehrt, das schon früh von Rolf Schörken und nun neuerdings noch einmal von Hans-Jürgen Pandel (13) abgelehnt wurde, zum anderen die Konzeption, ausgewählte, aber voneinander getrennte historische und politikwissenschaftliche Themen ergäben nebeneinander stehend von selbst ein Gesamtbild ("Zahnrad"- oder "Puzzle"-Theorie) oder schließlich zum dritten die Vorstellung, jedes Fach solle am gleichen Gegenstand die ihm gemäßen Aspekte behandeln, ohne dass diese jedoch systematisch aufeinander bezogen werden ("Sehschlitz"-Methode bzw. "Prisma"-Theorie) (14). Erarbeitet wurden in dieser Phase der Diskussion Kooperationsmodelle, welche hauptsächlich darin bestanden, klassische Themen der beiden Fächer unter allgemeineren Oberbegriffen bzw. Problemen nebeneinander zu stellen. Ein Beispiel hierfür sind z.B. die Vorschläge von Karl-Ernst Jeismann von 1978 (15) Jedes Fach behält demnach "seine" Themen, trägt aber ideell zu einem gemeinsamen Lernen bei. Worin die Zuordnungen bestehen, welcher Logik sie folgen, blieb jedoch weitgehend ausgespart.

 

4. Modelle politischer Geschichtsdidaktik

Von diesen rein gegenstandsorientierten Konzepten ist eine andere (bei Lange nicht verhandelte) Gruppe zu unterscheiden, die nicht eigentlich in diesen Diskussionsstrang gehört, sondern aus einer anderen Tradition stammen. Es geht um didaktische Konzeptionen, bei denen bewusste oder unbewusste Grundentscheidungen im Feld des jeweils anderen Faches die Themenwahl, Zielsetzungen, Methoden bei der didaktischen Strukturierung des eigenen Faches präfigurieren, diese Vorentscheidungen selbst aber nicht zum Gegenstand gemacht werden. Derart "politische Geschichtsdidaktik" ist kein Phänomen dieser Zeit, weil sie aber eine bestimmte Form der Verbindung der beiden Disziplinen bedeuten, sollen sie wenigstens kurz erwähnt werden. Hierzu gehört z.B. ein Geschichtsunterricht, der durch eine politische Option zu Gunsten von "Gleichheit" vor "Freiheit" strukturiert ist, auch z.B. die emanzipatorische Geschichtsdidaktik, wohl auch die Geschichtsdidaktik von Horst-Wilhelm Jung und Gerda von Staehr (16). Auf der anderen Seite gehören dazu politikdidaktiktische Konzepte, denen ein nicht eigens reflektierter Sinnbildungstyp zu Grunde liegt, wie etwa eine fundamentale Fortschrittsorientierung.

 

4.1. Die Entwicklung des korrelativen Modells: Ansätze bei Karl-Ernst Jeismann

Gegenüber den älteren integrativen und den koordinativen Konzepten begann 1978 Karl-Ernst Jeismann mit Überlegungen, die Eigenständigkeit und damit auch die Koordinierbarkeit der Fächer auf einer anderen Ebene auszumachen: nicht mehr Unterschiede im "Stoff" (17) oder den als Verfahren begriffenen "Methoden" begründen die Trennung der beiden Wissenschaften und Fächer, sondern unterschiedliche Erkenntnisinteressen (Jeismann spricht von Erkenntnisrichtungen) (18).

Während die Sozialwissenschaften und auch der Politische Unterricht sich durch ihren Gegenwartsbezug konstituierten, und somit ihr Interesse an vergangenen Zuständen immer diesem Gegenwartsinteresse gegenüber funktional, instrumentell bleibe, sei für die Geschichtswissenschaft das Interesse an "der Vergangenheit" konstitutiv. Wir haben hier also inmitten der älteren Debatte bereits einen Ansatz für die neuere Reflexionsebene, die dann Rüsen und zuletzt Pandel sowie Lange fortgeführt haben. Das gilt umso mehr, als Jeismann vom Geschichtsunterricht fordert, die Geschichtsbewusstseinsformen von politischen Konzepten sowie politische Geschichtsverständnisse (durchaus auch die dem eigenen politischen Unterricht zu Grunde liegenden) zu erörtern, ebenso wie der Politikunterricht die politische Funktion vom Geschichtsunterricht zu thematisieren hätte (19).

 

Tab. 2: Themenzentrierte Verbindungslogiken für historischen und politischen Unterricht nach JEISMANN (1978): "Historischer und politischer Unterricht", S.46-56
  Thementyp für den GU Kombinationslogik Thementyp für den PU
  vom Geschichtsthema her:
1a genetisch vorgehende Erarbeitung eines breiten Prozesses, tendenziell alle Sektoren erfassend.Betrachtung unter rein historischen Gesichtspunkten Kombination über einzelne, vom historischen Thema vorgegebene und didaktisch akzentuierte Elemente, z.B. Einflüsse des historischen Sachverhalts auf die Gegenwart. eigenständige Unterrichtseinheiten,
1b Kombination durch Systematisierung und exemplarischen Vergleich systematisierende Betrachtung mehrerer historischer Beispiele (z.B. Revolutionen)
2 thematischer Längsschnitt Ergänzung um Gegenwartsperspektive systematische, unter politikdidaktischen Gesichtspunkten erfolgende Betrachtung eines gegenwärtigen Themas aus dem im Längsschnitt behandelten Bereich
3 Epochenrepräsentation, Epochenquerschnitt Analogie moderne Beispiele
4 Betrachtung der Genese des historischen Problems historische Regression gegenwärtiges politisches Problem
  vom Politikthema her:
5 historische Verhaltensforschung für Unterricht (skeptisch beurteilt!) Skepsis bezüglich der Historisierbarkeit Themen zur individuellen Verhaltenskonditionierung
6 Behandlung historischer Beispiele von politischen Deutungsstrukturen (z.B. Erbfeindthesen etc.) Exemplarik Feindbilder, Stereotype
7 historische Fallanalyse   Fallanalyse

 

Dennoch bleibt Jeismanns Argumentation sowohl in der Theorie als auch und besonders in den Beispielen für die Koordination letztlich in herkömmlicher Weise der Gegenstandsorientierung verhaftet. Zwar ignoriert er nicht den konstitutiven Gegenwartsbezug, den Ausgangspunkt des Historischen aus gegenwärtigen Interessen - thematisiert aber werde dabei immer die Vergangenheit als solche (20), die "als sie selbst erfahren" werden solle (21).

Dies ist vor allem an den beiden von ihm behandelten Beispielen gut zu erkennen: Barrington Moores Untersuchungen früherer Sozialstrukturen im Interesse einer Aufklärung der Entstehung nationalistischer und nationalsozialistischer Charakteristika in Deutschland charakterisiert er als spezifisch sozialwissenschaftlich, nicht aber historisch, gerade weil das Erkenntnisinteresse letztlich auf die Gegenwart gerichtet sei. Ebenso zeigt seine Auseinandersetzung mit einem Konzept demokratiegeschichtlichen Unterrichts bei Hilligen, dass es ihm stärker noch um "realgeschichtliche" Prüfungen von Geschichtsvorstellungen geht, denen politische Optionen zu Grunde liegen: Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht haben hier nicht die Funktion, die Logik des dem politischen Unterrichts zu Grunde liegenden historischen Denkens (nämlich die Fortschrittskategorie) aufzuzeigen, sondern hauptsächlich die empirische Triftigkeit des so konstruierten Geschichtsbildes zu prüfen bzw. zu kritisieren. "Die Geschichte" dient als Korrektiv politischer Vorstellungen. Auf der Basis der neueren Historik (auf die ich noch zu sprechen komme) ist der zitierten Charakterisierung des Vorgehens von Barrington Moores als eines Beispiels sozialwissenschaftlichen, nicht aber historischen Denkens durch Jeismann zu widersprechen denn ihr zufolge dient der historische Blick in die Vergangenheit konstitutiv und somit immer der Orientierung der Gegenwart. Sie hat inzwischen verschiedene Sinnbildungstypen herausgearbeitet, und kann so den Blick Moores auf die Sozialstruktur vergangener Zeiten in seinem Interesse, die Gegenwart aufzuklären, als eine bestimmte Ausprägung historischen Denkens beschreiben, das von gegenwärtigen Orientierungsbedürfnissen ausgeht, die sozialwissenschaftlich formuliert sind, sich aber eben historischer Denkweise bedient (in diesem Fall handelt es sich um eine Mischung aus exemplarischem und genetischem historischen Denken) (22).

 

4.2. Weiterführungen

Den so von Jeismann begonnenen, nicht aber konsequent weitergeführten Ansatz hat Jörn Rüsen 1989 (also sieben Jahre vor dem eingangs zitierten Diktum vom Abgrund) aufgegriffen. Bereits auf der Basis seiner grundlegenden Arbeiten zum historischen Denken begriff er Geschichte nicht mehr als ein auf eine vergangene Wirklichkeit bezogenes Denken, sondern erkannte es als ebenso fundamental in der Gegenwart wurzelnd und auf ein gegenwärtiges Interesse gerichtet an, wie das politische.

Für ihn bestand der Unterschied zwischen dem historischen und politischem Bewusstsein zwar auch in unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und -richtungen, die jedoch nicht in einem äußeren Gegenstandsbereich vorgegeben waren. Vielmehr unterschied er zwischen zwei unterschiedlichen Aufgaben des historischen und des politischen Denkens als zweier Instrumente zur Bewältigung der Gegenwart: Während politisches Denken dazu diene, dass Menschen mit dem Phänomen der Macht bzw. der Herrschaft umgehen können, diene historisches Denken der Verarbeitung von Kontingenz (23). Beide koinzidierten "dort, wo politisches Handeln auf eine Orientierung angewiesen ist, die seine zeitliche Perspektive, die zeitliche Richtung politischer Absichten und den Zeitverlauf politischer Vorgänge" betreffe. Ein Geschichtsbewusstsein sei dann "historisch-politisch", wenn es "auf politisches Handeln als dessen Orientierung bezogen" sei (24).

Die praktische Umsetzung allerdings, wie Rüsen sie 1989 skizziert, erscheint demgegenüber wiederum eher klassisch: Er sieht zwei Möglichkeiten der "Koinzidenz" historischen und politischen Bewusstseins:

  1. Politisches Handeln selbst wird historisch thematisiert (übliche Variante) (25)
  2. Thematisierung anderer als politischer Inhalte im Geschichtsbewusstsein mit Verdeutlichung ihrer Bedeutung für Politik (26).

Wenn man die moderne, narrativistische Historik Rüsens ernst nimmt, hat sie jedoch noch weiter reichende Konsequenzen für das Verständnis von historischem Denken und Lernen. Das Problem des Zusammenhangs von historischem und politischem Denken und Lernen muss gerade wegen der Herausarbeitung und Betonung eines konstitutiven Gegenwartsbezugs des historischen Denkens neu gestellt werden. So kann historisches Denken und Lernen nicht mehr als ein Denken und Lernen über historische Gegenstände aufgefasst werden, über gewissermaßen als abgeschlossen geltende, in der Vergangenheit liegende Wissensbereiche, sondern muss als ein Denken und Lernen über den eigenen Bezug zu solchen zeitlich entfernten Gegebenheiten angesehen werden - kein Denken "in" Geschichte mehr, sondern ein Denken über Zeit. Geschichtswissenschaft hat es eben nicht mit der Vergangenheit zu tun, was sie von der Politikwissenschaft unterscheide, sondern ebenso mit Gegenwart und Zukunft (27).

Die letzte konzeptionelle Wendung dieser Historik, ihre kulturwissenschaftliche Orientierung, hat dann dieses historisches Denken als einen Bewusstseinsbereich eigener und spezifischer Logik herausgearbeitet, gleichzeitig aber betont, dass er in seiner Kontingenzbewältigungsfunktion - die Rüsen 1989 noch als das Spezifikum des Historischen definierte - nur eine von mehreren individuellen und kollektiven, bzw. kulturellen Formen von Kontingenzverarbeitung ist: nämlich Verarbeitung derjenigen Kontingenz, die durch Zeit entsteht. So hat Friedrich Jaeger auf dem Historikertag 2000 in Aachen herausgearbeitet, dass auch politisches Denken und politisches Bewusstsein eine Form von Kontingenzverarbeitung ist, nämlich der kontingenten Verteilung von Macht und Herrschaft bzw. von Institutionen und Verfahren der Willensbildung - denn das alles, insbesondere auch Machtverhältnisse, könnte anders sein, als es vorgefunden wird. Historisches und politisches Denken und Bewusstsein sind demnach zwei unterschiedliche Ausprägungen einer gemeinsamen mentalen Orientierungsfunktion (28). So formuliert schließlich auch Lange: "Historisch-politisches Lernen nimmt seinen Ausgang in politischen Deprivations- und zeitlichen Kontingenzerfahrungen der Gegenwart" (29).

"Politisch-historisch" wäre ein Denken und ein Bewusstsein demnach dann, wenn es zur Bewältigung aktueller politischer Kontingenz auch dessen zeitliche Veränderungskomponente mit bedenkt, also z.B. Entwicklungen und Veränderungen heranzieht, um Ungleichheiten, Machtverteilungen, Verfahren der Willensbildung und -beeinflussung etc. zu erklären und mit Sinn zu versehen, bzw. wenn historische Veränderungen jeweils auch mit Hilfe politischer Erklärungsmuster erklärt und auf ihre politische Bedeutung hin befragt werden.

Aber auch diese Definition ist nicht wirklich befriedigend. Letztlich bleibt das eine eher strukturzentrierte Definition eines politisch informierten historischen Denkens bzw. eines geschichtsbewussten politischen Denkens.

Ich schlage daher vor, sich auch im Hinblick auf historisch-politisches Lernen an eine neuere Wendung der Geschichtsdidaktik anzuschließen und noch stärker als bislang skizziert die jeweiligen Bewusstseinsformen in den Mittelpunkt zu rücken, indem als Kategorie und Ziel historischen und politischen Lernens jeweils die Reflexivität des eigenen denkenden Tuns gesetzt wird.

Bevor ich dies skizziere, muss ich mich aber noch mit zwei jüngeren Arbeiten zu diesem Thema auseinander setzen, nämlich mit dem bereits zitierten Aufsatz von Hans-Jürgen Pandel und der ebenfalls schon mehrfach angeführten Dissertation von Dirk Lange, denn beide haben die korrelative Form der Fächerverbindung weiter entwickelt.

 

4.3. Jüngere Arbeiten

Hans-Jürgen Pandel legt in seinem Aufsatz dar, dass Vorstellungen von fächerverbindendem Lernen nicht an den gegenwärtig existierenden Fächern ansetzen dürften. Das jeweilige Fächergefüge sei nämlich selbst Ergebnis kontingenter Kombinationen von Erkenntnisinteressen und Sachgebieten. Vielmehr müsse von einem überschaubaren Set von "hinter" den realen Disziplinen und Teildisziplinen liegenden Denk- und Erkenntnisformen ausgegangen werden, die den realen Fächern zumindest im sozial- und kulturwissenschaftlichen Bereich durchaus gemeinsam seien. Fächer überhaupt aufzulösen (30) sei kontraproduktiv, weil dadurch die je spezifischen Erkenntnisweisen der ideellen ‘Fächer’ (31) verwischt würden, wohl aber sei stärkere Gemeinsamkeit in Themen- wie in Methodenbezügen möglich. Hinzu kommt, dass Pandel nicht Ergebnisse der einzelnen Disziplinen als das zu Lehrende und zu Lernende ansieht, sondern die Methoden, die fachspezifischen Denkweisen selbst als die lernbaren Inhalte definiert. Mit diesen Überlegungen führt Pandel die Debatte ein gutes Stück weiter: Das Fachspezifische, das es zu bewahren, dann aber miteinander zu verschränken gelte, sind demnach die fachspezifischen Erkenntnisweisen, hier historisches und politisches Denken (32).

Nur kurz sei darauf hingewiesen, dass für Reinhold Hedtke eine Integration der Fächer in ihrer Eigenständigkeit gerade angesichts der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung nur über ein übergreifendes Konzept eines "gesellschaftlichen Bewusstseins" möglich ist, innerhalb dessen dann Spezialisierung und Ausdifferenzierung entlang unterschiedlicher Erkenntnisweisen möglich werde. Inwieweit dies mehr ist als eine Verlagerung des Problems auf eine andere Ebene, bleibt zu diskutieren (33). Wichtig ist, dass für Hedtke die Grundlage hierfür nicht mehr eine Ausrichtung an verschiedenen Fachwissenschaften und ihre verschiedenen Erkenntnisweisen sein könne, weil diese nicht wirklich trennscharf differenzieren. Voraussetzung für eine solche Zusammenfassung und Differenzierung ist vielmehr die gemeinsame Emanzipation der Fachdidaktiken von ihren Bezugswissenschaften im Sinne der Entwicklung eines eigenständigen Forschungsfeldes, nämlich der Erforschung und Reflexion auch der Bedeutung und Rolle der Fachwissenschaften in der Gesellschaft selbst (34). Dies entspricht im Übrigen weitgehend der Emanzipation, die Karl-Ernst Jeismann für die Entwicklung der Geschichtsdidaktik zur Wissenschaft vom Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft reklamiert hat (35).

Auch Dirk Lange begründet in seiner umfangreichen Dissertation ein korrelatives Modell des historisch-politischen Lernens. Er entwickelt dazu in einiger Breite aus aktuelleren fachwissenschaftlichen Tendenzen beider Fächer die Vorstellung einer "historisch-politischen Wissenschaft" als der einer "historisch-politischen Didaktik" zugehörigen Fachwissenschaft. Das gemeinsame Moment beider besteht ihm zufolge in einer elementaren und radikalen Subjekt- und Alltagsorientierung, d.h. in der Konzentration des forschenden Blicks der Fachwissenschaft(en) auf subjektive Erfahrungen, Verarbeitungsweisen und Handlungsweisen von einfachen Menschen, die nicht den herkömmlichen Vorstellungen von "großer" Geschichte bzw. "hoher" Politik zuzuordnen sind. Sowohl in der Alltagsgeschichte wie in der Politikwissenschaft arbeitet er Ansätze heraus, die die konstruktivistisch verstandene Konstitution von Wirklichkeit durch denkende und handelnde Menschen in den Blick nehmen. In beiden Wissenschaften bedeutet dies u.a. die Abkehr von einem Modell strikter Trennung zwischen "politisch" und "nicht-politisch" (sei es "gesellschaftlich" oder "privat"), die Entgrenzung des Politikbegriffs, welche es ermöglicht, die Konstitution des Politischen in den Vorstellungen der Menschen selbst sowie ihre kommunikative Herstellung in der Gemeinschaft in den Blick zu nehmen.

Langes auf einem so verstandenen subjektivistischen Geschichts- und Politikbegriff aufbauendes Konzept der Differenz zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft bzw. den dazugehörigen Didaktiken besteht in der Unterscheidung zweier unterscheidbarer Bewusstseinsbereiche (36). Er versteht unter historischem und politischem Bewusstsein im Sinne der konstruktivistischen Theorien "zwei unterschiedliche [...] Erklärungszusammenhänge, durch die der Mensch seine Wirklichkeitsvorstellungen sinnhaft aufbaut" (37), folgt also hier der schon bei Rüsen 1989 angelegten Denkrichtung. Auch er geht - ähnlich wie 2000 Jaeger - über Rüsens damalige Position hinaus und sieht in historischem und politischem Bewusstsein jeweils "modellhafte Vorstellungen von Teilbereichen einer allgemeinen kognitiven Struktur" (38), die durch jeweils eigene Sinnbildungsformen gekennzeichnet seien.

Dadurch werde es möglich, historisches und politisches Bewusstsein getrennt zu betrachten, aber beiden Bewusstseinsformen Gegenwartsbezug, Konsequenzen für das Handeln (also Orientierungsfunktion und Zukunftsbezug) sowie eine Spannung zwischen zur Wissenschaft und je subjektiver Erfahrung zuzugestehen (39).

Tab. 3: Historisches und politisches Bewusstsein; nach LANGE 2002/2004
  1. Historisches Bewusstsein
    1. Denkformen

      1. Analyse
      2. Sachurteil
      3. Wertung
    2. Sinnbildungstypen (nach RÜSEN)

      1. traditional
      2. exemplarisch
      3. genetisch
    3. Zeitvorstellungen

      1. zirkulär
      2. punktuell
      3. linear
  2. Politisches Bewusstsein
    1. Demokratisches Bewusstsein

      1. plebiszitär
      2. repräsentativ
      3. elektoral
    2. Autoritäres Bewusstsein

LANGE strukturiert nun das Geschichtsbewusstsein in dreifacher Weise, nämlich hinsichtlich (Tab. 3)

  1. der Operationen des historischen Denkens durch die von ihm als "Kognitionstypologie" bezeichnete Jeismannsche Dreiheit von "Analyse, Sachurteil und Wertung",
  2. der narrativistischen Unterscheidung der Sinnbildungstypen von Jörn Rüsen sowie
  3. einer Typologie von Zeitvorstellungen (zirkulär, linear, punktuell), die allerdings mit den Sinnbildungstypen eng korreliert (40).

Nach diesem Vorbild konzipiert er dann - in Anlehnung an Grammes` Definition als das "Insgesamt der Vorstellungen und Einstellungen zu politischen Prozessen"- auch als den Forschungsgegenstand der Politikdidaktik: das Politikbewusstsein. Letzteres konstruiert demnach die Vorstellungen der Einzelnen über die gesellschaftlichen Mechanismen und Prozesse, mit denen individuelle Interessen in allgemeine Verbindlichkeit transformiert werden, in welchen politische Willensbildung funktioniert. Ähnlich wie Geschichtsbewusstsein nicht Wissen um vergangene Wirklichkeit enthält, sondern mit Hilfe verschiedener Deutungsmuster, Kategorien etc. erstellte Vorstellungen einer vergangenen Wirklichkeit, ist auch dies ein kognitives Schema (41).

Diese Konzeption des politischen Bewusstseins entspricht wiederum der oben referierten Position, dass auch politisches Denken Verarbeitung von Kontingenz ist, nämlich einer Differenz zwischen Sollen bzw. Möglichkeit einer- und Sein andererseits. Dabei reduziert LANGE (Tab 1) das politische Bewusstsein jedoch auf zwei Grundtypen von Herrschaft und ihre Legitimation, nämlich die demokratische und autoritäre Herrschaft, die sich in vier Dimensionen unterscheiden, nämlich hinsichtlich

  1. der dem einzelnen Menschen zugeschriebenen politischen "Basiskompetenz" (kompetente Selbständigkeit, Abhängigkeit),
  2. der Stellung des einzelnen in der Gesellschaft (Bürger, Untertanen),
  3. den vorgestellten Verhältnissen zwischen Individuen und Gruppe (Exklusion, Inklusion bzw. Partizipation) sowie
  4. der zu Grunde liegenden Herrschaftsrelation (Identität bzw. horizontal, Nicht-Identität bzw. vertikal) (42)

Zudem wird der "demokratische Sinnbildungsmodus" einer weiteren Unterteilung unterzogen (plebiszitär, repräsentativ, elektoral) (43).

Tab. 4: Historisch-politische Lernformen (nach LANGE 2002)

Sinnbildungsform

"politikgeschichtliches" Lernen

"geschichtspolitisches" Lernen

zirkulär

es wird gelernt, Herrschaft durch Verweis auf ein "schon-immer-so" zu legitimieren

 

punktuell

es wird gelernt, Herrschaft durch Analogiebildung zu legitimieren

 

linear

es wird gelernt, Herrschaft so zu legitimieren, dass sie entwicklungslogisch erscheint

 

autokratischer Typ

 

es wird gelernt, dass verbindliche historische Sinnbildungen von einer Minderheit entwickelt werden sollen

demokratischer Typ

 

es wird gelernt, dass jeder an verbindlichen Sinnbildungen mitwirken kann

Das "historisch-politische Bewusstsein" schließlich wird auf dieser Basis der strukturell gleichen Unterscheidung von historischem und politischem Bewusstsein konzipiert als ein Überschneidungsbereich der beiden Bewusstseinsformen, der eine eigene Substruktur mit zwei Ausprägungen auch von Lernen bildet (44):

  • "Politikgeschichte" als die historische Argumentation auf verschiedenen Politikfeldern, d.h. politische Argumentation mit historischen Zuständen und Prozessen; sowie
  • "Geschichtspolitik" als politische Auseinandersetzung um die Deutung von Vergangenheit allgemein; Geschichte werde selbst zum Politikfeld. Geschichtspolitik umfasse den Bereich, der das historische Denken der Gemeinschaft selbst zum Gegenstand habe. Dabei gehe es nicht um die Interpretationen als solche, sondern darum, wie individuelle Interpretationen in allgemeingültige transformiert werden. (Museen, Denkmäler, Medien etc.).

Nach diesem so strukturierten "historisch-politischen Bewusstsein" werden sodann die didaktischen Aufgabenfelder der empirischen Analyse, der Reflexion, der normativen Bestimmung erwünschter Ausprägungen sowie der Pragmatik zugeordnet (45).

In der konkreten Umsetzung (vgl. Tab. 4) erarbeitet Lange auf der Basis dieser Sinnbildungsformen verschiedene Typen historisch-politischen Lernens, die jeweils verschiedenen Kompetenzen zugeordnet sind. Diese können hier nicht alle aufgezählt werden, es ist z.B. "lineares politikgeschichtliches Lernen" darunter, mit welchem "gelernt wird, Herrschaft dadurch zu legitimieren, dass sie als entwicklungslogisch erscheint" (46), bzw. das "geschichtspolitische Lernen", das die Kompetenz vermittle, "politische Herrschaftsformen zu legitimieren, durch die kollektiv bindende Geschichtsdeutungen erzeugt werden sollen" (47). So sei ein Lernen als autokratisches geschichtspolitisches Lernen zu klassifizieren, wenn gelernt werde, dass man auf Geschichtsdeutungen anderer, Mächtigerer angewiesen sei, demokratisches geschichtspolitisches Lernen hingegen zeige, dass der Einzelne an der Herstellung von Verbindlichkeit von Sinnbildungen gleichberechtigt beteiligt sei könne.

Nicht alles hieran erscheint konsistent. Das gilt zum einen für die Benennung der Zeitvorstellungen und ihre Verbindung zu den historischen Sinnbildungstypen. Auch zeigt Tab. 4 ganz deutlich, dass hier historisches und politisches Bewusstsein nicht wirklich miteinander verschränkt werden, sondern auf das jeweils andere Feld angewandt. Im Grunde wird hier gefordert, Politikgeschichte mit den Mitteln der modernen Historik zu betrachten und Geschichtspolitik bzw. öffentliche Kommunikation über Geschichte als Politikfeld ernst zu nehmen.

Es fehlt noch eine Art der Verschränkung, nämlich jene, die den Blick darauf lenken würde, dass in einzelnen historischen und politischen Aussagen, Stellungnahmen, Kategoriendefinitionen etc. immer auch Bezugnahmen und Sinnbildungen hinsichtlich der anderen Kontingenzverarbeitung enthalten sind. Hier liegt eine Zukunftsaufgabe für die historisch-politische Didaktik. Es geht nicht nur (aber auch) darum, geschichtliche Argumentationen als Legitimationsformen endlich geschichtsdidaktisch zu analysieren bzw. politisch zu hinterfragen, wie historische Vorstellungen zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft verhandelt werden. Es muss auch darum gehen, die jeweils mitgedachten politischen Konzepte zu ergründen und Lernende zu befähigen, hier einerseits konsistent selbst Sinn zu bilden und andererseits ihnen in der öffentlichen Kommunikation angebotene Sinnbildungen hinsichtlich der Sinnbildungen in beiden "Dimensionen" zu analysieren. Ich habe eine solche Analyse ansatzweise in meinem Buch über die öffentliche Erinnerung an Gustav Stresemann versucht (48).

 

4.4. Verschränkung über die Meta-Ebene der Reflexion des eigenen Tuns

Damit bin ich bei meiner eigenen Position: Ich halte die korrelative Verschränkung von historischem und politischem Bewusstsein, von historischem und politischem Denkens als zweier Formen kultureller Wirklichkeitser- und Verarbeitung für geboten und richtig. Angesichts der Pluralität der heutigen Gesellschaft und vor dem Hintergrund einer normativen Vorstellung demokratischer Beteiligung halte ich es aber nicht nur für geboten, Schüler darin zu befähigen, derartige Sinnbildungen überhaupt, bewusst und gut erstellen zu können, sondern ihnen diese Prozesse als Sinnbildungsprozesse selbst bewusst zu machen. Ich plädiere also dafür, die Meta-Ebene der Reflexion über das eigene denkende Tun und das von ihm orientierte Handeln in die Geschichtsdidaktik, die Politikdidaktik und die historisch-politische Didaktik einzubeziehen. Dazu gehört auch, die Logik dieser Sinnbildungsmechanismen selbst bewusst zu machen, um Lernende zu befähigen, Abweichungen in den Vorstellungen nicht notwendig als Ausdruck sachlicher Fehler (vornehmlich beim Gegenüber) zu verstehen, sondern solche Differenzen auch anerkennen zu können. Erst dann kann eine auf wahre Verständigung gerichtete Kommunikation über Geschichte und Politik bzw. über die politische Funktion historischer Aussagen und die historischen Entwürfe in politischen Konzepten in Gange kommen.

Ein reflexives Geschichtsbewusstsein ist dann auch politisch reflexiv, wenn es nicht nur um seine Tätigkeit weiß, "sich in der Zeit zurechtzufinden" (49), sondern auch um die politischen Implikationen ebendieser Tätigkeit - wenn es politisch darüber reflektieren kann, dass und warum seine eigene Ausprägung, die von ihm für plausibel gehaltenen Deutungsmuster, usw., sich von denjenigen anderer Mitglieder der Gesellschaft, von Menschen aus anderen Kulturen usw. unterscheiden, wenn es die Lage versetzt ist, sich mit anderen Menschen über Geschichte zu unterhalten (50), und zwar nicht nur im Hinblick auf eine vordergründige inhaltliche "Wahrheit" und (monodimensional-reflexiv) über z. B. plausible Deutungsmuster, Vorlieben etc., sondern wenn es auch in der Lage ist, sich mit ihnen über das Politische darin zu verständigen, also z. B. über die Gründe, warum bestimmte Vorlieben interessengebunden so sind, wie sie sind - in der Lage, eine Form von Verständigung über die Implikationen von Deutungsmustern und Theorieformen zu erzielen. So bedeutet es zum Beispiel, historisch politisch bewusst zu sein, wenn man in der Lage ist, die unterschiedlichen politischen Kriterien zu diskutieren, die der Historismus und die historische Sozialwissenschaften entwickelt haben, um mit vergangenen Ereignissen und Strukturen umzugehen.

Andersherum ist ein politisches Bewusstsein auch historisch reflexiv, das Kategorien und Konzepte besitzt, mit denen es die unterschiedlichen Deutungen von Geschichte, die es in verschiedenen politischen Konzepten thematisieren kann, in ihrer historischen Sinnbildungslogik einschätzen kann.

Schließlich eröffnet sich für die Didaktik auch ein weiteres Forschungsfeld: Ähnlich wie die Geschichtsdidaktik sich seit vielen Jahren um die Entstehung, Formen, Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein von Individuen und Gruppen in der Gesellschaft auch empirisch kümmert, muss dies auch die Politikdidaktik tun (Ansätze dazu finden sich bei Grammes) und es muss auch für die Verschränkung gelten.

"Alltag" im Sinne einer eigenen Art des Denkens darf dabei nur heuristisch definiert werden, nicht z.B. als eine Sinnprovinz völlig eigenständiger Sinnbildungsprozesse. Es muss das Interesse der historischen, der politischen wie auch der verschränkenden Didaktik sein, zu ergründen, ob und wie das historische und das politische Denken von Menschen in ihren verschiedensten Lebenszusammenhängen ähnlich oder unterschiedlich funktionieren, welche Denklogiken diesen Prozessen zu Grunde liegen und zu ergründen, ob und wie sie zusammenhängen bzw. aufeinander bezogen werden können. Das gilt zum einen für jedes Fach für sich, aber es gilt auch für das historisch-politische Denken. Hier nämlich wird thematisiert (empirisch, normativ, pragmatisch), ob und wie Menschen Ergebnisse historischer Vergewisserung auf ihre politischen Vorstellungen übertragen und in welcher Form politische Konzepte und Vorstellungen auf das historische Denken zurückwirken. Es geht also um "relationales" Denken nicht nur zwischen "Wissenschaft" und "Alltag", sondern auch zwischen historischem und politischem Bewusstsein - auf der "Ebene" der Wissenschaft wie des "Alltags". Spezifisch unterrichtsfachdidaktisch bedeutet das auch, Lernprozesse zu analysieren, in denen Schülerinnen und Schüler alltägliche Argumentationen mit Geschichte (z.B. in der Familie) mit solchen in fachwissenschaftlicher Literatur oder der Presse vergleichen: Werden gleiche oder kompatible Deutungsmuster verwendet?

Abschließend möchte ich noch einmal definieren:

"Historisch-politische" Kompetenz besteht darin, historische Aussagen mit Hilfe politischer bzw. politikdidaktischer Kategorien und politische Aussagen mit Hilfe geschichtsdidaktischer Kategorien sachadäquat analysieren und sinnhaft verarbeiten zu können.

Historisch-politisches Lernen nimmt also die politische Funktion "der Geschichte", besser: der Geschichtsauffassungen wie der abstrakteren Geschichtskonzeptionen, in den Blick, und nimmt es sich zum Ziel, junge Menschen dazu zu befähigen, an der gesellschaftlichen Kommunikation (die oft genug eine Auseinandersetzung ist) über historische Themen teilzunehmen, indem der Blick nicht vornehmlich auf die Fragen der empirischen Triftigkeit gerichtet wird, sondern die normative und narrative Triftigkeit sowie eine Triftigkeit der jeweiligen Selektion der verwendeten Informationen ins Zentrum gerückt werden; für die akademische Disziplin der historisch-politischen Didaktik ist es daher zentral, diesen (selbst natürlich nicht absolut zu setzenden, sondern selbst der skizzierten Diskussion zu unterwerfenden) Begriff von Geschichte und historischem Denken zu vermitteln bzw. zu diskutieren, seine politische Bedeutung zu reflektieren und Begriffe, Konzepte und Methoden bereit zu stellen bzw. zu entwickeln, mit denen der politische Aspekt von Geschichtsaussagen und -diskussionen, von Kontroversen aber auch (vermeintlichen) Konsensen herausgearbeitet und diskutiert werden kann. Historisch-politische Didaktik ist nach diesem Konzept politisches Lernen über Geschichte als gesellschaftliche und individuelle Konstruktion. Geschichte wird als politisch begriffen, weil "Geschichte" gegenwärtige Konstruktionen sind.

Das bedeutet nicht, dass historisch-politische Didaktik ein reines Theorieunterfangen wäre. Vielmehr ist die politische Komponente an allen möglichen historischen (wie auch politischen) Themen aufzuzeigen. So ist z.B. ein historischer Gegenstand "Reichsgründung" dazu geeignet, an ihm zu verdeutlichen, dass und wie sich in unterschiedlichen Begriffen, Darstellungen und Aussagen, nicht nur Wertungen, über diesen historischen Vorgang, politische Konzeptionen erkennen lassen, ja wie diese unterschiedlichen historischen Aussagen mit politischen Konzepten in Wechselwirkung stehen. Historisch-politisches Lernen ist somit notwendig auf den Gesamtzusammenhang des historischen Denkens gerichtet, wie er in dem neueren Theoriemodell der Gruppe um Waltraud Schreiber formuliert wird: Noch stärker als in der "reinen" Geschichtsdidaktik müssen nicht nur Aussagen über Vergangenheit und über diachrone Zusammenhänge in den Blick genommen werden, sondern immer auch die Aussagen über die Bedeutung dieser Geschichten für die jeweilige Gegenwart der Autoren und Rezipienten bzw. Adressaten, noch stärker als in der Geschichtsdidaktik ist eine Darstellungsorientierung von Nöten, die die Quellenarbeit nicht ersetzt, ihr aber doch deutlich zur Seite gestellt wird, noch stärker muss auf die historiographische Denklogik von historischen Aussagen in ihrer politischen Relevanz geachtet werden. Die Forderungen von v.Borries, Multiperspektivität nicht nur in den Quellen, sondern ebenso auf der Ebene der Darstellungen und der gegenwärtigen Schlussfolgerungen einzulösen, also Kontroversität und Pluralität einzulösen, ist in der historisch-politischen Didaktik zu reflektieren. Historisch-politisches Lernen soll dazu befähigen, den politischen Charakter von Geschichtsaussagen zu erfassen und mit ihm umzugehen lernen.

Historisch-politische Didaktik ist so meines Erachtens nach vornehmlich die Didaktik der "Vergangenheitspolitik" bzw. "Geschichtspolitik", nicht die Didaktik der politischen Geschichte und auch nicht die Didaktik der Geschichte des politischen Denkens.

 

4.5. Einige Konsequenzen

Welche Konsequenzen lassen sich aus diesen Forderungen ableiten?

  1. Zunächst ist für historischen und politischen Unterricht zu fordern, dass die organisatorische Trennung der Fächer nicht einfach aufgehoben wird zu Gunsten eines Integrationsfaches, in dem dann die verschiedenen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen, Prinzipien und Methoden, irgendwie miteinander verschmelzen würden. Die Aufrechterhaltung der Fächer darf jedoch nicht mit überkommenen Besitzständen an Themen oder überkommener Illusionen, das jeweils "eigene" Fach könnte die Aufgaben des Anderen quasi mit übernehmen, legitimiert werden, sondern allein durch die fachtheoretischen Erkenntnis, dass die beiden Fächer jeweils eigene Logiken von Kontingenzbewältigung, von Orientierung und Sinnbildung vermitteln können.

  2. Abzulehnen ist aber ebenso jegliche grundsätzliche Trennung der Sachgebiete und Themen. "Beide" Fächer bearbeiten mit ihren Mitteln und in gegenseitiger Verschränkung die gleichen Gegenwartsprobleme der Gesellschaft.

  3. Zu fordern ist in beiden Fächern und in ihrer Zusammenarbeit eine grundsätzliche Orientierung auf die Reflexion des eigenen Tuns, d.h. der Einbezug der Meta-Ebene der Erkenntnistheorie und -kritik. Auf dieser Ebene können dann auch die unterschiedlichen Orientierungs- und Lernmöglichkeiten durch politisches und historisches Denken aufeinander bezogen werden.

  4. In pragmatischer Hinsicht wird es wohl nur punktuelle, nicht aber eine durchgängige thematische Kooperation an ausgewählten Beispielen der Geschichtspolitik geben können. Themen müssten aktuelle politische Kontroversen und Themen mit Geschichtsbezug werden, die in Geschichts- und Politikunterricht jeweils mit deren eigenem Erkenntnisinteresse und deren eigener Methodik bearbeitet werden müssten:

    1. Im Geschichtsunterricht müsste ein Vergleich der in aktuellen Diskussionsbeiträgen erkennbaren verschiedenen Geschichtsauffassungen erfolgen. Das bedeutet unter anderem, politische Debattenbeiträge auf ihren Umgang mit Vergangenheit zu untersuchen, den von ihnen hergestellten Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, also der behaupteten Kontinuitätsvorstellungen und der Triftigkeit(en) der Argumentation. Politische Beiträge müssen als Aussagen über Geschichte (de-)konstruiert werden (51).

    2. Im politischen Unterricht muss es unter anderem um die politikwissenschaftliche Erörterung der in den Beiträgen enthaltenen politischen Verortungen und Normannahmen innerhalb des gegenwärtigen politischen Spektrums gehen, um die Aufklärung hinsichtlich der in ihnen enthaltenen enthaltenen gegenwärtigen Optionen etc. Es geht um eine typisierende und klassifizierende Analyse von in historischen Aussagen enthaltenen politischen Implikationen ebenso wie um die Untersuchung der Struktur von (geschichts-) politischen Debatten. Historische Aussagen müssen somit aus ihrem vermeintlichen alleinigen Bezug auf Vergangenheit herausgelöst und als Instrumente in gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen bzw. in Versuchen von Integration und Abgrenzung etc. sichtbar gemacht werden.

  5. Methodisch empfehlen sich wohl thematisch und zeitlich gemeinsame Projekte, in denen historische und politische Aspekte arbeitsteilig bearbeitet werden (Fächer quasi als arbeitsteilige Gruppen, jeweils mit Doppelmitgliedschaft) und gemeinsamen Abschlusssitzungen, in welchen die Ergebnisse historiographischer und politikwissenschaftlicher Analysen gemeinsam vorgestellt und miteinander verglichen werden können (Aufhebung der Fachtrennung, Gruppeneinteilung ist wegen Doppelmitgliedschaft ja schon aufgehoben).

  6. Für die fachdidaktische Lehre bedeutet dieses unter anderem, dass die "klassischen Themen" von Geschichts- und Politikunterricht, wie sie z.B. in den Lehr- und Rahmenplänen enthalten sind, jeweils historisch und politisch reflektiert und analysiert werden.

  7. Die didaktische Forschung müsste sich unter anderem der Frage widmen, inwieweit in der Gesellschaft bzw. in verschiedenen Gruppen ein Bewusstsein für die Verschränkungen historischer und politischer Argumentationen gegeben ist. Zu klären ist dabei u.a. die Frage, inwieweit "Geschichte" als ein soziales Konstrukt wahrgenommen wird, in das immer soziale und kulturelle Perspektiven eingehen. Zu klären wäre zudem, inwieweit spezifische politische Grundhaltungen mit Formen der historischen Sinnbildungen und Argumentationen korrelieren. Möglichkeiten der Förderung derart "interrelationalen" Denkens (Grammes) sowohl im Unterricht als auch in anderweitigen Lehr- und Lernsituationen gehören ebenso in das Forschungsprogramm historisch-politischer Didaktik.

 

Anhang

Tabellarische Übersicht über Koordinations- und Kooperationsmodelle historischen Lernens

Tab.5: Kooperations- und Koordinationsmodelle historischen und politischen Lernens.
Kooperations- und Koordinationsmodelle historischen und politischen Lernens
Gruppe Typ Geschichtswissenschaft/ Geschichtsdidaktik/ Geschichtsunterricht Politikwissenschaft/ Politikdidaktik/ Politikunterricht Beispiele Bemerkungen
  ältere Modelle, welche die Themen und Erkenntnisweisen des jeweils anderen Fachs in das eigene zu integrieren versuchten
I
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g
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i
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l
l
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"historisches Integrations -modell"a
  • Geschichtsunterricht unreflektiert als (hinreichende) politische Unterweisung angesehen;
  • unreflektiert hinsichtlich der eingehenden "historiologischen" Kategorien (z.B. Sinnbildungstypen) sowie hinsichtlich der Kategorien der Politikwissenschaft:
Geschichte als das einzige Erfahrungsfeld für politisches Lernen, da ein primäres Erfahrungsfeld fehle; Geschichte als Sammlung von Beispielen für politisches Lernen
  Geschichts -unterricht bis in die 70er Jahre hinein keine Wahrnehmung der unterschiedlichen Fachinteressen, -methoden, Fragestellungen

auch hier eigentlich eine mangelnde Reflexion der historischen Sinnbildungen: Vergangenheit als in exemplarischer Sinnbildung mit der Gegenwart verbundenes Probehandlungsfeld;
"politisches Integrations -modell"a   historisch-politisches Lernen durch die Erarbeitung der historischen Dimension des aktuell Politischen;
historische Genese von Problemlagen, Reflexion von Analogien
  unreflektiert hinsichtlich der in dem jeweiligen Denken enthaltenen historischen Sinnbildungstypen sowie ihrer Viabilität; z.T. bei Analogien unreflektiert exemplarisch
  Modelle, die von eigenständigen Themen und Aufgaben der beiden Fächer ausgehen, diese aber unterrichtlich aufeinander beziehen.
K
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"Zahnrad" -Modell bzw."Puzzle"- Theorie historische Themen politische Themen   Aus der Nebeneinanderstellung der in sich unveränderten Themen ergäbe sich eine hinreichende Integration
"Prisma" -Theorieb historische Aspekte eines Themas politikwissen -schaftliche Aspekte eines Themas "Verkehr"
"Wasser"
"Lärm"
als Thema
gleicher Gegenstand, jeweils unter fachspezifischen Aspekten zu betrachten, ohne dass diese Aspekte systematisch aufeinander bezogen würden
  Modelle, die auf bestimmten Setzungen im Bereich des jeweils anderen Faches beruhen
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historisch orientierter Politik- unterricht  
  • Politikunterricht, der nach "dem" historischen Hintergrund aktueller politischer Kategorien und Konzepte, Kontroversen und Institutionen fragt, hinsichtlich der Geschichte aber naiv bleibt;
  • Politikunterricht, der die ihm zu Grunde liegenden
HILLIGEN: Demokratie -entwicklung; Didaktische Entscheidungen im zentralen Fach sind durch Optionen im jeweils anderen Fach geprägt, thematisieren und reflektieren diese jedoch nicht hauptsächlich politischer Unterricht geprägt durch Vorent -scheidungen hinsichtlich historischer Sinnbildung (z.B. Fortschritts -kategorie); keine Reflexion der eingehenden Sinnbildungs -muster und ihrer Kontingenz
politischer Geschichts- unterricht Geschichtsunterricht, der eine bestimmte politikwissenschaftliche Option der historiographischen Analyse zu Grunde legt, ohne diese selbst zu reflektieren und kontrovers zu stellen   KUHN: Emanzipation;
SCHULZ-HAGELEIT (1978): Emanzipation; JUNG/V.STAEHR
  Geschichts -unterricht unter der Prämisse gegenwärtiger politischer Setzungen
  Modelle, welche von eigenständigen Erkenntnisweisen der beiden Disziplinen ausgehen, diese aber als grundsätzlich als sich überschneidend und zu verschränken verstehen
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"historisch- politische Didaktik"a "Politikgeschichte": Gedeutete Vergangenheit als Instrument der politischen Auseinandersetzung: historiographische Aufarbeitung der einzelnen Politikfelder; Argumentationen mit "Geschichte" stehen im Vordergrund   Analyse wirtschafts -geschichtlicher Argumentationen    
  "Geschichtspolitik": "Vergangenheits- deutung selbst wird zum Gegenstand der Auseinandersetzung: Wie wird Gemeinsamkeit (oder besser: "Kompatibilität") in der Gesellschaft hergestellt; wie werden aus individuellen Sinnbildungen allgemeinverbindliche gemacht Reflexion über die Herstellung von historischer Identität Denkmäler, Museum, Medien, Schule etc. Didaktik als Politikfeld    
Reflexions- orientierung
  • zusätzlich:
  • Thematisierung der Funktionen und Formen sowie Logiken des jeweiligen fachspezifischen Denkens
  • Dekonstruktion von historischen und politischen Aussagen mit Hilfe der Kategorien des historischen und politischen Bewusstseins
     
a Bezeichnung nach LANGE 2002; b Bezeichnung nach PANDEL 2001
 

Anmerkungen

  1. RÜSEN, JÖRN (1996), S. 504. Eine auch in diesem Aspekt erweiterte Fassung findet sich in: RÜSEN, JÖRN (2000), S. 43ff, hier bes. S. 60ff.
  2. Vgl. auch den Versuch einer tabellarischen Übersicht am Ende dieses Beitrages (Tab. 5, S. ). Der gleichen Fragestellung wie dieser Beitrag widmet sich mit etwas anderem Zugriff und skeptischem Ergebnis ob der Möglichkeit einer Theorie historisch-politischen Lernens zuletzt HEDTKE, REINHOLD (2003)
  3. LANGE, DIRK (2002): Die Alltagsgeschichte in der historisch-politischen Didaktik. Zur politischen Relevanz alltagsorientierten Lernens. (online unter: http://www.diss.fu-berlin.de/2002/116/; gelesen am 16.1.2003). Die Buchfassung: LANGE, DIRK (2004): Die historisch-politische Didaktik: Zur Begründung historisch-politischen Lernens. ist mir erst heute zugänglich geworden.
  4. CAMERER, JOHANN FRIEDRICH (1758)
  5. 1832/33-1836 erschienen in Berlin bei Duncker & Humblot.
  6. Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland. München: Riedel, 1838-1923.
  7. KÖRBER, ANDREAS (1999): Gustav Stresemann als Europäer, Patriot, Wegbereiter und potentieller Verhinderer Hitlers: historisch-politische Sinnbildungen in der öffentlichen Erinnerung.
  8. KUTZ, MARTIN (1997)
  9. OEHLER, KATHERINA (1997)
  10. MICKEL, WOLFGANG W. (1999; Hg.)
  11. Vgl. SCHÖRKEN, ROLF (1978)
  12. Als ein Beispiel zitiert SCHULZ-HAGELEIT, PETER (1978), S. 307, Manfred Messerschmidt.
  13. Vgl. PANDEL, HANS-JÜRGEN (2001). In: sowi-onlinejournal 1/2001 (http://www.sowi-onlinejournal.de/2001-1/pandel.htm; zuletzt gelesen 3.2.2002).
  14. Die Bezeichnung "Zahnrad"-Methode stammt von ROLF SCHÖRKEN (1978, wie Anm.), S. 12; der Begriff "Sehschlitz"-Methode stammt von ERICH KOSTHORST und KARL-ERNST JEISMANN und wird ebda, S. 13 berichtet; die Bezeichnung "Puzzle"-Theorie bei PANDEL (2001), Abschn. 1 (1).
  15. JEISMANN, KARL-ERNST (1978)
  16. Vgl. JUNG, HORST W.; STAEHR, GERDA VON (1983): Historisches Lernen. Didaktik der Geschichte; JUNG, HORST WILHELM; STAEHR, GERDA V. (1999; Hg.): Historisch-politisches Lehren und Lernen. Geschichte - Standpunkte - Erfahrungen
  17. Vgl. dazu auch PANDEL (2001), Abschn. 1 (1).
  18. Vgl. JEISMANN (1978), S. 22f. Vgl. auch Tab 1.
  19. JEISMANN (1978), S. 22f, hier S. 37 ff.
  20. JEISMANN (1978), S. 31. Unter der Hand scheint JEISMANN hingegen die Funktion des historischen Denkens noch stärker in der Gegenwart anzusiedeln, als er ausdrücklich zugibt. Er nennt das Verhältnis von Sozialwissenschaften bzw. Politikunterricht und Geschichtsunterricht "komplementär", nachdem er ihnen unterschiedliche Erkenntnisrichtungen zugeschrieben hat. Bei ersteren sei der Blick auf vergangene Zustände instrumentell für die bessere Erkenntnis der Gegenwart. Demnach müsste die Beschreibung des Zwecks des historischen Denkens derart vermutet werden, dass hier die Erkenntnis der Gegenwart (z.B. das Wissen um politische Kategorien der Gegenwart) ein Instrument für eine bessere Erfassung der Vergangenheit sei. Demgegenüber Jeismann wörtlich: "So wichtig es ist, in der Geschichte Erklärungen für unmittelbare Erfahrungen in der Gegenwart zu suchen, so unerläßlich ist es für historische Bildung, durch Rekonstruktion von Vergangenheit auch die Möglichkeiten für die Wahrnehmung der eigenen Gegenwart zu verbreitern und zu vertiefen." ... "für die Wahrnehmung der eigenen Gegenwart" - dies ist wieder die gleiche Erkenntnisrichtung.
  21. Ähnlich auch PANDEL, HANS-JÜRGEN (1997). Vgl. dazu nun auch HEDTKE (2003), S. 120.
  22. Zu den Sinnbildungstypen vgl. RÜSEN, JÖRN (1983); sodann RÜSEN, JÖRN (1990). Eine Modifikation und Ergänzung der Sinnbildungstypenlehre hat jüngst HANS-JÜRGEN PANDEL vorgeschlagen: PANDEL, HANS-JÜRGEN (2002).
  23. RÜSEN, JÖRN (1989)
  24. RÜSEN (1989), S. 121.
  25. RÜSEN (1989), S. 122.
  26. RÜSEN (1989), S. 122.
  27. Vgl. hierzu auch LANGE (2002), S. 153ff.
  28. Vgl. JAEGER, FRIEDRICH: "Geschichte als Orientierungswissen. Lebenspraktische Herausforderungen und Funktionen des historischen Denkens." Vortrag auf dem Historikertag 2000 in Aachen. Nachdem die Publikation des Bandes über die betreffende Sektion im Frühjahr 2004 gescheitert ist, ist mir ein Druckort dieses Vortrages nicht bekannt.
  29. LANGE (2002), S. 243. Ob es immer "Deprivation" sein muss, die das Politische in Gange setzt, sei in diesem Zusammenhang dahin gestellt. Wenn dem so wäre, würden privilegierte Menschen nicht politisch denken und lernen können. Es muss also entweder auch andere lernauslösende Erfahrungen mit der Kategorie "Macht" geben (Machtlust, Deprivationsangst), oder aber es ist anzuerkennen, dass nicht nur letztlich den eigenen Status im Vergleich zu anderen reflektierende Erfahrungen, sondern auch ehrliche altruistische Sorge um das "Gemeinwohl" politisches Lernen und Denken anstoßen kann.
  30. Für die Kritik am "Fachprinzip" vgl. HUBER, LUDWIG (2001)
  31. Diese Bezeichnung verwendet PANDEL nicht.
  32. PANDEL (2001).
  33. HEDTKE (2003), S. 120.
  34. HEDTKE (2003), S. 118ff.
  35. Vgl. dazu zuletzt KUSS, HORST (2004)
  36. LANGE (2002), S. 153ff. Er referiert drei andere Unterteilungen, die abzulehnen seien, nämlich die schon besprochene Differenzierung in eine vergangenheitsorientierte Geschichts- und eine gegenwartszentrierte Politikwissenschaft, eine an der Wissenschaft orientierte Geschichtsdidaktik versus einer schülerorientierten Politikdidaktik sowie die Unterscheidung von historischem Denken und politischem Handeln.
  37. LANGE (2002), S. 159.
  38. LANGE (2002), S. 159.
  39. LANGE (2002), S. 160.
  40. LANGE (2002), S. 166ff.
  41. LANGE (2002), S. 189.
  42. LANGE (2002), S. 194ff.
  43. LANGE (2002), S. 198-207.
  44. LANGE (2002), S. 208ff.
  45. LANGE (2002), S. 231.
  46. LANGE (2002), S. 257.
  47. LANGE (2002), S. 259.
  48. KÖRBER, ANDREAS (1999).
  49. Vgl. den Untertitel: RÜSEN, JÖRN (1994), Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden.
  50. Zum Kulturvergleich im historischen Denken vgl. u.a. RÜSEN, JÖRN (1998); zum interkulturellen historischen Lernen ALAVI, BETTINA(1998); KÖRBER, ANDREAS (2001; Hg.).
  51. Vgl. zur Unterscheidung von Re- und De-Konstruktion als Grundoperationen des historischen Denkens die Arbeiten aus dem Projekt "FUER Geschichtsbewusstsein", bes. HASBERG, WOLFGANG; KÖRBER, ANDREAS (2003).
 

Literatur

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Lange, Dirk (2004): Zwischen Politikgeschichte und Geschichtspolitik. Grundformen historisch-politischen Lernens

Politics without history has no roots, history without politics bears no fruits. Wer nach der Beziehungshaltigkeit von Politik und Geschichte fragt, entdeckt bald, dass zwischen beiden eine geradezu symbiotische Abhängigkeit besteht. Denn wer sich historisch schult wird auch die politische Dimension in der Geschichte berücksichtigen und wer sich politisch bildet kann historisch-genetische Faktoren aktueller Problemstellungen nicht vernachlässigen (2). Der Umstand, dass Politik ein Teil von Geschichte und Geschichte ein Teil von Politik ist, hat seit jeher Konsequenzen für die Reflexion sowohl des historischen und als auch des politischen Lernens (3).

Heute werden die Bezüge zwischen Geschichts- und Politikdidaktik maßgeblich von historischer Seite reflektiert (4) und nur selten aus politischer Perspektive (5). Jedoch liegt derzeit keine explizite Konzeption der historisch-politischen Didaktik vor, die sowohl den geschichts- als auch den politikdidaktischen Diskurs integriert. Im Folgenden soll ein solcher Ansatz begründet werden, indem das historisch-politische Lernen im Spannungsfeld von Politikgeschichte und Geschichtspolitik konzipiert wird.

Zunächst wird erörtert, wie sich die Kooperation von Geschichts- und Politikdidaktik entwickelt hat. Für die weitere Konzeption wird davon ausgegangen, dass sich Gegenstand der historisch-politischen Didaktik als ein Korrelationsbereich beschreiben lässt, in dem zwei eigenständige Erkenntnisweisen zusammen wirken. Mit dem Geschichts- und dem Politikbewusstsein werden die jeweiligen disziplinären Grundkategorien eingeführt. Sie können als Teilsysteme eine übergeordneten Gesellschaftsbewusstsein begriffen werden (6). Die historische und die politische Sinnbildungstätigkeit verschränken sich im historisch-politischen Bewusstsein. Als die beiden Grundformen historisch-politischen Lernens lassen sich das politikgeschichtliche und das geschichtspolitische Lernen identifizieren.

 

1. Die Kooperation von Geschichts- und Politikdidaktik im Wandel

Sowohl in der Geschichts- als auch der Politikdidaktik gab es Bestrebungen die jeweils andere Erkenntnisweise (und damit auch das Unterrichtsfach) in die eigenen Perspektive zu integrieren. Lange Zeit beanspruchte der Geschichtsunterricht den Alleinvertretungsanspruch für die politischen Erziehung. Entwicklungspsychologische Überlegungen ließen fraglich erscheinen, ob Schülerinnen und Schülern überhaupt primäre Erfahrungen im politischen Handlungsfeld machen können. Dieser Umstand rechtfertigte die zentrale Bedeutung des Geschichtsunterrichts für das politische Lernen. Denn die Beispiele aus der Politikgeschichte wurden als ein 'sekundäres Erfahrungsfeld' verstanden, an dem politisches Denken und Handeln nachvollzogen werden konnte (7). Das historische Integrationsmodell dominierte die historisch-politische Didaktik bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts (8).

Mit dem Aufschwung der Sozialwissenschaften gewann das politische Integrationsmodell an Bedeutung. Es ging davon aus, dass Geschichte hinreichend an den historischen Aspekten des aktuell Politischen erlernt werden könne. Durch die Untersuchung der historischen Entwicklung von und durch die Reflexion historischer Analogien zu gegenwärtigen politischen Problemlagen impliziere der Politikunterricht das historische Denken, so dass ein eigenes Lernfach Geschichte letztlich unnötig sei (9).

Die Möglichkeit, "den Geschichtsunterricht in den Sozialkundeunterricht zu integrieren" (10) beziehungsweise die "Gemeinschaftskunde und den Geschichtsunterricht [...] zusammenzubinden" (11) dominiert nun die Diskussion um die historisch-politische Didaktik. Öffentliches Aufsehen erregte diese Entwicklung mit den "Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre" im Jahr 1972. Geschichte sollte sich nunmehr durch den "Nachweis ihrer Beziehung zu den jeweils relevanten politisch-gesellschaftlichen Problemen" (12) legitimieren.

Das Integrationsmodell (in seiner historischen wie in seiner politischen Variante) reduzierte das jeweils anderen Faches auf einen Aspekt der eigenen Disziplin. Das Historisch-Politische unterlag dabei der Hegemonie entweder der Geschichts- oder der Politikdidaktik. Von diesem Modell sind Bemühungen zu unterscheiden, die historisch-politische Didaktik additiv als Summe des historischen und des politischen Lernfeldes zu konzeptualisieren. Demnach basiere die historisch-politische Didaktik auf der Eigenständigkeit von zwei Frageweisen, die ihren je eigenen Beitrag zur Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit leisten können (13). Das kooperative Modell der historisch-politischen Didaktik gewann in Nordrhein-Westfalen Einfluss auf das Unterrichtsfach Politik (1973) und die "Richtlinien Politik". Im Zuge dieser Entwicklung wurde der klassische Inhaltskanon beider Fächer zurück gedrängt. Geschichte und Politik kooperierten nunmehr zu Gunsten eines fächerübergreifenden Curricularkonzepts (14).

Sowohl die Unterordnung unter eine politologisch-sozialwissenschaftliche Perspektive als auch die Aufhebung in ein fachübergreifendes Curriculum stellte die Zukunft des Geschichtsunterrichts in Frage (15). Erst im Laufe der 70er Jahren entwickelte die Geschichtsdidaktik ein neues Selbstbewusstsein, das sich auch in der Diskussion der historisch-politischen Zusammenarbeit spiegelt (16). Grundlegend dafür war die Kategorie des 'Geschichtsbewusstseins' (17). Seither begreift sich die Geschichtsdidaktik als wissenschaftliche Disziplin, "die über Bildungs- und Selbstbildungsprozesse, Lehr- und Lernprozesse an und durch Geschichte nachdenkt und damit die Entstehung, Beschaffenheit, Funktion und Beeinflussung von Geschichtsbewusstsein im gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang thematisiert" (18).

Ausgehend von dieser disziplinären Grundlegung wurde auch die Zusammenarbeit mir der Politikdidaktik neu gedacht. Dabei gewann das korrelative Modell der historisch-politischen Didaktik an Bedeutung. Dieses stellt die historische und die politische Perspektive nicht nur nebeneinander, sondern verweist sie zugleich aufeinander. Das Historische wird als ein Bestandteil des Politischen und das Politische als ein Aspekt des Historischen betrachtet (19). Trotzdem gehen die Perspektiven nicht ineinander auf. Für die historisch-politische Didaktik tritt somit die Koordination der beiden Lernbereiche in den Vordergrund. Im Schnittbereich bereichern sich die Inhalte und Erkenntnisinteressen einer sozialwissenschaftlich orientierte Geschichtsdidaktik und eine historisch orientierte Politikdidaktik gegenseitig.

Wenn sich der Reflexionsgegenstand der historisch-politischen Didaktik im Überschneidungsfeld der beiden Fachperspektiven befindet, dann ist es sinnvoll mit dem Geschichts- und dem Politikbewusstsein zunächst deren disziplinären Gegenstände zu erörtern. In der Geschichtsdidaktik nimmt die Bewusstseinskategorie eine zentrale Position ein. Das Geschichtsbewusstsein ist zu einem disziplinären Schlüsselbegriff geworden, über den es gelungen ist, die Krisenerscheinungen der sechziger und siebziger Jahre zu überwinden und unterschiedliche fachliche Perspektiven zu integrieren. In der Politikdidaktik konnte die Diskussion des Politikbewusstseins noch keine vergleichbare Dynamik entwickeln.

 

2. Geschichtsbewusstsein

Das Geschichtsbewusstsein bezeichnet die geistige Fähigkeit, gegenwärtige soziale Formationen als zeitgebunden betrachten zu können. Außerdem ist die "Sorge um die Zukunft" als ein "wesentlicher Antrieb zur Bildung eines 'geschichtlichen Bewusstseins'" (20) zu begreifen. Die Kategorie des Geschichtsbewusstseins verweist die Geschichtsdidaktik auf den "Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung" (21) . Dadurch wird die Geschichte aus ihrer Fixierung auf die Vergangenheit gelöst und als Denktätigkeit der Gegenwart vorstellbar. Die Eigenart des "Geschichtsbewusstseins" ist nicht mehr in dem Bemühen um "Erkennen der Vergangenheit, sondern in der Verzeitlichung der Vergangenheit" zu sehen, die einem "Interesse an Zukunft folgt" (22) . Die Grundfigur historischen Denkens weist somit über das Vergangene hinaus und ist gegenwarts- und zukunftsbezogen.

In dieser allgemeinen Form lässt sich das Geschichtsbewusstsein als ein Ensemble von "Vorstellungen über Vergangenheit" (23) begreifen. Damit erfasst die Kategorie den Umstand, dass Geschichte nicht in der Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit aufgeht, sondern immer "auch das Bild [ist], das sich Menschen von ihr machen" (24) . Ganz allgemein bezeichnet Geschichtsbewusstsein also die Kompetenz, "die der Orientierung in den zeitlichen Veränderungen unseres Lebens und unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit dienlich ist" (25) . Erinnerungen an die Vergangenheit werden gedeutet, um die Lebenspraxis zu perspektivieren.

Davon ausgehend, dass die allgemeine Funktion des Bewusstseins die Produktion von Sinn ist, lässt sich konkretisieren, dass "historisches Denken [...] aus Zeit Sinn [macht]" (26) . Die historische Sinnbildung stellt diejenige Tätigkeit des Bewusstseins dar, die Erinnerungen an die Vergangenheit verzeitlicht. Im Prozess der Verzeitlichung werden Zeitzusammenhänge in Sinnzusammenhänge transformiert. Das Geschichtsbewusstsein strukturiert die Denkprozesse, die aus Zeit Sinn machen.

Jörn Rüsen begreift diese Bewusstseinstätigkeit als 'historisches Erzählen'. Historisches Erzählen drückt sich in der Tätigkeit aus, die Erfahrungen der Vergangenheit in der Gegenwart so zu deuten, dass Zukunft als Handlungsperspektive erschlossen wird (27). In diesem Sinn ist das historische Erzählen die das Geschichtsbewusstsein konstituierende Grundoperation. Es ist eine Form des Denkens, die es überhaupt erst rechtfertigt, historisches Bewusstsein als einen Teilbereich des allgemeinen Bewusstseins zu spezifizieren (28).

Historisches Lernen lässt sich demnach nicht als eine analoge Übernahme von historischem Wissen begreifen. Vielmehr werden durch die Auseinandersetzung mit vergangenheitsbezogenen Inhalten, spezifische historische Sinnbildungskompetenzen entwickelt (29). Historisches Lernen entwickelt eine mentale Bewusstseinsstruktur, die Vergangenheitserinnerung mit Sinnbezügen zur gegenwärtigen Problembewältigung auflädt.

 

3. Das Politikbewusstsein

Während sich die Geschichtsdidaktik mit Hilfe der Bewusstseinskategorie bereits zu einer Wissenschaft vom historischen Lernen erweitert hat, befindet sich die Politikdidaktik noch auf dem Weg zu einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin (30). Noch viel zu oft wird sie als eine Didaktik ausschließlich intendierter politischer Bildungsprozesse begriffen. Etwa wenn festgestellt wird, dass "politische Bildung [...] nicht Wissenschaft, sondern pädagogische bzw. andragogische Praxis" (31) sei. Demnach bediene sich die Politikdidaktik zwar wissenschaftlicher Erkenntnisse, verfüge als "Zwischenhandel" (32) aber selbst über keinen eigenständigen Forschungsgegenstand.

Eine entfaltete Konzeption des Politikbewusstseins kann dazu beitragen, dass sich die Politikdidaktik zu einer Wissenschaft des politischen Lernens weiter entwickelt. Die Kategorie 'Politikbewusstsein' hat das Potenzial, die unterschiedlichen politikdidaktischen Zugänge zu bündeln und dadurch zu einem Zentralbegriff der Politikdidaktik zu avancieren (33) .

Politik transformiert Individualinteressen in allgemeine Verbindlichkeit. Politische Herrschaft stellt eine Institutionalisierung dieses Vorgangs dar. Demzufolge lässt sich das Politikbewusstsein als derjenige Teilbereich des allgemeinen Bewusstseins verstehen, in dem der Mensch subjektive Vorstellungen über diesen Transformationsprozess aufbaut. Das Politikbewusstsein produziert Vorstellungen über politische Herrschaft. Politisches Denken bildet also nicht tatsächliche politische Herrschaftsstrukturen ab, sondern entwickelt konzeptuelles Deutungswissen (34) , welches den Prozess der Herstellung von kollektiver Verbindlichkeit subjektiv erklärbar und kritisierbar macht.

Als Politikbewusstsein kann derjenige Bereich des menschlichen Bewusstseins angesehen werden, in dem Vorstellungen über Politik aufgebaut werden. Im Politikbewusstsein reduziert der Mensch die komplexe politische Wirklichkeit in Sinnzusammenhänge. Als Politikvorstellungen entstehen subjektive Muster, durch die politische Denk- und Handlungsformen strukturiert werden (35). Das Politikbewusstsein verschafft dem Menschen Orientierungs- und Handlungssicherheit, indem es Vorstellungen über die Legitimität des Herstellungsprozesses von allgemeinen Verbindlichkeiten entwickelt.

Das Legitimieren ist die innere Logik, welche das politische Denken als einen Spezialfall des allgemeinen Denkens charakterisiert. Politisches Denken erzeugt eine "Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung" (36) . Das Legitimieren ist ein Erklärungs- und Rechtfertigungsvorgang zugleich. Im Politikbewusstsein entwickelt der Mensch sowohl seine Vorstellungen über das Zustandekommen von allgemein verbindlichen Regelungen als auch über die Anerkennungswürdigkeit von politischer Herrschaft. Der Glaube "an tatsächlich geltende oder gelten sollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen" (37) ist der Kern des Politikbewusstseins.

 

4. Historisch-politisches Bewusstsein

Geschichte und Politik lassen sich jeweils als Prozesse der Sinnbildung begreifen. Historische Sinnbildung entwickelt Zeitverlaufsvorstellungen, um Fragen an die Gegenwart durch Vergangenheitserinnerungen zukunftsfähig zu beantworten. Politische Sinnbildung entwickelt Herrschaftsvorstellungen, um den Transformationsprozess von individuellen Interessen in allgemeine Verbindlichkeit zu erklären. Das Geschichts- beziehungsweise das Politikbewusstsein bezeichnet mentale Teilstrukturen, die sich durch diese Denkprozesse aufbauen. Als Bereiche des allgemeinen Bewusstseins strukturieren sie die subjektive Konstruktion historischer und politischer Wirklichkeit. Geschichtsbewusstsein gibt kontingenter Zeiterfahrung Sinn. Das Politikbewusstsein macht Herrschaftsansprüche legitim.

In der Schnittmenge der beiden Fachperspektiven konstituiert sich mit dem historisch-politischen Bewusstsein das Reflexionsfeld der historisch-politischen Didaktik. Diese interessiert sich für die subjektiven Vorstellungen von der historisch-politischen Wirklichkeit als Ausgangspunkte und Ergebnisse von Lernprozessen.

Das historisch-politische Bewusstsein ist nicht statisch. Die durch Denkbewegungen aufgebauten Vorstellungen von der Wirklichkeit sind prozessual und werden beständig verändert oder bestätigt. Diese Bewusstseinsmobilität lässt sich als ein historisch-politischer Lernprozess verstehen, durch den sich die mentalen Strukturen permanent erweitern und umstrukturieren. Solange die Bewusstseinskapazitäten es erlauben, werden neue Erkenntnisse in die vorhandenen Schemata integriert. Sobald die historisch-politischen Erfahrungen nicht mehr assimiliert werden können werden die Denkfiguren grundlegend erneuert. Diese Konstruktivität macht das historisch-politische Bewusstsein lerntheoretisch relevant. Da der Wandel der mentalen Strukturen als eine Wirkung von Lernprozessen begriffen werden kann, stellt das historisch-politische Bewusstsein den zentralen Reflexionsgegenstand der historisch-politischen Didaktik dar.

Ausgehend vom Geschichts- und Politikbewusstsein lässt sich das historisch-politische Bewusstsein durch zwei differente Bezugnahmen entwickeln. Aus der Sicht des Geschichtsbewusstsein konstituiert sich historisch-politisches Bewusstsein als ein Überschneidungsfeld, in dem historisches Denken auf einen politischen Gegenstand bezogen wird. Als Teilstruktur des Geschichtsbewusstseins entsteht ein politikgeschichtliches Bewusstsein. In der Perspektive des Politikbewusstseins bildet sich das historisch-politische Bewusstsein, indem politisches Denken auf einen historischen Gegenstand gerichtet wird. So entsteht als Teilstruktur des Politikbewusstseins geschichtspolitisches Bewusstsein. Das historisch-politische Bewusstsein setzt sich aus den politikgeschichtlichen und den geschichtspolitischen Denkstrukturen zusammen.

 

5. Politikgeschichtliches Lernen

Im Geschichtsbewusstsein perspektivieren sinnhafte Zeitzusammenhänge die menschliche Lebenspraxis. Mit dem politikgeschichtlichen Bewusstsein prägt das Geschichtsbewusstsein jenen Teilbereich aus, in dem sich das historische Denken mit Fragen der Herrschaftslegitimation befasst. Politikgeschichtliches Denken verleiht den Vorstellungen von der Transformation individuellen Interesses in kollektive Verbindlichkeit eine zeitliche Kontinuität.

Jede politische Herrschaft muss den Nachweis erbringen, dass sie in der Lage ist, für eine ungewisse Zukunft kollektive Verbindlichkeit herzustellen. Die Argumentation mit Geschichte verschafft der Politik eine scheinbare Sicherheit. Der Verweis auf die historische Wirklichkeit soll politische Herrschaft auch für die Gestaltung zukünftiger Wirklichkeit legitimieren. Politikgeschichtliche Sinnbildung legitimiert Herrschaft, indem sie diese als ein Kontinuum darstellt. Die Erinnerung an die Vergangenheit wird so verzeitlicht, dass sie als Garant für die sinnhafte Erwartung der Zukunft dient.

Politikgeschichtliches Lernen findet statt, wenn sich Bewusstseinsstrukturen bilden, die Zeitzusammenhänge so sinnhaft machen, dass politische Herrschaft anerkennungswürdig beziehungsweise kritisierbar wird. Politikgeschichtliches Lernen lässt sich danach unterscheiden, wie der Zeitzusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft modelliert wird. Karl-Ernst Jeismann hat hierfür eine Unterscheidung der Denkoperationen vorgeschlagen (38). Er begreift historisches Lernen als eine Stufenfolge, die bei der "Wahrnehmung, Unterscheidung, Einordnung von Phänomenen" ansetzt und über die "Bedeutungszumessung und Beurteilung" bis hin zu "Wertungen und Einstellungen [reicht; D.L.] [...], die als Konsequenz bestimmte Verhaltensweisen nach sich ziehen" (39). Jörn Rüsen hat das Modell erzähltheoretisch erweitert. Ausgehend von der Erkenntnis, dass 'Erzählen aus Zeit Sinn macht' hat er mit dem traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Erzählen vier Sinnbildungsformen entwickelt (40).

In den folgenden Überlegungen wird das historische Lernen zeittypologisch unterschieden. Die Focusverlagerung auf die Zeit bleibt dem erzähltheoretischen Ausgangspunkt, dass historisches Denken Zeitzusammenhänge sinnhaft macht, verhaftet. Sie begreift als maßgebliches Sinnbildungskriterium jedoch nicht mehr die Form des Erzählens, sondern die Struktur von Zeitverlaufsvorstellungen, durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen Zusammenhang gebracht werden (41). Als Grundformen politikgeschichtlichen Lernens können dann ein zirkulärer, ein linearer und ein punktueller Typus unterschieden werden.

Durch zirkuläres politikgeschichtliches Lernen wird die Kompetenz erworben, politische Herrschaft durch ihr Überdauern im Wandel der Zeit zu legitimieren. Es wird die Denkfähigkeit erworben, politische Vorstellungen zustimmungswürdig zu machen, indem sie als 'Schon-Immer-So' dargestellt werden. Hierzu wird die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft so in Übereinstimmung gebracht, dass politische Herrschaft als zeitübergreifend vorgestellt werden kann. In dieser Form politikgeschichtlichen Lernens wird der Wandel politischer Systeme als eine Oberflächenerscheinung interpretiert, unter der das Wesen althergebrachter Herrschaft überdauert. "Zeit wird als Sinn verewigt" (42) .

Durch zirkuläres politikgeschichtliches Lernen können Denkprozesse erlernt werden, die politische Herrschaft als ein überzeitliches Phänomen begreifen, das als solches schon immer anerkennungswürdig war. Der Zeitzusammenhang zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wird dabei so versinnlicht, dass Herrschaft letztlich als wesenhaft und unhistorisch erscheint. In dieser Denkfigur wird eine politische Ordnung durch den Bezug auf Traditionen anerkennungswürdig gemacht. Die Denkstrukturen im politikgeschichtlichen Bewusstseinsbereich werden so eingerichtet, dass Herrschaft durch zirkuläre historische Sinnbildungen legitimiert werden kann. Der historisch-politische Lernende entwickelt die Kompetenz, Politikvorstellungen zeitlich zu überliefern.

Zudem können durch zirkuläres politikgeschichtliches Lernen grundlegende und zeitübergreifende Einsichten gewonnen werden. Bei der Erinnerung an Vergangenes stehen dann nicht mehr die konkreten historischen Ereignisse und Bedingungen im Vordergrund. Vielmehr dient die Rekonstruktion von vergangenen Erfahrungen der Begründung und Entwicklung allgemeiner Prinzipien. Die Geschichte wird vergegenwärtigt, da sie Ereignisse repräsentiert, aus denen der Sinn und die Bedeutung grundsätzlicher Werte abgeleitet werden können (43).

Durch lineares politikgeschichtliches Lernen wird die Kompetenz erworben, politische Herrschaft durch ihre Entwicklung im Wandel der Zeit zu legitimieren. Es wird gelernt Herrschaft entwicklungslogisch darstellen. Dafür werden Zeitzusammenhänge so strukturiert, dass gegenwärtige und zukünftige Herrschaft als legitime Folge vergangener Herrschaft erscheint. Lineare politikgeschichtliche Kompetenz ermöglicht es, den Zeitverlauf als politisches Fortschreiten zu interpretieren. Politikvorstellungen werden legitimiert, indem sie als Fortschritt gegenüber früheren Herrschaftsformen gedeutet werden.

Durch den linearen Lerntypus wird die Denkfähigkeit erschlossen, die historische Prozesshaftigkeit als politische Legitimationsquelle zu nutzen. Politikgeschichtlich wird gelernt, wie politische Herrschaft in einen ursächlichen Zusammenhang zur Geschichte gestellt werden kann.

Durch punktuelles politikgeschichtliches Lernen wird die Kompetenz erworben, politische Herrschaft durch Momente aus dem Wandel der Zeit zu legitimieren. Dabei wird die Geschichte als Reservoir singulärer Erfahrungen genutzt, die als Analogien für gegenwärtige politische Probleme betrachtet werden. Der punktuelle Lerntypus entwickelt die Fähigkeit, Herrschaft durch den Vergleich mit historischen Beispielen zustimmungsfähig zu machen.

Punktuelles politikgeschichtliches Lernen entwickelt die Fähigkeit, politische Problemgehalte der Gegenwart mit Konstellationen früherer Epochen zu vergleichen. Die historischen Analogien zur politischen Gegenwart sind dabei nicht gleich, sondern vergleichbar. Punktuelle politikgeschichtliche Denkfähigkeit bezieht sich sowohl auf Ähnliches als auch auf Differentes. Durch politikgeschichtliches Lernen entsteht also auch die Fähigkeit, historische Erfahrungen als Alternativen zu gegenwärtigen Politikvorstellungen zu interpretieren (44). Die 'Geschichte historischer Verlierer' (Benjamin) sowie verebbte historische Prozesse und Institutionalisierungen können durch punktuelle Sinnbildungen für gegenwärtige politische Legitimationen genutzt werden.

Punktuelles politikgeschichtliches Lernen erschließt die denkstrukturelle Fähigkeit, durch zeitliches Vergleichen politische Herrschaft zu legitimieren beziehungsweise zu delegitimieren. Es wird gelernt, wie gegenwärtige Politikvorstellungen durch historische Analogien unterstützt beziehungsweise in Frage gestellt werden können.

 

6. Geschichtspolitisches Lernen

Im Politikbewusstsein werden Vorstellungen über die Genese von kollektiver Verbindlichkeit aufgebaut. Inhaltlich lässt es sich nach Feldern unterteilen, für die jeweils kollektive Verbindlichkeiten hergestellt wird. Neben Bereichen wie der Wirtschaftspolitik, Gesundheitspolitik, Umweltpolitik ist auch die Geschichtspolitik ein Politikfeld, in dem Individualinteressen in verbindliche Regelungen transformiert werden.

In einer differenzierten und pluralen Gesellschaft lässt sich auch aus der Geschichte keine homogene Identität mehr gewinnen. Verschiedene interessengeleitete Fraktionen konkurrieren darum, ihre Geschichtsdeutung allgemein verbindlich durchzusetzen. Geschichtspolitisch relevant sind "die Auseinandersetzungen um die Interpretation der Vergangenheit unter dem Aspekt von [...] Auseinandersetzungen um Geschichtsbilder und um Versuche, ein gleichsam 'kollektives' Geschichtsbewusstsein zu prägen" (45) .

Als geschichtspolitisches Bewusstsein kann damit der Teilbereich des Politikbewusstseins begriffen werden, der Vorstellungen darüber aufbaut, wie innerhalb einer sozialen Gruppe kollektiv verbindliche Geschichtsdeutungen hergestellt werden. Im geschichtspolitischen Bewusstsein befasst sich das politische Denken mit Geschichte. Es werden Vorstellungen davon entwickelt, wie partielle Geschichtsinterpretationen in allgemein verbindliche Geschichtsdeutungen transformiert werden. Dieser geschichtspolitische Prozess kann sowohl als autoritäre Durchsetzung eines Geschichtsbildes als auch als demokratisches Produkt pluraler Geschichtsdeutungen vorgestellt werden.

Durch geschichtspolitisches Lernen wird gelernt, wie der Prozess der Transformation von interessegebundenen Geschichtsbildern in kollektives Geschichtsbewusstsein anerkennungswürdig gemacht werden kann. Geschichtspolitisches Lernen entwickelt die Kompetenz, am politischen Streit um verbindliche Geschichtsdeutungen zu partizipieren. Die grundlegende Sinnbildungsform des geschichtspolitischen Lernens ist das Legitimieren. Die Besonderheit der geschichtspolitischen Legitimation liegt darin, dass sie innerhalb des Politikfeldes 'Geschichte' tätig ist. Es wird erlernt, Geschichtsdeutungen allgemein verbindlich zu machen.

Geschichtspolitisches Lernen lässt sich in einen autokratischen und einen demokratischen Lerntypus unterscheiden. Durch autokratisches geschichtspolitisches Lernen erlernt der Mensch, dass er unfähig ist, Geschichtsdeutungen zu produzieren, die allgemein bindend sein könnten. Es werden Legitimationsmuster erlernt, die es sinnvoll erscheinen lassen, dass kollektiv bindende Geschichtsvorstellungen von einer Minderheit entwickelt und von der Mehrheit übernommen werden. Autokratisches Lernen erschließt die Vorstellung, dass Geschichtsdeutungen historische Wahrheiten wiedergeben. Kollektive historische Identität erhält den Anschein der Natürlichkeit.

Durch demokratisches geschichtspolitisches Lernen erlernt der Mensch, dass er seine interessengebundenen Deutungen in den kollektiven Identitätsbildungsprozess einer sozialen Gruppe einbringen kann. Er entwickelt Denkstrukturen, durch welche die Beteiligung an der Verbindlichmachung von Geschichtsdeutungen legitimiert wird. Es wird gelernt, wie subjektive historische Sinnbildungen in den politischen Streit um die Deutung der Vergangenheit eingebracht werden können.

Durch demokratisches geschichtspolitisches Lernen entwickelt sich die Fähigkeit, Vergangenheitsdeutungen prüfend zu begegnen. Geschichtsvorstellungen, die als 'historische Wahrheit' präsentiert werden, können so als interessensgebundene Interpretationen verstanden werden (46). Die demokratische Sinnbildung erkennt die grundsätzliche Kontroversität möglicher Geschichtsdeutungen als Ausdruck pluraler gesellschaftlicher Interessen an. Demokratisches geschichtspolitisches Lernen immunisiert gegen Homogenitätsansprüche historischer Legitimation und Identifikation.

 

7. Historisch-politische Bildung

Historisch-politisches Lernen transformiert Erfahrungen mit Geschichte und Politik in historisch-politisches Bewusstsein. Es lässt sich als ein Vorgang begreifen,

  • an dem Lernende lebensweltlich beteiligt sind, indem sie Erfahrungen machen,
  • in dem sich Lernende Lerngegenstände aneignen, indem sie Erfahrungen verarbeiten,
  • der Lernenden historisch-politische Kenntnisse vermittelt und
  • der Lernenden historisch-politischen Denkstrukturen erschließt.

Dabei interessiert nicht nur die Vermittlung von historisch-politischen Lerngegenständen in das Bewusstsein, sondern auch die dadurch bewirkte Umstrukturierung der historisch-politischen Sinnbildungsformen. Die didaktische Reflexion in der Erschließungsdimension interessiert sich nicht mehr für den Gegenstand selbst, sondern für die Struktur, in der historisch-politische Probleme gedeutet werden. Didaktisch muss deshalb danach gefragt werden, welche politikgeschichtlichen und geschichtspolitischen Sinnbildungskompetenzen durch den Lernprozess erschlossen werden.

Mit den politikgeschichtlichen und geschichtspolitischen Lerntypen Kategorien zur Verfügung durch die der Wandel historisch-politischer Bewusstseinsstrukturen didaktisch reflektiert werden kann. Die Lerntypen stellen der historisch-politischen Bewusstseinsanalyse Kriterien zur Verfügung, durch die im Lernprozess Denktätigkeiten identifiziert werden können. Bei der Untersuchung historisch-politischen Lernens lässt sich so bestimmen, welche historisch-politischen Sinnbildungsmodi sich durchsetzten beziehungsweise welche Mischungsverhältnisse sich ausprägen. Keinesfalls sollte die analytische Begrifflichkeit mit der realen Lebendigkeit historisch-politischen Lernens verwechselt werden.

Zur Orientierung und Partizipation in der Gesellschaft benötigt der "mündige Bürger" sowohl politikgeschichtliche als auch geschichtspolitische Kompetenzen. Es steht außer Frage, dass politische Probleme durch historisch fundiertes Handeln besser bewältigt werden können als durch gegenwartszentrierte und kurzsichtige Reaktionen. Die historisch-politische Bildung hat deshalb die Aufgabe, Wege aufzuzeigen, wie die Vergangenheit auf politische Gegenwartsfragen bezogen werden kann; entweder indem allgemeine Prinzipien begründet werden oder indem genetische Faktoren beleuchtet werden oder indem historische Analogien aufgezeigt werden.

Historisch-politische Bildung, die versucht, Deutungen aus der Geschichte zu zementieren, steht im Verdacht, Lernende zu überwältigen. Eine demokratische geschichtspolitische Bildung lehrt, dass die politische Geschichtsdeutung keine endgültigen Fakten vermittelt, sondern einen offenen und nur vorläufig abgeschlossenen Prozess darstellt, der durch neue Erkenntnisinteressen jederzeit wieder neu aufgenommen werden kann. Lernende sollten deshalb zur selbstständigen Reflexion von und zur aktiven Beteiligung an geschichtspolitischen Deutungskontroversen befähigt werden.

 

Anmerkungen

(1) Der Beitrag basiert auf der kürzlich erschienenen Studie: Dirk Lange, Historisch-politische Didaktik. Zur Begründung historisch-politischen Lernens, Schwalbach/Ts. 2004.

(2) Vgl. Steinbach 2001, 5; Schörken 1981, 232f; Lange 2003c.

(3) Vgl. Jeismann 1978; Schörken 1999.

(4) Vgl. Bergmann 1999; Rüsen 1989; Pandel 1997.

(5) Vgl. Sutor 1997; Steinbach 1998.

(6) Vgl. Hedtke 2003, 120.

(7) Vgl. Weniger 1965.

(8) Vgl. Bergmann/Schneider 1997, 255ff..

(9) Vgl. Bundeszentrale 1973.

(10) Mommsen 1973, 96; vgl. a. Conze 1973.

(11) Koselleck 1972, 25.

(12) Jeismann/Kosthorst 1973.

(13) Vgl. Messerschmid 1963.

(14) Vgl. Behrmann 1974; Hug/Quandt 1975.

(15) Vgl. Süssmuth 1972.

(16) Vgl. ebd.; ders. 1973; Behrmann/Jeismann/Süssmuth 1978; Schörken 1978; Jeismann 1980.

(17) Zur Diskussion vgl. Jeismann 1988.

(18) Bergmann/Schneider 1997, 256.

(19) Vgl. Lucas 1972, 149; Jeismann 1975; Pandel 1978.

(20) Bergstraesser 1963, 9.

(21) Jeismann 1978, 32.

(22) Luhmann 1972, 92.

(23) Jeismann 1980, 183.

(24) Steinbach 2001, 6; vgl. a. Schörken 1972, 97; Weymar 1967.

(25) Bergmann 1996, 328.

(26) Rüsen 1990, 11.

(27) Vgl. Rüsen 1985, 68.

(28) Vgl. Quandt/Süssmuth 1982; Rüsen 1985, 65.

(29) Schörken 1972, 96f.; Rüsen 1997a, 261.

(30) Vgl. GPJE 2002 (darin bes. d. Beiträge v. Wolfgang Sander, Georg Weißeno und Peter Massing).

(31) Weihnacht 1999, 73.

(32) Giesecke 1993, 35.

(33) Vgl. Massing 1998, 149; Grammes 1998, 269ff.; Lange 2004; 35ff.

(34) Vgl. GPJE 2004, 14.

(35) Vgl. Adorno 1973, 1.

(36) Weber 1984, 54.

(37) Ders. 1985, 200.

(38) Vgl. Jeismann 2000, 63f.

(39) Jeismann 1988, 10.

(40 Vgl. Rüsen 1990 und zu den historisch-politischen Lernformen Rüsen 1989, 126ff.

(41) Vgl. bspw. Rüsen 1997b, 29.

(42) Rüsen 1989, 127.

(43) Vgl. bspw. Lange 2003a, 5f.

(44) Vgl. Sutor 1997, 326.

(45) Steinbach 2001, 6; vgl. a. Reichel 1995 u. Jeismann (1981, 6), der von einem "Kampf um das Geschichtsbewußtsein als Ausdruck unterschiedlicher Gegenwartsorientierungen" spricht

(46) Vgl. Jeismann 2000, 52.; Vgl. Lange 2003b.

A
 

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Pandel, Hans-Jürgen (1997): Geschichte und politische Bildung

Die Verhältnisse von Geschichte zur politischen Bildung und von politischer Bildung zur Geschichte stellten sich in den letzten 40 Jahren stets als widersprüchlich dar. Der Grund liegt darin, dass eine Gemeinsamkeit postuliert wurde, obwohl Diskrepanzen deutlicher zutage traten. Erst auf der Grundlage der Unterschiedlichkeiten lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen. Das Verhältnis von Geschichte und politischer Bildung stellt sich auf der Ebene der Disziplinen, der Unterrichtsfächer, der Methoden und der Gegenstände dar.

 

1. Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft

a) Bereits auf der Ebene der Bezugsdisziplinen sind Asymmetrien unverkennbar. Während Geschichtsunterricht in der Geschichtswissenschaft eine eindeutige Bezugsdisziplin besitzt, greift das Fach Sozialkunde/Politik auf Politologie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre zurück. Politologie hat sich aber in den letzten Jahren in dieser Trias zur Leitdisziplin entwickelt. Während historisches Lernen sich stärker auf die Bezugsdisziplin Geschichtswissenschaft bezieht, geht politisches Lernen mehr von der erfahrenen politischen Lebenswelt aus. Das eine Fach ist mehr disziplinär, das andere mehr erfahrungsorientiert.

b) Hemmend für eine Zusammenarbeit wirkte sich auch die Ansicht aus, Geschichte und Politologie unterschieden sich durch unterschiedliche Ausschnitte von Wirklichkeit. Die geschichtstheoretische wie die methodologische Diskussion der Politologie haben diese Ansicht aber als unzutreffend erwiesen. Weder kann man der einen Disziplin die Vergangenheit, noch der anderen die Gegenwart zuordnen. Auch die angenommene Zuständigkeit der Geschichtswissenschaft für "die Geschichte" und die der Politikwissenschaft für die "gegenwärtige Lebenswelt" ist unzutreffend. Gegenwart ist ebenso eine Kategorie der Geschichte, wie sich Politik auch der Vergangenheit zuwenden kann.

c) Ebenfalls unzutreffend ist die Annahme von disziplinunabhängigen Gegenständen, auf die sich dann die einzelnen Disziplinen richten müssten. Es gibt keine vorwissenschaftlichen "Gegenstände an sich", die dann nur durch die unterschiedlichen Disziplinen [/S. 320:] erklärt werden müssten. Es ist wissenschaftstheoretisch nicht haltbar, dass eine pädagogische Vereinbarung, sich mit den gleichen Gegenständen zu beschäftigen, schon Integration und politische Bildung ermögliche. Demgegenüber ist festzustellen, dass Gegenstände sich erst durch die verschiedenen disziplinären Sichtweisen konstituieren. "Krieg" ist kein disziplinunabhängiger Gegenstand, sondern je nach disziplinärer Sicht erhalten wir verschiedene Gegenstände, auch wenn die einzelnen Disziplinen den gleichen umgangsprachlichen Namen dafür verwenden.

d) Als Wissenschaftsdisziplinen bzw. Unterrichtsfächer sind "Fächer" spezifische Sichtweisen auf Wirklichkeit, die sich zum Zweck wissenschaftsförmiger Rationalität an Methoden gebunden haben. Wenn Geschichts- und Politikwissenschaft Beiträge zur Orientierung in der Gegenwart leisten sollen, ist es notwendig, dass sie ihre eigenen Fragestellungen und ihre eigenen methodischen Zugriffe nicht aufgeben. Es kommt darauf an, dass in der politischen Bildung gelernt wird, sich der einzelnen Sichtweisen auf Welt zu bedienen.

 

2. Politische Bildung

Politische Bildung ist nicht identisch mit den Erkenntnissen von Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie etc. Zum Zwecke von Bildung müssen die Ergebnisse einer didaktischen Reflexion unterzogen werden. Das geschieht auf drei Ebenen.

(1) Für Politische Bildung sind zunächst und im engeren Sinne Geschichts- und Politikunterricht (bzw. Sozialkunde) zuständig. Sie liefern grundlegende Sach- und Zeitorientierung.

(2) Vom Anspruch her ist politische Bildung aber Unterrichtsprinzip und deshalb sind prinzipiell alle Fächer daran beteiligt. Politische Bildung als Unterrichtsprinzip ist die "permanente, in der didaktischen Konzeption jedes Faches wie bei der didaktischen Planung der einzelnen Unterrichtsthemen mit zu reflektierende Aufgabe aller Fächer" (Sander 1989, 163). In dieser Reflexion wird die politische Dimension des jeweiligen Faches herausgearbeitet, d. h. es wird bestimmt, welchen Beitrag das jeweilige Fach einschließlich seiner Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse zur Regelung der herrschaftsgeordneten Angelegenheit menschlicher Gemeinschaften leistet. Der Beitrag der politischen Dimension erschließt sich in drei Hinsichten. (a) Die Reflexion der politischen Dimension liefert eine vertiefte Kenntnis des jeweiligen Fachgegenstandes. So liegt beispielsweise die politische Dimension der französischen Menschenrechtserklärung im Problem der Universalisierbarkeit; der Nationsbildungsprozess des 19. Jahrhunderts steht in Verbindung mit der Reaktivierung von Ethnizität bei gleichzeitig zunehmender weltweiter Migration etc. Angesichts der wieder zunehmenden Personalisierung im Geschichtsunterricht ist erneut daran zu erinnern, dass in dem Verfahren der Personalisierung die Gefahr der politischen Apathie steckt. (b) Politische Bildung als Prinzip erschließt Aspekte des Politischen, die nur von den jeweiligen Fachdisziplinen erhoben werden können. Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht können besser als andere Disziplinen die Wirkung langandauernder Mentalitäten explizit machen. Alltagsgeschichte verdeutlicht Wahrnehmungsmuster alltäglichen Handelns, die politisches Handeln beeinflussen, ohne dass sie erkannt und diskutiert werden. (c) Politische [/S. 321:]Bildung als Prinzip orientiert die fachspezifischen Inhalte auf die Grundprobleme ("Schlüsselprobleme") der gegenwärtigen Situation, so dass diese Probleme von unterschiedlichen Disziplinen bearbeitet werden können.

(3) Politische Bildung ist aber nicht nur schulische Aufgabe. Als politisch gewollter Auftrag ist sie in den Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung institutionalisiert. "Die Bundeszentrale hat die Aufgabe, durch Maßnahmen der politischen Bildung im deutschen Volk das Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewußtsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken" (§ 2 des Erlasses vom 8. Dezember 1987 über die Bundeszentrale für Politische Bildung).

 

3. Integration und Kooperation

Eine Aufgabe, die in verschiedene Disziplinen fällt, an verschiedenen Themen bearbeitet wird, von Lehrern mit unterschiedlichem Fachhabitus durchgeführt wird, erzeugt unweigerlich das Bemühen, die Aktivitäten zu bündeln und divergierende Tendenzen zu vermeiden. Die bisher vorgelegten Versuche, die an der politischen Bildung im engeren Sinne beteiligten Fächer (Geschichtsunterricht, politische Bildung, Geographie) zu einem Fach zu verschmelzen (Hessische Rahmenrichtlinien 1972) oder durch Bildung verschiedener Unterrichtstypen zu einer Kooperation zu kommen (Behrmann u. a. 1978), dürften in der Praxis als gescheitert gelten. Weder Gesellschaftslehre als Fach noch ein sogenannter kooperativer Unterricht hat es bisher vermocht, thematische Integration und unterrichtliche Kooperation herzustellen. Aber auch Gesellschaftslehre als Lernbereich steht vor den gleichen Problemen, die die einzelnen Fächer haben, wenn sie keinem schulischen Lernbereich zugeordnet sind. In den letzten Jahren wird wieder der fachübergreifende Unterricht diskutiert, dessen Probleme allerdings über die politische Bildung hinausreichen. Überzeugende Ansätze liegen nicht vor.

 

4. Historisch-politisches Bewusstsein

Politische Bildung hat den Zweck, Schülern wie Erwachsenen eine Orientierung in der Gegenwart und für die absehbare Zukunft zu geben. Geschichte liefert Orientierung in der Zeit und vermag keine Orientierung für unmittelbares Handeln zu geben. Politik dagegen liefert Orientierung für politisches Handeln, vermag aber keine Orientierung in der Zeit zu liefern. Das Aufzeigen von Handlungsalternativen und Entscheidungen in den je aktuellen Umständen leistet Politik.

Aus der Geschichte lassen sich keine unmittelbaren Handlungsorientierungen für die Gegenwart gewinnen, wie es die konservative Sicht will; es lässt sich aber auch nicht unmittelbar handeln, ohne die geschichtlichen Bedingungen des Handelns zur Kenntnis zu nehmen, wie es voluntaristische und technokratische Positionen wollen.

Das Ziel von politischer Bildung wird meist mit "historisch-politischem Bewusstsein" angegeben. Dieser Bindestrichbegriff verdeckt die unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Operationen des historischen Bewusstseins und des politischen. Diese beiden grundsätzlich unterscheidbaren Bewusstseinsstrategien richten sich auf unterschiedliche Bereiche. Politisches Bewusstsein ist auf Handeln bezogen und richtet sich vorwiegend auf die Dimension von Macht und Herrschaft, die das Verhältnis von Menschen zuein[/S. 322:]ander strukturiert. Unter dem Gesichtspunkt von Macht und Herrschaft sind die Beziehungen der Menschen untereinander asymmetrisch und bedürfen deshalb der Legitimation. Politisches Bewusstsein zielt auf die Praxis bestimmter Handlungsanweisungen und weiß um Bedingungen und Möglichkeiten politischer Handlungsstrategien in herrschaftsstrukturierten Gesellschaften.

Ein solches direkt auf Handeln orientiertes Bewußtsein ist nicht Gegenstand des historischen Bewußtseins. Historischem Bewußtsein geht es um die Kontingenzerfahrungen der Lebenspraxis und versucht, sie zu bewältigen. Es deutet die kontingenten Ereignisse, indem sie sie zu einem sinnvollen Zeitzusammenhang, zu einer Geschichte verbindet. Erst in einer Geschichte machen verschiedene Ereignisse Sinn. Durch Geschichte können die Menschen ihre Lebensverhältnisse "so ansehen ..., als hätten sie sie gewollt" (Rüsen 1989). Sie geben dem Ereignis denkend einen Sinn. Historisches Bewusstsein gibt deshalb dem politischen Handeln die notwendige Orientierung, die für ein Handeln im Zeitverlauf unerlässlich ist.

Historisches Bewusstsein zielt auf Handlungsorientierung in der Zeit, politisches Bewusstsein auf Bedingungen und Möglichkeiten des Handelns selbst. Auf diese Weise sind beide Bewusstseinsstrategien aufeinander verwiesen. Dass beide Aspekte des historisch-politischen Bewusstseins aufeinander bezogen werden können, dafür sind bestimmte Voraussetzungen unerlässlich. Geschichte muss sich zur Politik so verhalten, dass sie deren Orientierungsprobleme wirklich aufgreift und nicht auf die ästhetischen und exotischen Elemente ausweicht und diese gegen die politische Orientierungsfunktion ausspielt. Politisches Bewusstsein darf dagegen die Reflexion praktischen Handelns auf gegenwartsgebundene Mittel nicht verkürzen, denen Vergangenheitsanalyse und Zukunftsdeutung zur politischen Rhetorik verkommt, ohne Orientierungsfragen "über den Tag hinaus" ernst zunehmen.

 

5. Schlüsselprobleme und Qualifikationen

Um politische Bildung zu bewirken und nicht nur politisches Wissen zu vermitteln, muss das historisch-politische Wissen durch ein didaktisches Bezugsraster auf Bildung hin strukturiert werden. Es bietet sich ein zweistufiges Verfahren aus historisch-politischen Schlüsselproblemen und politischen Qualifikationen an.

1) Mit den Schlüsselproblemen liegt ein sinnvoller Ansatz vor, gegenwärtige Probleme zum Ausgangspunkt zu machen. Schlüsselprobleme sind gegenwärtige historisch-politische Probleme von struktureller Aktualität. Es sind diejenigen Probleme einer jeden Gegenwart, die für das humane Leben einer Gesellschaft lebens- und überlebenswichtig sind. Diese Probleme sind über die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Parteiungen hinweg als Probleme konsensfähig, obwohl ihre Lösungsvorschläge und -strategien kontrovers sind: Menschenrechte, Umwelt, Meinungsfreiheit in der Mediengesellschaft etc. Schlüsselprobleme helfen, die einzelnen Unterrichtsfächer auf Gegenwartsprobleme hin zu orientieren. Bei der Sozialkunde ist das sowieso der Fall, wie die Konzepte des Fallprinzips und der Konfliktorientierung deutlich machen. Aber auch die wenig offene Werteerziehung macht es, da sie nicht unbefragte, sondern die in der Gegenwart erodierenden Werte ins Zentrum stellt. Die Geschichtsdidaktik hat seit den siebziger Jahren, veranlasst durch die sozialgeschichtliche Wende der Geschichtswissenschaft, den Schritt zum Gegenwartsbezug als Ausgangspunkt für historische Auswahl [/S. 323:]getan. Diese Probleme werden unter den verschiedenen Sichtweisen der Disziplinen zu unterschiedlichen Gegenstandskonstitutionen führen. Schlüsselprobleme leiten in Gegenwarts- und Problemorientierung der politischen Bildungsprozesse. Konkrete Probleme der Schüler wie aktuelle gesellschaftliche Probleme sind Ausgangspunkt für Curriculumkonstruktionen und Unterrichtsplanung.

2) Als Prozesse politischer Bildung müssen Lernprozesse die Schüler und Schülerinnen einbeziehen und die Schlüsselprobleme unter dem Blickwinkel der Lernenden und deren Lebenswelt sehen. Am konsequentesten leistet dies das Konzept der Qualifikationen, das das Land Nordrhein-Westfalen in seinen Richtlinien verfolgt. Qualifikationen verbinden den Inhalts- und Verhaltensaspekt. Der Inhaltsaspekt "Friedensordnungen" wird mit einem Verhaltensaspekt "Fähigkeit und Bereitschaft ... für eine gerechte Friedensordnung ... einzutreten, auch wenn dadurch Belastungen für die eigene Gesellschaft entstehen" (Qualifikation 10 der "Richtlinien für den Politikunterricht" in NRW). Solche Verhaltensaspekte wie Ideologiekritik, Konfliktfähigkeit, altruistische Parteinahme, aktive Friedensfähigkeit etc. machen erst die Dimensionen politischer Bildung deutlich. Die Verhaltensweisen beanspruchen, keine Verhaltensvorschriften, sondern Verhaltensdispositionen zu sein. Das soll durch den Qualifikationsaspekt "Fähigkeit und Bereitschaft" ausgedrückt werden. Allerdings sind bei der Formulierung "Bereitschaft" Zweifel an deren Offenheit anzumelden. Auch wenn Bereitschaft in vielen Qualifikationen durchaus sinnvoll erscheint, sind doch Bedenken angebracht, ob eine offene demokratische Gesellschaft über "Möglichkeit" hinaus zu "Bereitschaft" gehen darf, um damit ein bestimmtes Verhalten festzulegen.

 

Literatur

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Stein, Edith (1982): Gesellschaftslehre als fächerübergreifender Unterricht. Frankfurt a/M.: Suhrkamp.

 

Pandel, Hans-Jürgen (2001): Fachübergreifendes Lernen – Artefakt oder Notwendigkeit?

Die heutige Diskussion über fachübergreifendes Lernen steht in einer längeren Tradition. Sie hat Konzepte von Gesamtunterricht und kooperativem Unterricht (1) zu Vorläufern. Mit Fächern wie "Gemeinschaftskunde" und "Gesellschaftslehre" (2) liegen auch praktische Großversuche vor. Sozialkunde scheint ein bewährter Ansatz fachübergreifenden Lernens zu sein, der selbst zum (Schul-)Fach geworden ist. Das hat Sozialkunde aber nicht davor bewahrt, der Forderung fachübergreifenden Lernens zu entgehen. In den 70er Jahren war die Diskussion um die Begriffe Integration, Kooperation und Eigenständigkeit zentriert (3). Heute tritt "fächerübergreifender (bzw. fachübergreifender oder fächerverbindender) Unterricht" an ihre Stelle. Vor über 20 Jahren (4) habe ich mich an dieser Debatte beteiligt, Grund genug, die eigenen Positionen zu überprüfen und auf neue Tendenzen zu reagieren. Auf Grund dieser jahrzehntelangen Diskussion sind nicht nur die theoretischen Prämissen, sondern auch die ihnen folgende Praxis beurteilbar.

Der Forderung nach fachübergreifendem Lernen liegt die Annahme zu Grunde, dass die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen und damit auch die mit ihnen korrespondierenden Schulfächer zu Erkenntnisgrenzen geworden seien. Eine Atomisierung der Fächer habe die Einheit der Wissenschaft bzw. der wissenschaftlichen Rationalität zerbrochen. Auf Grund dieser Entwicklung benötigten wir mit "fachübergreifendem Lernen" eine pädagogisch-didaktische Reparaturinstanz.

Unter drei Gesichtspunkten will ich untersuchen, ob die Forderung nach fachübergreifendem Lernen eine didaktische Notwendigkeit oder ein pädagogisches Artefakt - oder vielleicht beides gleichzeitig - ist:

  • Wissenschaftstheoretische Ebene
  • Wissenschaftshistorische Ebene
  • Wissenssoziologische Ebene.

Das Problem der Integration, Kooperation und Eigenständigkeit der Unterrichtsfächer sowie des fächerübergreifenden Unterrichts ist weniger ein bildungspolitisches als ein didaktisches Problem. Es hat viel damit zu tun, wie die Fachdidaktiken sich selbst begreifen und wie sie die Wissenschaftsdisziplinen, auf die sie sich beziehen, auffassen. Ich deute nur an, dass ich Fachdidaktiken - gleich ob naturwissenschaftlicher oder geisteswissenschaftlicher Herkunft - für Kulturwissenschaften halte. Im Moment verstehen sich allerdings ihre Vertreter entweder als Interessenvertreter ihrer "Bezugsdisziplin" oder als Anwälte einer imaginären - wie ich meine - "pädagogischen Wirklichkeit".

Diese Konzeption von Fachdidaktik hat die Befunde von Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenssoziologie zur Kenntnis zu nehmen. Sie kann nicht so tun, als wenn deren Argumente sie nichts angingen.

 

1. Wissenschaftstheorie

Ein für die Didaktik noch immer kaum erschlossener Argumentationszusammenhang liegt in der Wissenschaftstheorie vor. Versuche der Integration von Fächern sollten sich deshalb über Voraussetzung, Struktur und Logik von "Fächern" Klarheit verschaffen. Jenseits ihres organisatorischen Status als Institutionen begründen "Fächer" sich in ihrem wissenschaftshistorischen Prozess auf gegenstandstheoretischer, methodologischer und konstitutionstheoretischer Ebene. Von diesen drei sich durchdringenden Ebenen soll geprüft werden, welche hemmenden oder fördernden Bedingungen für einen fachübergreifenden Unterricht vorliegen.

(1) Auf der gegenstandstheoretischen Ebene wird fachübergreifendes Lernen durch die Einsicht erleichtert, dass die einzelnen Fachdisziplinen sich nicht durch eine besondere Dignität ihres dinglich verstandenen oder phänomenologisch wahrgenommenen Gegenstandes unterscheiden. Gegenstände von Wissenschaft sind nicht irgendwelche von vornherein gegebenen Klassen von separaten Phänomenen. Die Verschiedenheit der Wissenschaften resultiert nicht daraus, dass sie einen bestimmten vorgängig gegebenen Gegenstand, eine bestimmte exklusive Klasse von Phänomenen, zu ihrem ausschließlich von ihnen zu untersuchenden Gegenstand machen. Auf alle Dinge, Personen und Ereignisse in der Welt können sich alle Wissenschaften forschend beziehen.

Historiker, Politologen, und Literaturwissenschaftler (5) - um nur einige zu nennen -, die die Praxis ihrer Disziplin reflektieren, machen deutlich, dass ihre Wissenschaften sich nicht durch einen vorab gegebenen Gegenstand definieren. So kann in der Praxis des Historikers alles zum historischen Gegenstand werden, da alle Sachverhalte eine "historische Dimension" haben. Die Geografie richtet ihre Aufmerksamkeit auf die räumliche Anordnung der Phänomene in einem Gebiet und nicht so sehr auf die Phänomene selbst. Werner Hofmann hatte bereits vor Jahren die Definition einer Wissenschaft von einem Gegenstand her verworfen: "Wissenschaft ist durch nichts außer ihr Gegebenes, gleichsam dinglich, gesichert" (6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Phänomene, denen sich Wissenschaft zuwendet, eine "unterschiedliche materielle Dichte" besitzen. Manche "weisen eine dinglichere Gestalt auf als andere" und manche "existieren letztlich nur", weil Wissenschaftler sie "repräsentieren und reproduzieren". Für die erste Gruppe steht "Wasser", für die andere "Arbeitslosenrate" und "Wohlstandsindikatoren" (7).

Nehmen wir als Beispiel einen konkreten Gegenstand an. Auf einem freien Feld steht ein einsamer Baum. Die einzelnen Disziplinen sehen diesen "Gegenstand" unter unterschiedlichen Blickwinkeln. Für den Biologen ist der Baum Gegenstand botanischer Betrachtung. Die Geografie geht auf die Raumbeziehungen dieses Standortes ein. Die Politik bzw. Sozialkunde kann ihn als Gegenstand einer Bürgerinitiative betrachten: "Kein Baum für den Golfplatz/Parkplatz". Für den Historiker handelt es eine 400 Jahre alte Femelinde, vor der Recht gesprochen wurde. Das Beispiel zeigt, dass sich die Disziplinen nicht anderen Gegenständen zuwenden, sondern die gleichen Gegenstände unter verschiedenen Fragestellungen betrachten.

Ein Blick auf die Disziplin der Friedens- und Konfliktforschung macht deutlich, dass ein Fach nicht lediglich durch einen konkretistisch gefassten "Gegenstand" definiert wird. "Kriege" und "Konflikte" waren und sind "Gegenstände" etablierter Disziplinen. Die Friedens- und Konfliktforschung geht diese Gegenstände unter eigenen, neueren Fragestellungen an, wenn sie nach den gesellschaftlichen Bedingungen des Friedens, der strukturellen Gewalt oder nach der organisierten Friedenslosigkeit fragt.

Da die Vergangenheit kein Monopolobjekt der Geschichtswissenschaft und die Gegenwart keines der Politologie oder Soziologie ist, kann jede vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gesellschaft von allen diesen Disziplinen zum Objekt ihrer Forschung gemacht werden. Ähnlich verhält es sich mit den Gegenständen "Geschichte" und "Vergangenheit". Auch sie ergeben allein keine tragfähige Basis zur Definition einer bestimmten Wissenschaft. Mit dem Gegenstand "Zeitgeschichte" befassen sich Politologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft gleichermaßen, ohne dass dabei deren Verfahrensweisen oder deren Antworten, die sie auf ihre unterschiedlichen Frageweisen erhalten, identisch werden. Auf dem Gebiet der Zeitgeschichte ist in den letzten Jahren das Nebeneinander unterschiedlicher Disziplinen kaum strittig gewesen. Damit werden alle klassischen Entgegensetzungen, die vom dinglichen oder phänomenologischen Gegenstand her Geschichtswissenschaft und systematisierende Sozialwissenschaften zu unterscheiden suchten, immer unschärfer: Vergangenheit vs. Gegenwart, Geschichte vs. Gesellschaft, Geschichte vs. Politik, "res gestae" vs. "res gerendae" verlieren immer mehr ihre analytische Trennschärfe (vorausgesetzt, dass sie sie jemals besessen haben). Das gilt auch für die Formalgegenstände Individuelles vs. Allgemeines und Raum vs. Zeit. Ohne den hohen Stellenwert von Individuellem oder von Zeit für die Geschichtswissenschaft in Abrede stellen zu wollen, kann der Historiker weder individuelle Ereignisse noch Zeitphänomene für sich reklamieren. Politologische und soziologische Fallstudien befassen sich ebenso mit Individuellem wie Psychologie, Psychiatrie und Soziologie mit der Zeit.

Beide Positionen finden sich in der Didaktik wieder:

a) Die eine geht davon aus, dass die Phänomene disziplinär etikettiert sind. Ich möchte sie die Puzzle-Theorie nennen. Sie besagt, dass man nur die passenden Stücke suchen müsse, die sich dann wie in einem Puzzle zu einem Ganzen und sinnvollen Bild zusammenfügen lassen. Wie bestimmte Gegenstände oder Phänomene noch keine bestimmte Disziplin begründen oder von bestimmten Fächern exklusiv erforscht werden, so kann auch durch Zusammenstellen unterschiedlicher Gegenstände kein sinnvolles Thema für fachübergreifendes Lernen entstehen. Hier wird mit der Trivialität gearbeitet, dass alle Gegenstände in Raum und Zeit existieren. Die Puzzle, die hier zusammengesetzt werden sollen, gehören stets verschiedenen Spielen an.

b) Die zweite Position sucht nach Gegenständen, die unter dem Blickwinkel aller (bzw. möglichst vieler) Disziplinen betrachtet werden können. Sie kann man die Prisma-Theorie nennen. Ein Gegenstand zerlegt sich unter verschiedenen Betrachtungswinkeln - wie bei der Lichtbrechung - in unterschiedliche Aspekte. Die fortgeschrittenen Modelle fachübergreifenden Lernens gehen folgerichtig von einem "Gemeinsamen exemplarischen Gegenstand" aus. Solche Gegenstände sind Planeten, Lärm, Zeit (8). Auch wenn zugestanden wird, dass die einzelnen Fächer sich auf den gleichen Gegenstand richten können, sind die didaktischen Folgerungen wenig zufrieden stellend. Dazu einige Argumente am Schluss.

Daraus möchte ich die These formulieren:

  • Jedes Phänomen kann im Prinzip von jeder Disziplin betrachtet werden. Die dabei entdeckten Zusammenhänge sind gedachte Zusammenhänge und keine der Wirklichkeit. Aus dem Zusammenstellen von Gegenständen, bei denen lediglich ein äußerer zeitlicher oder räumlicher Zusammenhang besteht, ergibt sich keine fachübergreifende Perspektive. Fachübergreifendes Lernen hat die Einsicht zur Voraussetzung, dass ein Erkenntnisobjekt von mehreren Disziplinen betrachtet werden kann.

(2) Auf der methodologischen Ebene wird fachübergreifendes Lernen durch die Einsicht in den gegenstandskonstitutiven Charakter der wissenschaftlichen Methoden erschwert. Die Einheitswissenschaft mit der Einheitsmethode ist ein wissenschafts-konservativer, positivistischer Traum geblieben. Im Positivismusstreit wurde offenbar, dass sich die Einheit der Wissenschaft durch das Verfahren nicht herstellen lässt.

Mit "Methoden historischer, politologischer, soziologischer, psychologischer etc. Erkenntnis" sind jene Operationen der geistigen Auseinandersetzung gemeint, die zu fachspezifischen Aussagen führen. Den Methoden, verstanden als folgerichtige Denkoperationen, liegt eine bestimmte Erkenntnisabsicht und damit eine bestimmte Aussageintention zu Grunde. Schülerinnen und Schüler sollten daher nicht in erster Linie Wissensbestände lernen, sondern die Wege des Fragens und Urteilens. Insofern sind die Methoden der Erkenntnis Aneignungsformen oder Verfahrensweisen des Nachdenkens über Gegenstände, die durch das Verfahren des Nachdenkens erst konstituiert werden.

Untersuchungen über diejenigen Erkenntnisweisen, denen sich ein Schüler bedienen muss, wenn er für das "Fach", in dem er diese Erkenntnisweisen anwendet, zu fachspezifischen Aussagen kommen will, fehlen noch. Da diese Erkenntnisweisen für die einzelnen Wissenschaften grundlegend sind, können sie von den Didaktikern nicht (mehr) beliebig entworfen oder verändert werden. Sie sind vielmehr in den Wissenschaften "vorgezeichnet".

In dem Bereich der Didaktiken der Sozialkunde, Geografie, Geschichte sowie der Kunst- und Sprachwissenschaften - einschließlich ihrer Bezugsdisziplinen - haben wir es vorwiegend mit sechs unterscheidbaren Erkenntnisweisen zu tun, die unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten bieten:

  • die historisch-hermeneutische Verfahrensweise,
  • die kritisch-dialektische Verfahrensweise,
  • die empirisch-analytische Verfahrensweise,
  • die quantitativ-statistische Verfahrensweise.
  • die narrativ-faktualen und
  • die empathisch-fiktionalen Verfahrensweise (9).

Wenn durch die Unmöglichkeit einer Universalmethode die Integration nicht gerade erleichtert wird, so bieten die unterschiedlichen Verfahrensweisen doch die Grundlage für weitere Überlegungen. Allerdings sind Methoden nicht einer einzigen Fachwissenschaft zu Eigen, sondern einer Fächergruppe. Die an der politischen Bildung im engeren Sinne beteiligten Fächer sind nicht einer einzigen, sondern mehreren Methoden verpflichtet. Insofern wird fachübergreifendes Lernen durch die Methode wieder erleichtert. Keines dieser einzelnen Fächer ist methodologisch autonom; ihre Methoden sind vielmehr integraler Bestandteil einer allgemeinen Methodologie aller Sozial- und Kulturwissenschaften. Eine Reduzierung auf eine oder wenige Methoden - z. B. durch den Ausschluss der Hermeneutik -, um durch größere Einheitlichkeit Integrationsvoraussetzungen zu schaffen, ist ohne Erkenntnisverlust nicht möglich. Die Reduktion auf eine so genannte Einheitsmethode ist mit gravierenden didaktischen Gefahren verbunden: Den Schülern werden Erkenntnismöglichkeiten vorenthalten. Auf dem Hintergrund dieser gegenstandskonstitutiven Verfahrens- und Erkenntnisweisen lassen sich m. E. weiterführende Aussagen über fachübergreifendes Lernen treffen. Geht man in der Analyse der Kooperations-Integrations-Problematik auf die fach(bereichs)spezifischen Erkenntnisweisen als Arten wissenschaftlichen Arbeitens zurück, so stellt sich die Frage der Zusammenarbeit der Unterrichtsfächer anders dar, als sie bisher diskutiert wurde. Die isolierenden Fächergrenzen sind nämlich in einer gewissen Weise bereits durchbrochen - und zwar durch die Erkenntnisweisen. Diese Erkenntnisweisen finden wir nur schwerpunktmäßig in den einzelnen Disziplinen. Selbst die einzelnen akademischen Schulen und Forschungsrichtungen innerhalb einer Disziplin bedienen sich unterschiedlicher Erkenntnisweisen, sodass die Verwandtschaft zu einem Nachbarfach der Disziplin oft eher erkennbar ist als zu einer anderen akademischen Schule innerhalb der eigenen Disziplin. Die quantitativ arbeitende Wirtschaftsgeschichte hat methodisch mehr Gemeinsamkeiten mit der Ökonomie als mit der weitgehend hermeneutischen Mediävistik.

Dazu meine zweite These:

  • Wir kommen in der Diskussion des fachübergreifenden Lernens erheblich weiter, wenn wir Methoden als lehrbare Inhalte begreifen. Sie verbürgen ein gutes Stück fachübergreifender Sichtweise, da diese Methoden fachübergreifend sind. Die gegenwärtige Methodenorientierung ist im Moment dazu noch wenig geeignet, da sie mehr pädagogische Methoden der Unterrichtsorganisation als wissenschaftliche Erkenntnisweisen meint.

(3) Auf der konstitutionstheoretische Ebene wird deutlich, dass im fachübergreifenden Lernen die wissenschaftlichen Frageweisen nicht ohne Erkenntnisverlust eingeschmolzen werden dürfen. Sie sind es, durch die sich die Wissenschaften erst konstituieren. Fächer bilden sich durch eine bestimmte Weise des Fragens und der daraus folgenden Art des Nachdenkens. Sie sind folglich Denkweisen. "Wissenschaft ist nicht identisch mit ihren letzten Produkten, sondern mit ihren elementaren Fragen und Verfahren: ihren principia" (10). Die jeweils spezifischen Frageweisen machen die Eigen-Art der Wissenschaftsdisziplinen aus. Der Objektbereich des Fragens und Forschens wird im Wesentlichen durch die Frageweise konstruktiv hergestellt. Erkenntnisgegenstände der Wissenschaft werden durch kategoriale Formung der Gegenstandsbereiche erst geschaffen und sind somit nicht primär vorgegeben, sondern erst durch Wissenschaft konstituiert. Die konstruktivistische Debatte der letzten Jahre erlaubt es, schärfer zu formulieren: Ohne historisches Denken keine Geschichte, denn es ist das historische Denken, das sich seinen Gegenstand als Objekt möglicher Erkenntnis erst begrifflich erzeugt.

Historisches Lernen ist die Erprobung und Anwendung des Denkstils "historisches Denken" und darf nicht mit dem Akkumulieren von Wissen verwechselt werden. Das historische Denken ist wie Philosophieren und mathematisches Denken eine abendländische Kulturerrungenschaft, die 2500 Jahre alt ist und sich in ehrwürdiger Tradition durch die Jahrhunderte ausdifferenziert, entmythologisiert und rationalisiert hat. Denkstile bringen eine in der abendländischen Tradition bewährte Art und Weise ein, die Welt zu befragen (samt den daraus resultierenden Ergebnissen). Mathematisches, philosophisches und historisches Denken sind dann als kulturkonstituierende Denkweisen anzusehen, die ihrer Eigenlogik folgen.

Denk- bzw. Erkenntnisweisen werden die Arten eines denkenden Umgangs genannt, die dann Sachgebiete wie Geschichte erst konstituieren. Ohne die historische Denkweise gibt es auch keine Geschichte. "Die wissenschaftlichen Methoden sind wie die Organe unserer sinnlichen Wahrnehmung: Sie haben wie diese jede ihre spezifische Energie, ihren bestimmten Kreis, für den sie geeignet sind, und bestimmen sich nach denselben in ihrer Art und Anwendbarkeit." (11) Wenn wir Wahrnehmungen machen (einen Satz in einer Quelle lesen, eine Zechenkolonie im Ruhrgebiet besichtigen, eine mittelalterliche Steuerliste betrachten usw.), wissen wir unmittelbar noch nicht, was wir erfahren haben. Wir müssen die Wahrnehmungen erst denkend verarbeiten. Die Wahrnehmungen, die wir machen, sind nämlich ambivalent, doppeldeutig, widersprüchlich. Oft sind sie auch so unscheinbar, dass wir ihnen anfangs keine Bedeutung beimessen. Wir müssen sie erst ordnen und systematisierend verarbeiten, klassifizieren und untereinander in Beziehung setzen, um zu einer Erkenntnis zu gelangen. "Die physiologischen Unzulänglichkeiten des menschlichen Wahrnehmungsapparates zwingen zu einer nachträglichen Systematisierung der Wahrnehmungen, zu einer zeitlichen Ordnung, zu einer Selektion der als wesentlich erachteten Bestandteile einer Erfahrung - kurz: Systematisches Denken und systematische Beschreibung, Äußerung, Erklärung, Prognose sind Formen einer gattungsspezifischen Kompensation und der Ambivalenz von sensorischen Erfahrungen und Mitteilungen." (12)

  • Von den jeweiligen spezifischen konstitutiven Fragestellungen ausgehend, werden im Forschungsprozess in empirischer und logischer Analyse systematische Aussagen über Zusammenhänge von Bereichen der Wirklichkeit oder systematische Aussagen über das System der Aussagen selbst gefunden (Disziplin und Metadisziplin). Als "Fächer" sind also die verschiedenen objektiv möglichen und üblichen Weisen, die Welt zu begreifen, zu verstehen. Wirklichkeit wird auf eine spezifische Art erfasst und denkend geordnet. Diese Definition von Fach macht keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Schul-Fach und Wissenschafts-Fach. Sie geht vielmehr davon aus, dass die Denkweisen in beiden Bereichen prinzipiell richtungsgleich und in ihrer Spezifik identisch sind. Forschungslogik und Unterrichtslogik werden dadurch aber nicht gleichgesetzt. Die Logik der Forschung folgt, wenn sie einmal von gesellschaftlich-praktischen Problemen ausgegangen ist, auch wissenschaftsimmanenter Gesetzlichkeit. Sie erbringt Ergebnisse des Faches, die von der Didaktik daraufhin befragt werden müssen, ob sie als Unterrichtsgegenstände geeignet sind, Wirklichkeit - und das heißt in diesem Falle: die Gegenwart und absehbare Zukunft des Schülers innerhalb einer historisch-gesellschaftlichen Konstellation - durch bestimmte Denkweisen zu begreifen und denkend zu ordnen.
  • Fachwissenschaft ist damit ein "zumindest prinzipiell richtungsgleiches Verfolgen der auch im vorwissenschaftlichen Streben ... wirksamen Fragen." (13) Wenn aus praktischem Bedürfnis sich spezifische Fragen herausgebildet haben, die mit rational gesicherten und verfeinerten Methoden in den Fachwissenschaften fortgesetzt werden, kann ein Verzicht auf diese Betrachtungsweisen nur durch einen Verzicht auf bestimmte gesellschaftlich-praktische Erfahrung erkauft werden.

Aus dem erkenntnistheoretischen Primat der Frageweisen folgt, dass sie sich nicht mit beliebigen Methoden verbinden lassen. Erkenntnismethoden (Verfahrensweisen und Forschungstechniken) müssen vielmehr mit den Frageweisen kompatibel sein, denn der Gegenstand wird nicht nur durch die Frageweise konstituiert, sondern er wird auch durch die Erkenntnismethoden mitkonstituiert. Verfahrensweisen und Untersuchungstechniken, derer sich die Erkenntnisweisen bedienen müssen, schlagen auf die Frageweise zurück und können, falls dieser Zusammenhang vernachlässigt wird, eine ganz andere als durch diese Frage angestrebte Aussageintention erzeugen.

Historisches Denken kann definiert werden als narrative Sinnbildung über Zeit auf Grund von Authentizitätserfahrungen. Im Narrativieren erfolgt die Wahrnehmung von Wirklichkeitsaspekten unter dem Gesichtswinkel von Zeit. Im Dienst des Narrativierens stehen die Operationen des Interpretierens, Quantifizierens, Analysierens und des dialektischen Denkens.

Dazu meine dritte These:

  • Fachübergreifende Konzepte, die Fächer als Denkweisen aufheben, bedeuten einen radikalen Erkenntnisverlust und sind dem gegenwärtigen Stand der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation nicht angemessen. Historisch gesehen befördern sie Unterricht in die 50er Jahre zurück.
 

2. Wissenschaftshistorie - Disziplinierung und Entdisziplinierung

(1) Unter wissenschaftshistorischem Blickwinkel wird deutlich, dass sowohl Unterrichtsfächer als auch Fachdisziplinen eine (zumindest) zweihundertjährige Geschichte haben. Historisch gesehen legen die Vertreter des fachübergreifenden Lernens in der aktuellen Diskussion einen zweifelhaften Begriff von Fach zu Grunde. "Fach" ist hier eine pädagogisch-didaktische Fiktion. Die Pädagogik tut so, als ob es "Fächer" gäbe, die im Unterricht gelehrt werden sollen. Mit Fiktion meine ich zunächst einmal nichts Negatives. Eine solche Unterstellung mag durchaus fruchtbar sein. Kritik verdient allerdings die Meinung, dass es sich in der 200-jährigen Schulgeschichte um das gleiche Fach "Geschichte" handelt. Grenzen von Fächern sind nicht theoretische, sondern historische Grenzen. Sie haben sich historisch herausgebildet und gelten nicht absolut. Sie sind mit einer Muschel vergleichbar, die sich im historischen Prozess mal zu den Nachbardisziplinen öffnet oder schließt.

  • Die Wandlungsprozesse, die ein solches Fach durchgemacht hat, werden in der aktuellen Diskussion unterschlagen - es wird lediglich zugestanden, dass neue Ergebnisse zum alten Fach hinzugekommen seien. Die didaktische Fiktion von "Fach" unterstellt etwas, was es so nicht mehr gibt. Die Korrespondenzwissenschaft, auf der die Fach-Fiktion aufruht, hat sich radikal verändert. Hatte es zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als das Fach Geschichte in die neu organisierte Schule kam, noch eine gewisse Berechtigung gegeben, vom "Fach Geschichte" zu sprechen, so ist es heute nicht mehr so einfach. Es gibt heute nicht mehr "das" Fach Geschichte, das es so zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegeben hat. An seine Stelle sind heute Altertumswissenschaft, Mediävistik, Wirtschaftsgeschichte, Zeitgeschichte (etc.) und Migrationsforschung, Residenzforschung (etc.) getreten. Eigentlich müsste ich, allein bezogen auf das Fach Geschichte an meinem historischem Institut, von zehn Fächern sprechen, die sich in unterschiedlichen Anteilen und wechselnden Gewichtungen im Schulfach Geschichte wieder finden. Der Anteil der Altertumswissenschaft tendiert momentan gegen 0, die Neueste Geschichte gegen 80 % etc. Die anderen, Teilgebiete genannt - eigentlich selbst Disziplinen -, teilen sich den Rest. Was kann angesichts dieser Situation "fachübergreifendes Lernen" bedeuten?
  • Angesichts dieser Tatsache ist es die Aufgabe des Geschichtsdidaktikers - in Geografie, Deutsch etc. dürfte es ähnlich sein -, innerhalb des Faches Geschichte "fachübergreifend" zu wirken. Das ist im wahren Sinne des Wortes gemeint und bedeutet nicht nur das Zusammenführen von Forschungsergebnissen der vielen Teilgebiete. Die Methoden, Quellen und Forschungstechniken, die die Ergebnisse konstituieren, sind äußerst divergent. Die Forschungsfragen und Forschungstechniken waren im 19. Jahrhundert um die philologisch-hermeneutische Methode zentriert. Diese Einheit gibt es nicht mehr. Seitdem die klassische philologisch-hermeneutische Methode zerbrochen ist, wird in den einzelnen Teilgebieten mit unterschiedlichen Verfahrensweisen und Quellengattungen gearbeitet. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte arbeitet mit seriellen Quellen und hoch aggregierten quantitativen Daten. Die Politikgeschichte mit autororientierten Quellen, die Alltagsgeschichte dagegen betreibt Spurensuche in Dokumenten, die für keine Nachwelt hergestellt wurden.
    Ich weiß nicht, wie das in anderen Fächern ist, aber die Geschichtsdidaktik hat es mit dem Problem der fachübergreifenden Sichtweise im eigenen Fach zu tun. Der Didaktiker wird hier zum modernen Sisyphus, der mit seinem Töpfchen diejenigen Wasserstrahlen auffangen muss, die aus dem Fach Historische Forschung ununterbrochen nach den unterschiedlichsten Richtungen quellen.
  • Der Eindruck, dass die Teilfachgebiete ständig neue Aufspaltungen und Zersplitterungen produzieren, die die Geschichtsdidaktik wieder integrierend zusammenfassen muss, ist nur teilweise richtig. Es handelt sich auch nicht um einen Vorgang, der sich allein innerhalb der Geschichtswissenschaft abspielt, und somit eine innerwissenschaftliche Zellteilung darstellt. Die einzelnen Zweige der Geschichtswissenschaft haben sich selbst in neuester Zeit umorientiert und eigene fachübergreifende Sichtweisen ausgebildet. Wirtschaftsgeschichte arbeitet mit ökonomischen, Sozialgeschichte mit soziologischen Theorien. Manche Teilgebiete deuten bereits durch ihren Namen an, dass sie fachübergreifend orientiert sind. Dafür stehen die historischen Disziplinen "Begriffsgeschichte" (14), "Ethnohistorie" (15) und der "Psychohistorie" (16). Auch die "Historische Anthropologie" (17) und die "Umweltgeschichte" ist hier zu nennen. Die moderne Geschichtswissenschaft arbeitet somit selbst fachübergreifend, indem sie Aspekte von Linguistik, Psychologie, Anthropologie und Ökologie integriert.
    Auf Grund dieser Tatsache ist zu fragen, ob heute die Wissenschaftsdisziplinen nicht viel stärker fachübergreifend arbeiten, als es die pädagogische Diskussion wahrhaben will. Sollte man nicht vielmehr die innerwissenschaftlichen Impulse zum fachübergreifenden Denken aufgreifen, anstatt so zu tun, als müsse man den Disziplinen ihre vermeintliche narzisstische Selbstbespiegelung austreiben?

Meine vierte These ist:

  • Die Diskussion um fachübergreifendes Lernen geht von der Fiktion eines Faches aus, das es heute so nicht mehr gibt. In der Disziplinentwicklung der letzten 90 Jahre sind effektivere Konzepte der Entdisziplinierung entwickelt worden, als die von den Vertretern des fachübergreifenden Lernen wahrhaben wollen. Ihre Diskussion nimmt die fachübergreifenden Bemühungen innerhalb der einzelnen Fächer gar nicht zur Kenntnis.

(2) Historisch gesehen lassen sich die einzelnen Fächer nicht isoliert betrachten. Sie sind stets in wandelnde "Großkonzeptionen" eingebunden gewesen und teilten deren Prämissen. Geschichte gehörte einmal zu den Geisteswissenschaften, später zu den Sozialwissenschaften und gegenwärtig ist ein Trend zu den Kulturwissenschaften unübersehbar. Seit 30 Jahren gibt es in der Wissenschaft unterschiedliche Versuche, Fächer bzw. Disziplinen in einen bestimmten Zusammenhang zu stellen und ihre Gemeinsamkeiten zu betonen. In den 70er Jahren war es das Konzept der Sozialwissenschaft, gegenwärtig ist an seine Stelle das Konzept der Kulturwissenschaft getreten.

Sozialwissenschaften sind diejenigen Disziplinen, die ihre durch die eigene Fragestellung erzeugte faktische Wirkung auf die soziale Lebenspraxis reflektiert in ihr Forschungsinteresse aufgenommen haben. Soziologie und Politologie waren in den 70er/80er Jahren führend, dieses Konzept durchzusetzen. Teile der Geschichtswissenschaft schlossen sich an, indem sie sich als "historische Sozialwissenschaft" verstanden (18). Die Hoffnung, der Forderung nach Integration und fachübergreifendes Lernen durch eine sozialwissenschaftliche Umorientierung der Fachdisziplinen nachzukommen, hat sich zwar nicht erfüllt, die sozialwissenschaftlichen Fächer sind sich aber erkennbar näher gekommen. Der Begriff "Sozialwissenschaften" legte eine Addition kompatibler und homogener Disziplinen und zwang die Fachvertreter, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Gewinner dieser Debatte ist ohne Zweifel die Geschichtswissenschaft gewesen. Sie konnte ihr faktografisches und theoriefeindliches Image ablegen.

In der Diskussion um die sozialwissenschaftliche Umorientierung ist aber auf eine gravierende Differenz zu achten: Es ist von eminenter Bedeutung, ob die Disziplin sich als Ganzes als Sozialwissenschaft begreift, oder ob damit nur eine Spezialdisziplin (Sozialgeschichte, Sozialgeografie) neben anderen Spezialdisziplinen (Mittelalterliche Geschichte, Wirtschaftsgeografie) gemeint ist. Bezieht sich das Verständnis als Sozialwissenschaft nur auf eine dieser Spezialdisziplinen, so hat das für die Integrationsproblematik tief greifende Folgen. Die Umorientierung und Definition als Sozialwissenschaft kann nämlich nicht durch Amputation, durch eine radikale Abtrennung einzelner Wissenschaftsgebiete erfolgen. Teilbereiche (Wirtschafts- und Sozialgeografie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte) können nicht als fortschrittlichste Varianten der Gesamtdisziplin angesehen werden, um dann durch Zusammenfassung dieser Teilbereiche das Integrationsproblem zu "lösen". Die Widersprüchlichkeit einer solchen Integrationsstrategie ist offenkundig. Im Bemühen, sich nicht in enge Fächerungen einsperren zu lassen, gründet eine so verfahrende Didaktik sich nicht auf eine (!) "breite" Sozialwissenschaft als Bezugswissenschaft, sondern auf enge Spezialdisziplinen. Anstatt die isolierenden Wände der Zellen zu beseitigen, sind sie nur enger gezogen worden. Diese Gefahr hat sich im Rückblick auf 20 Jahre so nicht eingestellt. Die Beziehungen zwischen den Fächern sind unzweifelhaft enger geworden und haben sich ganz sicher nicht voneinander entfernt.

Kulturwissenschaften (19) sind Disziplinen, die ihre disziplinäre Gemeinsamkeit in einem neuen Kulturparadigma suchen. Sie gehen über den Gesellschaftsbegriff der Sozialwissenschaften hinaus und beziehen auch Symbolbildungsprozesse ein. Das Konzept Kulturwissenschaft wird je nach historischer Entwicklung des Faches anders akzentuiert. So heißen die Bemühungen in der Geschichtswissenschaft "Neue Kulturgeschichte", weil es im 19. Jahrhundert eine Kulturgeschichtsschreibung gegeben hat, die nach heutigem Sprachgebrauch Alltagsgeschichte bedeutet. (20) Die Volkskunde hat sich nach der Belastung ihrer Disziplin in der NS-Zeit in "empirische Kulturwissenschaft" umbenannt.

Die Diskussion um Kulturwissenschaft sieht in einem Kulturbegriff ihren zentralen Bezugspunkt. "Kultur ist nicht das, was übrig bleibt, wenn man Politik und Wirtschaft abzieht, sondern Kultur ist das Ganze, die Gesamtheit der Hervorbringungen des Menschen auf allen Gebieten des Lebens." (21) Statt Gesellschaft tritt jetzt Kultur ins Zentrum und damit auch Erfahrungen und Symbolbildungen. Das Handeln der Menschen wird nicht allein durch ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen gelenkt, sondern ebenso von kulturell bedingten Denk- und Verhaltensmustern. Ging es bei der Sozialgeschichte noch um die Kategorie des Interesses, so geht es jetzt um die der Erfahrung.

Das lässt sich an dem Thema erläutern, an dem ich vor kurzem gearbeitet habe: Tiere in der Geschichte (22). Eine Sozialgeschichte würde sich mit der Überlebensfähigkeit des Menschen durch Tierzucht, Herrschaftsausübung durch Einsatz von Pferden und Territorialsicherung durch Hunde beschäftigen, die den privaten Hof, aber auch die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten sicherten. Diese Themen bearbeitet die neue historische Kulturwissenschaft auch, aber sie geht darüber hinaus, indem sie die Diskurse und das imaginäre Universum der Tiere betrachtet, jene Tiere, die ein Produkt menschlichen Denkens sind. Sie sucht die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wachsenden Emotionalitätstransfers von Mitmenschen auf Tiere und interessiert sich für den qualitativen Umschwung: man dürfe Menschen verletzen, um Tiere zu schützen. Bereits in den 50er Jahren hat Theodor W. Adorno geahnt: Es werde die Zeit kommen, wo man den hündischen Kutscher, der sein Pferd schlägt, vom Bock herunterschießt.

Die Konzepte von Sozialwissenschaft und Kulturwissenschaft schaffen durchaus verschiedene Allianzen. Während Sozialwissenschaft vor allem Politik, Soziologie, Ökonomie und Geschichte zu integrieren suchte, sind es bei der Kulturwissenschaft auch Sprachen und Philosophie, während Ökonomie nicht einbezogen wird. Diese wechselnden Verbindungen sind durchaus vorteilhaft, denn auf diese Weise bleiben die Grenzen offen und Dogmatismus wird verhindert.

Warum haben die Didaktiker die Diskussion um Sozialwissenschaften nicht aufgenommen, warum nehmen sie im Moment nicht den Diskurs um Kulturwissenschaft auf? In beiden Debatten boten und bieten sich genügend Ansätze, um interdisziplinäre und fachübergreifende Themenstellungen zu finden. Ich will auch gleich die Antwort geben. Für diese Nichtwahrnehmung von Angeboten und Chancen sind Fachdidaktiken und Kultusbürokratien gleichermaßen verantwortlich. Die Didaktiker nehmen solche Diskurse überhaupt nicht zur Kenntnis; sie beteiligen sich gar nicht an ihnen und haben sich seit Jahrzehnten aus diesen Debatten herausgehalten und verstehen sie jetzt zum großen Teil auch gar nicht mehr. Die Kultusbeamten setzen für Geschichte, Sozialkunde, Geografie etc. separate Richtlinienkommissionen ein, die jede ihre facheigenen Kataloge der Gegenstände vorlegt. Wenn auf diese Weise Fachrichtlinien ohne Schnittmengen produziert worden sind, verlangen die Kultusgewaltigen im Nachhinein, dass fachübergreifendes Lernen berücksichtigt werden soll.

Meine fünfte These lautet:

  • Die Fachdidaktiken können fachübergreifendes Lernen in wissenschaftlich vertretbarer Weise nur organisieren, wenn sie sich an der kulturwissenschaftlichen - gesellschaftswissenschaftlichen bzw. sozialwissenschaftlichen - Diskussion beteiligen. Hier finden sie diejenigen lebenswelterschließenden Themen, die sie für ihre "Gemeinsamen exemplarischen Gegenstände" benötigen.
 

3. Wissenssoziologie - Gesellschaft als lernendes System

Fragen wir nach den Beteiligten an der Debatte. Ich habe eingangs auf die verbreitete Behauptung hingewiesen, der wissenschaftliche Blick zergliedere die Wirklichkeit und lasse nur aspekthafte Bruchstücke zurück. Die ursprüngliche Ganzheit und Ungeteiltheit gehe verloren. Hinter vielen Konzepten zum fachübergreifenden Lernen steht die Vorstellung, der von der Wissenschaft hinterlassene Scherbenhaufen müsste durch pädagogische Konzepte wieder zu einer Ganzheit zusammengeführt werden. Diese Vorschläge zum fachübergreifenden Lernen tun so, als ob in den Disziplinen - Wissenschafts- und Schulfächer - alles esoterisch zuginge, in der so genannten Wirklichkeit aber alles ungefächert sei. Die Annahme einer ungefächerten, d. h. vorwissenschaftlichen Wahrnehmung und Wirklichkeit, ist aber eine Fiktion. Wer vermisst eigentlich die Ganzheitlichkeit, die Sicht auf eine ungefächerte Wirklichkeit? Ich kenne keine Studien, die aufzeigen, dass Schülerinnen und Schüler die fehlende Ganzheitlichkeit beklagen oder unter ihr leiden (23). Wer darüber lamentiert - und das sei fast ohne Polemik gesagt - sind weniger Lehrerinnen und Lehrer, sondern Hochschulpädagogen und Kultusbeamte, die von der Dynamik moderner Wissenschaft zutiefst beunruhigt sind. Sie sehnen sich in wissenschaftsberuhigte Zonen zurück. Wenn man aus eigener Anschauung weiß, welchen Druck Kultusbeamte auf Richtlinienautoren ausüben, um "Fachübergeifendes" in Richtlinien und Schulpraxis zu bekommen, und dann sieht, welches Schicksal diese Papiere in der Schulpraxis haben, ist gründlich desillusioniert. Dort ist weniger kreativer fachübergreifender Unterricht zu beobachten, als vielmehr das schlechte Gewissen der Lehrerinnen und Lehrer, gelungenen fachübergreifenden Unterricht nicht realisiert zu haben.

(1) In der Debatte wird unterschlagen, dass Gesellschaften lernende Systeme sind und die Sprache ihr Lernmedium. Wenn wir Begriffe gebrauchen wie Rolle, Verantwortung oder auch nur von Freud'scher Fehlleistung, Minderwertigkeitskomplex, Charisma, Biotop sprechen, benutzen wir verkürzte Theorieannahmen aus den Fachdisziplinen Soziologie, Ethik, Psychoanalyse etc. Wir können diese Begriffe nicht mehr naiv verwenden. Hinter ihnen verbergen sich in Alltagswissen abgesunkene Theoriekonzepte von Disziplinen.

Wir können nicht so tun, als wenn 200 Jahre moderne Wissenschaft keine Spuren außerhalb der Gelehrtenstuben und Labors hinterlassen hätte. Gesellschaften sind kollektive Lerngemeinschaften, die auf kumulativen Lernprozessen über die Generationen hinweg beruhen. (24) Bei Maurice Halbwachs heißt dieser Vorgang "kollektives Gedächtnis", bei Norbert Elias "Zivilisationsprozess". Das Medium, in dem sich die Lernprozesse vollziehen und in dem diese Ergebnisse aufbewahrt werden, ist die Sprache. Am Anfang des 19. Jahrhunderts, zu Beginn des Nationsbildungsprozesses und der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung, gab es z. B. keine gemeinsame Hochsprache. Nordfriesen und Bayern konnten sich kaum verständigen. Wissenschaftssoziologisch begann dann ein Prozess, gemeinsames Wissen über regionale und soziale Gruppen auszuweiten. Diese Distribution des Wissens (25) über soziale, regionale und Klassengrenzen hinaus sicherzustellen, war ein wichtiges Moment im Nationsbildungsprozess. Dabei wurde wissenschaftsförmiges Wissen in Alltagswissen bis zu einem bestimmten Maße transformiert. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass ein erwachsener Mensch am Ende des 18. Jahrhunderts über genauso viel Wissenschaftswissen verfügte, wie heute ein Kind, wenn es eingeschult wird.

Insofern ist die Vorstellung eines "ganzheitlichen Wissens" ein vormodernes Konzept, das in die Zeit des Polyhistorismus des 17. Jahrhunderts gehört.

Eine Bestätigung für diese Thesen sind die vor 20 Jahren modernen "allgemeinen Lernziele". Sie waren keineswegs "allgemein", sondern benutzen mit bestimmten Fachtermini stets fachspezifische Theorien und stellen damit bereits Relationen in der Wirklichkeit her. Die linguistische Analyse legt zudem über die Zeitreferenz der Lernzielformulierungen die Bezogenheit auf Geschichte dar. Alle bisher angebotenen Systeme allgemeiner Lernziele waren logisch, grammatikalisch und semantisch eine Addition fachspezifischer Begriffe und Theorien. Weder in der Wahl der Termini noch in der Sprachstruktur konnten "allgemeine" Lernziele den fachspezifischen Denkweisen entrinnen. Die Begriffe verkündeten auch dann noch ihre Fachlichkeit, wenn die Lernzielverfasser sich nicht der epistemologischen Struktur der Wissenschaften bewusst waren. (26)

Dazu meine These:

  • Es gibt in den modernen westlichen Gesellschaften keine theorieunabhängige Alltagssprache mehr. Sie ist theoriegeladen und insofern können wir nicht mehr überfachlich - "ganzheitlich" - an Alltagsphänomene, Erfahrungsgegenstände herangehen.

(2) Als nächstes stellt sich die Frage nach der Instanz. Wer formuliert den "gemeinsamen Gegenstand", wer benennt diejenigen Probleme, die in fachübergreifende Lernprozesse einbezogen werden? Wenn sie "allgemein" sein sollen, können sie nicht von einer einzelnen Fachwissenschaft oder Fachdidaktik formuliert werden. Auch ein Gremium unterschiedlicher Fachvertreter kann nicht angenommen werden, da allgemeine Lernziele ihrem Anspruch nach nicht durch eine Addition von Fachaspekten gewonnen werden dürfen. Die einzelnen Vertreter der Fachwissenschaft und Fachdidaktik können sich zudem nicht gleichsam selbst in ihrer Sichtweise auslöschen und eine Metawissenschaft durch Zusammensitzen begründen. Die Probleme, die als gemeinsame Gegenstände fungieren sollen, müssen aus einer Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit hervorgehen. Wer unternimmt diese Analyse, mit welchen Methoden und welchen Instrumenten, wenn eine fachneutrale Methode nicht existiert? Der Versuch, diese Aufgabe der Erziehungswissenschaft zuzuweisen, greift ebenfalls zu kurz, da die Pädagogik ihrerseits eine disziplinäre Sicht auf gegenwärtige Wirklichkeit hat, obwohl sich ihre Vertreter manchmal als Spezialisten für das Allgemeine verstehen.

Offensichtlich sind sich die Verfechter des fachübergreifenden Lernens nicht über die Konstitution von Problemen im Klaren. Es besteht eine Differenz zwischen gesellschaftlicher Problemdefinitionen und ihrer disziplinären Verarbeitung. Was in einer Gesellschaft ein Problem ist, stellen wir in unserer Eigenschaft als Bürgerinnen und Bürger eines Gemeinwesens fest, auch wenn wir Fachwissenschaftler sind. Die Sensibilität für Problemwahrnehmung ist sozial (und nicht disziplinär) unterschiedlich verteilt. Der Langzeitarbeitslose definiert andere gesellschaftlich-soziale Probleme als der Modernisierungsgewinner. Der Bündelung und Artikulation dieser Probleme nachzugehen, ist eine politologisch-soziologische Aufgabe, und die soll hier nicht näher untersucht werden.

(3) In der schulpädagogischen Diskussion wird die Notwendigkeit fachübergreifenden Lernens auch über angebliche Veränderung gesellschaftlicher Problemlagen begründet. Diese Annahmen enthalten aber historische und politische unhaltbare Implikationen. So wird festgestellt: "Leider definieren sich die Probleme der modernen Gesellschaft nicht mehr als Problemstellungen für disziplinäre Spezialisten." (27) Als Beispiele werden Umweltschutz, Technologiefolgenabschätzung, Gentechnik und Friedenssicherung genannt. Besonders das "nicht mehr" ist nicht belegbar. Es wird eine Entwicklung behauptet, die sich historisch nicht belegen lässt. Wenn man die Verkehrsentwicklung im 19. Jahrhundert am Beispiel des Eisenbahnbaus betrachtet, so zeigt sich, dass das ein technisches, gesellschaftliches kulturelles und ökonomisches Problem gewesen ist und auch damals so gesehen und diskutiert wurde. Es war keineswegs ein Problem für Spezialisten. Die behauptete neue Qualität ist keine.

Solche Probleme werden in der Gegenwart oft mit dem Pathos gesellschaftlicher Verantwortung vorgetragen, - nur, was kommt davon in der Praxis an? Dort werden andere Problem formuliert: Zeit, Lärm, Liebe und Kleidung. (28) Sind das die Probleme, die eine neue Qualität anzeigen? Entweder entweicht man in transzendentale Höhen und plündert die Kant'sche Kategorientafel ("Zeit") oder nimmt Alltagsärgernisse ("Lärm") und kulturelle Universalien ("Kleidung") zum Gegenstand. (29) Eine Bewegung hin zum "kleinsten gemeinsamen Nenner" ist unübersehbar. Offensichtlich geht es gar nicht um gesellschaftliche Probleme, sondern nur um Anlässe für schulisches Handeln. Das ist durchaus legitim, man sollte es aber auch ehrlich zugeben. Manche Autoren machen das dann auch mit erfrischender Offenheit: "Kurbeln sie mal eine Tasse Kaffe warm" (Energiegewinnung mit Muskelkraft) oder "Bau eines Heißluftballons" (mit Teelicht und Seidenpapier). (30) Solange nicht als Probleme Rassismus und Antisemitismus aufgegriffen werden, ist das Pathos des gesellschaftlichen Engagements um moderne Probleme, die "nicht mehr" fachspezifisch bearbeitet werden können, hohl.

(4) Gibt es keine gelungenen Modelle? Es lässt sich nicht bestreiten, dass es gelungene und beeindruckende Projekte gibt, die von ihren Organisatoren mit dem Prädikat "fachübergreifend" belegt werden. Die ernst zu nehmenden Modelle, die auf der Vorstellung beruhen, dass der gleiche Gegenstand von den verschiedenen Disziplinen betrachtet werden kann - also die Prismamodelle -, stehen und fallen mit einem ergiebigen Gegenstand. Auffallend ist aber auch, dass sie umso besser gelungen sind, je weniger "Fächer" sich daran beteiligen. Aus der Existenz solcher Projekte ist allerdings nicht zu schließen, dass es bereits überzeugende theoretische Konzepte für fachübergreifendes Lernen gibt.

Schaut man sich einmal an, welche Themen gewählt werden und was sich an fachübergreifenden Inhalten dahinter verbirgt, ist man enttäuscht. Gegenstände wie "Wasser", Planeten, Liebe, Lärm (31) sind solche Beispiele. Hinter dem Gegenstand Wasser verbergen sich dann folgende Teilthemen, wie aus zwei pädagogisch-didaktischen Zeitschriften (32) zu entnehmen ist: "Schüler experimentieren mit Wasser", "Hochwasser und Muren", "Flüssig, fest und gasförmig. Erscheinungsformen und Eigenschaften des Wassers", "Verantwortlicher Umgang mit Wasser", "Römische Wasserleitungen", "Von der brackigen Brühe zum keimfreien Nass. Der Hygienisierungsprozess im 19. Jahrhundert". Obwohl es bei all diesen Themen nass zugeht, haben "Hochwasser und Muren" und "Römische Wasserleitungen" wenig Gemeinsamkeiten. Ob diese verschiedenen Themen in den Köpfen der Schüler und Schülerinnen wieder ein Ganzes entstehen lassen, bleibt dahingestellt; das will ich an dieser Stelle auch nicht näher untersuchen. Zweifel sind aber angebracht.

Bedenklicher ist aber, dass diese Praxis des fachübergreifenden Lernens hinter den erreichten Stand der Wissenschaften zurückfällt. Dieser "allgemeine" Blick durchstöbert den Wissens- und Ergebnisfundus der Disziplinen bzw. Fächer, um zu diesem Gegenstand etwas Passendes zu finden. Der allgemeinpädagogische Blick bringt dann Elemente aus der disziplinären Mottenkiste hervor. Manchmal müssen sie sich dazu auch richtig abquälen. Im Bergheimer Modell ist zum Gemeinsamen exemplarischen Gegenstand "Lärm" der historische Aspekt "Lärm im antiken Rom" und "Lärm im London des 19. Jahrhunderts" vorgeschlagen worden - als wenn die Geschichte nichts besseres anzubieten hätte. Auf diese Weise wird nicht das eingebracht, worin die Disziplinen besonders stark sind. Die fachwissenschaftlichen Potenziale zur Orientierung in der gegenwärtigen Welt werden gar nicht abgerufen. "Globalisierung als Identitätsverlust?", "Antisemitismus als deutsches Rassemerkmal?", "Nationalismus, Nationsbildung und Phantomstolz" etc. werden von solchen Konzepten nicht als historische Themen nachgefragt. Veraltete Probleme für "disziplinäre Spezialisten" ?

Meine letzte These lautet deshalb:

  • Die gegenwärtigen Konzepte von fachübergreifendem Lernen gehen an den Erklärungspotenzialen der modernen Wissenschaften vorbei, lassen sie außen vor. Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft bedeutet das: Was von historischen Themen in die Konzepte des fachübergreifenden Lernens eingeht, verzichtet auf die Orientierungsleistungen der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft.
 

Anmerkungen

(1) Ulshöfer, Robert (1971); Behrmann, Günter C.; Jeismann, Karl E.; Süssmuth, Hans (1978).

(2) Vgl. Bergmann, Klaus; Pandel, Hans-Jürgen (1975); Maek-Gérard, Eva; Muhlack, Ulrich; Zitzlaff, Dietrich (1974).

(3) Vgl. Pandel, Hans-Jürgen (1978).

(4) Pandel, Hans-Jürgen (1978).

(5) Vor 23 Jahren habe ich mich auf die "Fächer" Geschichte, Geographie und Sozialkunde bezogen. Das erscheint mir heute viel zu eng.

(6) Hofmann, Werner (1969), S. 50.

(7) Fleck, Christian; Müller, Albert (1997); hier S. 112.

(8) Sämmer, Günter ; Wagner, Andrea (1997).

(9) Vor 22 Jahren war mein Katalog der methodischen Zugänge stärker an den Sozialwissenschaften orientiert. Heute fühle ich mich dagegen mehr den Kulturwissenschaften verpflichtet. Darin steckt weniger Anpassung an den modernen Trend als vielmehr eine stärkere Orientierung an der Geschichtsdidaktik als an der Geschichtswissenschaft zugrunde. Vgl. Pandel, Hans-Jürgen (1978).

(10) Hentig, Hartmut von (1997), S. 52.

(11) Droysen, Johann Gustav (1971), S. 18.

(12) Rust, Holger (1977), S. 550.

(13) Lucas, Friedrich J. (1965), S. 285.

(14) Koselleck, Reinhart (1978).

(15) Wernhart, Karl R. (1986).

(16) deMause, Lloyd (1989); Spillmann, Kurt R.; Spillmann, Kati (1988).

(17) Habermas, Rebecka; Minkmar, Nils (1992); Dressel, Gert (1996).

(18) Wehler, Hans-Ulrich (1973); Groh, Dieter (1973).

(19 )Zur kulturwissenschaftlichen Neuorientierung vgl. Wolfgang Frühwald (1991); Böhme, Hartmut u.a. (2000).

(20) Vgl. Schleier, Hans (2000); vom Bruch, Rüdiger u.a. (1989 / 1996).

(21) Oexle, Otto Gerhard (1996), S. 25; vgl. auch: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 445-468.

(22) Pandel, Hans-Jürgen (1998), S. 7-14. Themenheft der Zeitschrift Geschichte lernen. Das Thema hat der "Schülerwettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten" für seine Ausschreibung 2000 aufgegriffen.

(23) Dass Schülerinnen und Schüler an dem grauen Potpourri der 45-Minuten-Schnipsel des Unterrichts leiden, soll allerdings nicht bestritten werden.

(24) Eder, Klaus (1985).

(25) Vgl. Pandel, Hans-Jürgen (1990).

(26) Zur Empirie am Beispiel der hessischen Rahmenrichtlinien von 1972 vgl. Pandel, Hans-Jürgen (1978)

(27) Gudjons, Herbert (1997), S. 41

(28) einzig akzeptabel: Planeten - Weltbilder und Wahrnehmungen; Sämmer, Günter; Wagner, Andrea (1997), S. 46 f.

(29) Sämmer, Günter; Wagner, Andrea (1997); Frommer, Helmut (1997), S. 115-127

(30) Frommer, Helmut (1997), S. 115 ff.

(31) Sämmer, Günter; Wagner, Andrea (1997)

(32) Lernchancen 1 (1998), H. 1 und Geschichte lernen. 8 (1995) H. 47

 

Literatur

Behrmann, Günter C.; Jeismann, Karl E.; Süssmuth, Hans (1978): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts, Paderborn.

Bergmann, Klaus; Pandel, Hans-Jürgen (1975): Geschichte und Zukunft, Frankfurt/M.

Böhme, Hartmut u.a. (2000): Orientierung Kulturwissenschaft, Reinbek.

Bruch, Rüdiger vom u.a., Hg. (1989/1996): Kultur und Kulturwissenschaft um 1900, 2 Bde., Wiesbaden.

deMause, Lloyd (1989): Grundlagen der Psychohistorie, Frankfurt/M.

Dressel, Gert (1996): Historische Anthropologie. Eine Einführung, Wien.

Droysen, Johann Gustav (1971): Historik, München.

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Fleck, Christian; Müller, Albert (1997): "Daten" und "Quellen". In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8, H. 1, 101-126.

Frommer, Helmut (1997): Über das Fach hinaus. In: Keuffer, Josef; Meyer, Meinhart (Hg.): Didaktik und kultureller Wandel, Weinheim, S. 115-127.

Frühwald, Wolfgang u.a (1991): Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt/M.

Groh, Dieter (1973): Kritische Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht. Überlegungen zur Geschichtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Stuttgart.

Gudjons, Herbert (1997): Verbinden-koordinieren-übergreifen: Qualifizierter Fachunterricht oder fächerübergreifendes Dilettieren? In: Pädagogik 1997.

Habermas, Rebecka; Minkmar, Nils, Hg. (1992): Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur historischen Anthropologie, Berlin.

Hentig, Hartmut von (1997): Polyphem oder Argos? Disziplinarität in der nicht disziplinären Wirklichkeit. In: Kocka, Jürgen, (Hg.): Interdisziplinarität, Frankfurt/M.

Hofmann, Werner (1969): Wissenschaft und Ideologie. In: Hofmann, Werner, Universität, Ideologie, Gesellschaft, 4. Aufl., Frankfurt/M.

Koselleck, Reinhart, Hg. (1978): Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart.

Lucas, Friedrich J. (1965): Zur Geschichts-Darstellung im Unterricht. In: GWU (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht) 16, H. 5.

Maek-Gérard, Eva; Muhlack, Ulrich; Zitzlaff, Dietrich (1974): Zur Rolle der Geschichte in der Gesellschaftslehre: Das Beispiel der hessischen Rahmenrichtlinien, Stuttgart.

Oexle, Otto Gerhard (1996): Geschichte als Historische Kulturwissenschaft. In: Wolfgang Hardtwig; Hans-Ulrich Wehler, (Hg.): Kulturgeschichte Heute. Göttingen.

Pandel, Hans-Jürgen (1978): Integration durch Eigenständigkeit? In: Schörken, Rolf, (Hg.): Zur Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht, Stuttgart, 346-379.

Pandel, Hans-Jürgen (1990): Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der deutschen Spätaufklärung bis zum Frühhistorismus (1765-1830), Stuttgart.

Pandel, Hans-Jürgen (1998): Tiere in der Geschichte. In: Geschichte lernen 11, H. 64, S. 7-14.

Rust, Holger (1977): Dialektik als Gestaltungsprinzip gesellschaftswissenschaftlicher Argumentation. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 29, H. 3.

Sämmer, Günter ; Wagner, Andrea (1997): Projektorientierter und fächerverbindender Unterricht auf der gymnasialen Oberstufe. Das "Bergheimer Modell". In: Pädagogik. 49, 44-49.

Schleier, Hans (2000): Historisches Denken in der Krise der Kultur. Fachhistorie, Kulturgeschichte und Anfänge der Kulturwissenschaften in Deutschland, Göttingen.

Spillmann, Kurt R.; Spillmann, Kati (1988): Friedrich Wilhelm I. und die preußische Armee. Versuch einer psychohistorischen Deutung. In: HZ (Historische Zeitschrift) 246, S. 549-589.

Ulshöfer, Robert (1971): Theorie und Praxis des kooperativen Unterrichts. Stuttgart.

Wehler, Hans-Ulrich (1973): Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt/M.

Wernhart, Karl R., Hg. (1986): Ethnohistorie und Kulturgeschichte, Köln.

 

 

Rohlfes, Joachim (2004): Historischer und politischer Unterricht – ein pragmatischer Blick

In der Diskussion um das Verhältnis von politischer und historischer Bildung liegen, so scheint es, alle Aspekte und Argumente auf dem Tisch. Man hat den Eindruck eines weitgehenden Konsenses, und es sind allenfalls Nuancen, in denen sich die Protagonisten unterscheiden. Historischer und politischer Unterricht, so kann man resümieren, stimmen in ihren Anliegen weithin überein: Sie verfolgen gleiche oder außerordentlich ähnliche Lernziele, beziehen sich auf überwiegend identische Leitkategorien und Schlüsselqualifikationen, bearbeiten vielfach dieselben Gegenstandsfelder und bedienen sich großenteils übereinstimmender Lehr- und Lernverfahren.

Auch ihre Bezugswissenschaften stehen einander sehr nahe und überlappen sich mannigfach. Die Geschichtswissenschaften haben es stets und heute mehr denn je auch mit politologischen, soziologischen, ökonomischen, geografischen und juristischen Fragestellungen und Konzeptionalisierungen zu tun. Historiker müssen sich einigermaßen in diesen Nachbardisziplinen auskennen, wenn sie sich etwa mit der Parteiengeschichte des 19. Jahrhunderts, der Rolle der Intellektuellen im Zeitalter der Aufklärung, der Weltwirtschaftskrise seit 1929, der Urbanisierung in den letzten zwei Jahrhunderten oder der Verfassung des Deutschen Bundes von 1815 beschäftigen. Umgekehrt können die "systematischen" Sozialwissenschaften die historische Dimension nicht ausklammern, wenn sie ihren Gegenständen gerecht werden wollen: Der Politologe muss einiges von der russischen Agrargesellschaft des 19. Jahrhunderts kennen, wenn er Lenins revolutionäre Strategie von 1917 richtig interpretieren will; der Soziologe braucht konkrete Vorstellungen von der vormodernen Ständegesellschaft, um die Struktur der Klassengesellschaft zu durchschauen; der Ökonom hängt mit seiner Kapitalismustheorie in der Luft, wenn er sie nicht auf die Realitäten der Industrialisierung beziehen kann; zur Landeskunde des Geografen gehört unabdingbar die Landesgeschichte; der Verfassungsrechtler bedarf der Folie der Weimarer Republik, sofern er dem Grundgesetz von 1949 gerecht werden will.

Die früher oft vorgenommene Unterscheidung zwischen der Historie, die es mit der Vergangenheit zu tun hat, und der Sozialwissenschaft, die sich an der Gegenwart orientiert, ist zwar nicht völlig obsolet geworden, muss aber erheblich eingeschränkt und relativiert werden. Das Fach Geschichte bezieht seine Fragen an die Vergangenheit in entscheidendem Maße aus den Problemen und Erfahrungen jeweiliger Gegenwarten; die sozialwissenschaftlichen Disziplinen müssen in der Lage sein, heutige Zustände und Aufgaben auch in ihrem Gewordensein, in ihrer Herkunft aus weiter zurückliegenden Entwicklungen zu betrachten.

Viele heutige Forschungs- und Erklärungsparadigmen sind überhaupt nicht mehr oder nur sehr begrenzt einzelnen Fachwissenschaften zuzuordnen. Die Hermeneutik ist keine Domäne allein der Geschichtswissenschaft, auch die Politologen, Soziologen und nicht zuletzt die Juristen bedienen sich ihrer. Die kritisch-dialektische Herangehensweise ist mehr oder minder allen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften gemeinsam. Das analytische Verfahren finden wir in ungefähr gleicher Form bei Soziologen, Ökonomen, Politologen und Historikern. Quantitativ-statistischen Methoden begegnet man nicht nur bei Wirtschaftswissenschaftlern und Geografen, sondern auch bei Historikern, Politologen, Soziologen und mitunter auch in der Jurisprudenz. Ohne eine typologisierende und generalisierende Begriffsbildung kommt ebenfalls keine der genannten Disziplinen zurecht. Die Fächergrenzen sind, wie Reinhold Hedtke überzeugend herausgearbeitet hat, außerordentlich durchlässig geworden, und die Zahl der Subdisziplinen ist so angewachsen, dass die Fächerprofile insgesamt ihre klaren Konturen verlieren (1).

Dennoch dürfte es weiter Sinn machen, auf gewissen unverwechselbaren Wesensmerkmalen der "Großfächer" zu beharren und sie als fundamentale Erklärungskonzepte zu verstehen, die nicht wechselseitig austauschbar sind und darum in ihrer Eigenständigkeit nicht preisgegeben werden dürfen. Das setzt, auf der Ebene der Forschung wie des Unterrichts, der Fächerintegration feste Grenzen. Man pflegt diese nicht mehr hintergehbaren Verschiedenheiten an bekannten Begriffspaaren festzumachen.

Die Neukantianer Windelband und Rickert unterschieden nomothetische und idiografische Disziplinen: dort die nach Regelhaftigkeit und Gesetzen suchenden, normbildenden Fächer; hier die Tatsachen sammelnden, berichtenden, ordnenden, deutenden. Die Neukantianer hatten dabei die Natur- und Geisteswissenschaften im Blick, wir können dies auf die sozialwissenschaftlichen und die historischen Disziplinen übertragen.

Eine andere Gegenüberstellung bezieht sich auf die jeweiligen Perspektiven und Erkenntnisinteressen: Historiker erkunden die res gestae, das tatsächlich Geschehene; Sozialwissenschaftler die res gerendae, die gegenwärtig und zukünftig anstehenden Aufgaben. Die ersteren begnügen sich damit, eine gewesene, aber noch in die Gegenwart hineinwirkende Realität (genauer: das davon rekonstruierte Bild) zu erschließen; die letzteren wollen zwar auch gegenwärtige Realitäten ergründen, dabei aber nicht stehen bleiben, sondern sie beeinflussen, mitgestalten, verändern.

Ein drittes Begriffspaar lautet: narrativ-individualisierend versus systematisch-generalisierend. Der Historiker gibt den Bezug auf das Konkret-Einmalige nie auf, nimmt die Vielfalt der historisch vorfindbaren Sachverhalte wichtig, will sie zwar in ihren allgemeinen strukturellen und prozessualen Zusammenhängen erhellen und deuten, hält sich aber mit definitiven, alle Besonderheiten einschließenden Generalerklärungen zurück und nimmt nicht in Anspruch, die Dinge auf den "einen", alle anderen Deutungen ausschließenden "Punkt" bringen zu können. Der Sozialwissenschaftler dagegen möchte die Mannigfaltigkeit des Faktischen transzendieren, es auf Befunde verdichten, die die zeit- und raumspezifischen Zufälligkeiten und Besonderheiten hinter sich lassen und damit den "Transfer" auf andere Konstellationen ermöglichen, also Entscheidungs- und Handlungskompetenz vermitteln. Um ein Burckhardt-Wort weiterzuspinnen: Historisches Wissen macht "weise für immer", sozialwissenschaftliches "klug für ein andermal".

Ein letztes Begriffspaar stammt von Hans-Jürgen Pandel, der dabei vornehmlich die didaktische Funktion der Fächer im Blick hat. Danach kommt der politischen Bildung dis "Orientierung in der Gegenwart", "für die absehbare Zukunft" und für "politisches Handeln" zu, der Geschichte die "(Handlungs-)Orientierung in der Zeit"; der Politikunterricht habe es mit der "Dimension von Macht und Herrschaft" zu tun, der Geschichtsunterricht mit den "Kontingenzerfahrungen der Lebenspraxis" (2). Abgesehen davon, dass die hier verwendeten Begriffe auf unterschiedlichen Ebenen liegen und dadurch schiefe Kontrastierungen entstehen: Nicht nur der politische, auch und gerade der historische Unterricht hat es mit Macht und Herrschaft zu tun und eine Divergenz lässt sich hier beim besten Willen nicht erkennen - genauso wenig wie hinsichtlich der Zeitdimension, die für beide Fächer konstitutiv ist. Insofern dürfte allenfalls der Stellenwert der Kontingenz als Unterscheidungsmerkmal taugen.

Über die inhaltlich-thematischen Gemeinsamkeiten der beiden Fächergruppen braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Sie liegen in erster Linie im Bereich der Zeit- und Gegenwartsgeschichte. Man sieht es den Standardwerken etwa zum Nationalsozialismus weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick an, ob sie von Politik- oder Geschichtswissenschaftlern stammen. Karl Dietrich Brachers große Studie "Die deutsche Diktatur" von 1969 unterscheidet sich von Hans-Ulrich Wehlers Monumentalwerk "Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914 - 1949" aus dem Jahre 2003, von der unterschiedlichen Literaturbasis und Detailauswahl einmal abgesehen, in ihren Erkenntnisinteressen, Fragestellungen und Kategorien nur in individuellen Nuancen, nicht generell - was unterschiedliche Schwerpunktbildungen, Thesen und Resultate nicht ausschließt. Wie jede Bibliografie ausweist, haben Politologen und Historiker mit fast gleichen Anteilen zur Erforschung des 20. Jahrhunderts beigetragen, sei es zur Weimarer Republik, zum "Dritten Reich", zur Bundesrepublik und DDR, zur europäischen Integration. Gleichwohl haben sie dabei zumeist unterschiedliche Akzente gesetzt - gemäss den oben beschriebenen wissenschaftstheoretischen Prämissen.

Man kann noch viele andere gemeinsame Themenfelder benennen, in denen es absolut keine Fächermonopole gibt: politische Philosophie und Staatslehre; Verfassungsgeschichte; Menschenrechte; politische Kulturen; Parteien und Verbände; Gesellschaftsordnungen; Generationen und Altersstufen; Traditionen; Wirtschaftssysteme; Konjunkturen und Krisen; Industrialisierung; Nationalismus; Imperialismus und Kolonialismus; Erste und Dritte Welt; Europäisierung; Ost-West- und Nord-Süd-Konflikt; Krieg und Frieden; Rechtsordnungen; Staaten und Völker; Länder und Regionen; Urbanisierung; Schichten und Klassen; Ernährung und Gesundheit; Umwelt; Wissenschaft und Forschung; Erziehung und Bildung; Verkehr und Kommunikation; Technik und Arbeitswelt.

Diese und andere Forschungs- und Unterrichtsgegenstände nötigen die beteiligten Fächer auf einander zuzugehen. Das kann in drei Beziehungsstufen geschehen: Die Fächer versorgen sich wechselseitig mit Kenntnissen, die sie mit den eigenen professionellen Kräften nicht zu produzieren vermögen (Kompensation). Sie vereinbaren arbeitsteilige, aber getrennte Bearbeitungen komplexer Themenfelder (Koordination). Sie nehmen disziplinär eigenständig, aber aufeinander abgestimmt Forschungs- oder Vermittlungsaufgaben mit dem Ziel in Angriff, gemeinsame Ergebnisse vorzu1egen (Kooperation). Die theoretisch mitunter postulierte Verschmelzung (Integration) der Fächer dürfte ein Irrweg sein. Sie ist bislang nicht nur in der Praxis gescheitert, sondern entbehrt auch jeder wissenschaftshistorischen und theoretischen Plausibilität. Unser Wissenschaftsbetrieb hat sich ständig weiter differenziert und spezialisiert und verdankt vor allem dieser Entwicklung seine Erfolge. Jede Entdifferenzierung wäre ein Rückschritt, auch im Bereich der Schule. Das schließt Bemühungen, den Kosmos der Fächer in seinem Zusammenhang zu betrachten, keineswegs aus. Aber eine solche Zusammenschau geschieht auf einer anderen Ebene und darf nicht mit einer innerfachlichen Integration verwechselt werden.

Alle bisher vorgetragenen Überlegungen bewegen sich auf Stufen hoher Allgemeinheit und Abstraktion. Deren Relevanz für den täglichen Schulbetrieb dürfte aber eher gering sein. Hier stehen andere Faktoren im Vordergrund: das Können und die persönliche Ausstrahlung der Lehrenden; das soziale und geistig-kulturelle Klima in den Lerngruppen; die motivierende Kraft der Unterrichtsgegenstände; die Bedeutung eines Faches für die je persönliche Schul- und vielleicht auch die spätere Berufskarriere; die Qualität der Unterrichtsmedien.

Auf diese letzteren soll im Folgenden die Aufmerksamkeit gelenkt werden, und zwar nicht auf die schon häufiger untersuchten Lehrbücher und sonstigen Unterrichtsmaterialien, sondern auf ein recht peripheres Hilfsmittel: die Lexika und Nachschlagewerke für die Fächer Geschichte und Politik. Die leitende Frage dabei ist, ob sich die oben beschriebenen theoretischen Positionen in diesem Schrifttum widerspiegeln oder ob das Eine mit dem Anderen nur wenig zu tun hat.

Nachschlagewerke wenden sich an unterschiedliche Adressaten. Für unsere Untersuchung kommen natürlich keine Bücher für den wissenschaftlichen Gebrauch und auch keine Spezialwörterbücher (etwa für die christliche Antike oder die Politische Psychologie) in Frage. Einschlägig sind für unsere Zwecke nur die allgemeinen, mit vergleichsweise kurzen Artikeln aufwartenden Fachlexika, die für ein interessiertes Laienpublikum, mithin auch für Gymnasiasten der Oberstufe geschrieben wurden.

Die nachfolgend erörterten Befunde basieren auf einer eher grobmaschigen Durchsicht von je drei Werken zur Geschichte und zur Politik (3) sowie einer detaillierteren Erhebung in Form von Stichproben, die unter den willkürlich ausgewählten Buchstaben A, L und T vorgenommen wurden.

In den untersuchten Lexika findet man hauptsächlich Begriffe, Fachausdrücke, Fakten, Namen. Sie werden in der Regel knapp erläutert; tiefergehende Erörterungen fehlen nicht ganz, sind aber eher die Ausnahme. Auch die Theorieebene der facheigenen Konzepte, Paradigmen, Kategorien, Methoden wird nur selten einbezogen. Der Schwerpunkt der Bücher liegt eindeutig bei den Kurzdefinitionen und Sachinformationen. Diese können durchaus anspruchsvoll ausfallen, bleiben aber in der Regel eine gründ1iche Vertiefung schuldig. Das schränkt natürlich den Aussagewert unserer Befunde ein.

Versucht man sich zunächst einmal an einer pauschalen Klassifizierung der in den beiden Lexikongruppen begegnenden Stichwörter, so halten sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungefähr die Waage. In den historischen Werken findet man vergleichsweise viele Personen- (einschließlich der Dynastie-)Namen; trotz des Vordringens der Strukturgeschichte in der Geschichtswissenschaft scheint also die biografisch-personengeschichtliche Sichtweise nach wie vor ein erhebliches Gewicht zu haben. Gleichermaßen viel Raum nehmen die Einträge zu Orten, Ereignissen und längerfristigen Entwicklungen ein: Verträge, Aufstände, Schlachten, Kriege, Epochen. Dergleichen Artikel sind in den Politiklexika eher selten. Stattdessen begegnen hier viele termini technici (Änderungsantrag, Listenwahl), dazu auffallend viel Allgemeinbegriffe der heutigen Kultur- und Wissenschaftssprache (Ambivalenz, Loyalität). Das deckt sich mit der gängigen Gegenüberstellung: Faktenorientierung der Historiker, Systembezug der Politologen.

Wie ebenfalls nicht anders zu erwarten, richten sich die Beiträge der Geschichtswörterbücher fast ausschließlich auf die Vergangenheit, die des Nachbarfaches vornehmlich auf die Gegenwart. Allerdings gehen die Politikbücher bei weitem häufiger auf zurückliegende Zeiten ein als die Geschichtsbücher auf die Gegenwart. Hier scheint sich eine Diskrepanz zu sonstigen Unterrichtsmaterialien und insbesondere wohl zur Unterrichtspraxis im Fach Geschichte aufzutun, in denen Gegenwartsbezug und Aktualisierung zu den didaktischen Selbstverständlichkeiten gehören (auch wenn Theorie und Praxis nicht immer übereinstimmen mögen und die Defizite in der Umsetzung nicht zu unterschätzen sind).

Schaut man auf die Sachaspekte, gibt es deutlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Beide Lexikontypen weisen ein ähnlich breites Angebot bei den Verfassungsordnungen und Regierungssystemen, den Ämtern und Institutionen, dem Rechtswesen und den Rechtskulturen, den Parteien und Verbänden, den Politikbereichen (von der Agrar- bis zur Tarifpolitik), den politisch-gesellschaftlichen Ideen und Bewegungen, dem Militär- und Kriegswesen, der internationalen Politik, den sozialen Gruppen und Schichten, den gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Prozessen und selbst bei den großen historischen Epochen auf. Sogar die Lücken sind gemeinsam: vor allem in der Umweltthematik und im Wissenschafts- und Bildungsbereich. Die Unterschiede sind dagegen ziemlich marginal: In den Politikbüchern ist häufiger von wirtschaftlichen und fiskalischen Zusammenhängen die Rede, in den Geschichtsbüchern von kirchlich-religiösen. Hier tauchen auch öfter Hinweise zu den Quellen auf, denen auf politologischer Seite kein Pendant gegenüber steht.

Die interessantesten Befunde ergeben sich beim Einzelvergleich: Wie gehen die beiden Fächergruppen mit ausgewählten identischen Begriffen um? Um den Gesamteindruck vorwegzunehmen: Die Geschichtslexika halten sich mehr an die konkreten, faktografisch festzumachenden Sachverhalte; die Politikwerke versuchen sich gern an Bestimmungen dessen, was man Wesensmerkmale nennen mag. Das ist alles andere als überraschend, sondern bestätigt die gängigen Topoi. Dabei darf man freilich den gegenläufigen Trend nicht übersehen: Den politologischen Darstellungen mangelt es keineswegs an Verweisen auf konkretes Historisch-Faktisches, den historischen nicht an Verallgemeinerungen und auf das Prinzipielle zielenden Definitionen.

Charakteristische Beispiele: Die Politiklexika handeln relativ ausgiebig von der "Toleranz" "als solcher", die historischen davon jedoch nur kurz und im Übrigen von der "Toleranzakte", dem "Toleranzedikt", dem "Toleranzgeld" und dem "Toleranzpatent", thematisieren also quasi die tatsächlichen Auswirkungen der Toleranzidee. "Adel" ist für die Historiker ein ausgesprochen ergiebiges Stichwort, bei dem sich gelebtes Leben eröffnet; die Politologen verlagern es auf "Aristokratie" und behandeln es unter der Rubrik "Herrschaftsformen". Bei dem Kennwort "Außenpolitik" bleiben die historischen Bücher stumm, während die Politikbücher hier aus dem Vollen schöpfen und sich ausführ1ich in Theorie- und Systematisierungsfragen ergehen. Mit aller Vorsicht mag man diese Beobachtungen verallgemeinern: Die viel berufene theoretische Wende der Geschichtswissenschaft in den Siebzigerjahren hat nicht zu einem Gleichziehen mit den Sozialwissenschaften geführt. Deren theoretisch-systematische, "nomothetische" Dimension ist ungleich stärker entwickelt und dichter besetzt, und die Historiker können (und wollen) damit nicht konkurrieren.

Das wiederholt sich auch auf dem Feld der Didaktik. Der Politikunterricht bietet vielfach übersichtliche Schemata und einprägsame Modelle an, an denen sich Denken, Lernen und Behalten gut orientieren können. Er bezahlt diese begriffliche Klarheit tendenziell mit einem gewissen Mangel an Lebensnähe, Anschaulichkeit, Vorstellbarkeit. Dem bunten Vielerlei, das der Geschichtsunterricht offeriert, fehlt es oft an Übersichtlichkeit und Einprägsamkeit, und die Lernenden tun sich mit der gedanklichen Durchdringung und Ordnung seiner Gegenstände schwerer. Dafür gewinnen sie die Vorzüge der Handgreiflichkeit und größeren inneren Nähe. Dem Erleben und damit auch den Emotionen und Identifikationsbedürfnissen wird mehr Raum gegeben.

Es entspricht den Erwartungen, dass die politischen Nachschlagewerke den aktuellen Entwicklungen näher stehen als die historischen. Das Altern der Gesellschaft oder ökologische Probleme werden dort stärker aufgegriffen als hier. Man kann den Unterschied gut am Stichwort "Technokratie" überprüfen. Die Historiker-Beiträge fallen ausgesprochen knapp aus, konzentrieren sich auf eine allgemeine Definition und lassen eine solide historische Füllung vermissen. Im vorteilhaften Gegensatz dazu bieten die Sozialwissenschaftler ausführliche Erörterungen des Für und Wider und sparen nicht mit kritischen Beurteilungen.

Mit dem Komplex "Tradition" wiederum vermögen die Historiker mehr anzufangen. Das leisten sie zum einen, indem sie Wesensmerkmale beschreiben, indem sie den historischen Diskurs zu diesem Thema nachzeichnen und wichtige Autoren vorstellen. Die Politologen belassen es bei ziemlich abstrakten Definitionen (wenn sie nicht das Stichwort ganz aussparen) und stellen einen Zusammenhang zum Konservatismus her. Eher in statistisch-analytischen Untersuchungsverfahren bewandert, werden sie bei diesem Thema nicht recht fündig, wohingegen die hermeneutischen Methoden der Historiker hier wesentlich besser greifen.

Ähnliche Eindrücke ergeben sich beim Stichwort "Aufklärung", das sowohl ein Epochenbegriff als auch eine zeitunabhängige Bezeichnung für einen intellektuellen Habitus ist. Beide Disziplinen entfalten den Begriff - von (sehr unterschiedlich ausfallenden) Allgemeindefinitionen ausgehend ("Freiheit von aller dogmatischen Vormundschaft", "geistige Bewegung des Bürgertums") - vornehmlich an den bekanntesten Autoren von Descartes bis Rousseau und den markantesten Vorgängen der politischen Geschichte zwischen 1688 und 1789. Den Politologen liegt dabei, mehr als den Historikern, die kritische Auseinandersetzung mit den Defiziten der Aufklärung am Herzen (festgemacht an Horkheimers/Adornos Kategorie der bloß "instrumentellen" Vernunft). Die Historiker belassen es lieber beim Selbstverständnis der Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts. Dieser Unterschied ist nicht untypisch. Die Sozialwissenschaftler sind durchweg urteils- und wertungsfreudiger, während bei den Historikern offenbar immer noch das Verstehensparadigma dominiert.

Vielleicht etwas überraschender Weise findet sich beim Artikel "Absolutismus" vieles Gemeinsame. Historiker wie Politologen rekonstruieren mit weitgehend übereinstimmenden Schwerpunkten die wesentlichen Merkmale dieser Staatsform in ihren verschiedenen Politikbereichen. Differenzen lassen sich allenfalls insoweit erkennen, als die Historiker stärker auf jeweilige zeitliche und räumliche Ausprägungen abstellen (Früh-, Hoch- und Spätabsolutismus; Frankreich, Preußen, Österreich oder Russland) und die Sozialwissenschaftler gern eine Bilanzierung der Stärken und Schwächen des Systems vornehmen.

Dass der "Terrorismus" bei den Politikwissenschaftlern weit mehr Platz einnimmt als in der historischen Zunft, hängt natürlich damit zusammen, dass er ein eher junges Phänomen (mit dramatischer Steigerung in der Gegenwart) ist, so dass die Historie mit ihren Rückblenden in die Vergangenheit schnell zu Ende kommt. Interessanter Weise beziehen beide Disziplinen auch den "Staatsterrorismus" ein, die Sozialwissenschaftler stärker als die Historiker - vielleicht, weil ihr kritisch-emanzipatorisches Potenzial hier ein willkommenes Objekt findet. Die Historiker begnügen sich im Großen und Ganzen mit der mehr oder minder ausführlichen Erwähnung von Terrororganisationen (von den Jakobinern bis zur RAF), während die Sozialwissenschaftler bemüht sind, nicht nur die verschiedenen Erscheinungsformen des Terrorismus begrifflich sauber zu klassifizieren, sondern auch auf dessen gesellschaftliche Wurzeln und politischen Motive einzugehen. Insoweit könnte man von einem größeren analytischen Ehrgeiz sprechen - auch das eine Beobachtung, die eine behutsame Generalisierung verträgt.

Bei dem Großthema "Liberalismus" verschwimmt die Fachspezifik noch mehr. Das mag damit zu erklären sein, dass der Komplex tief in die Vergangenheit zurückreicht und voll in die Gegenwart hineinragt (wobei Übereinstimmung darin besteht, dass der Liberalismus an sein Ende gekommen sei). In beiden Lexikongruppen begegnet man einer Dreiteilung: Hauptanliegen - Ideengeschichte - Parteiengeschichte. Die bekannten unterschiedlichen Nuancen fehlen natürlich nicht: hier der Hang zum Konkreten, dort die Vorliebe für eine eher abstrakte Systematik.

Das Fazit wurde schon mehrmals präludiert, es kann kurz ausfallen: Die Gemeinsamkeiten zwischen den Disziplinen sind entschieden größer als die Differenzen. Diese treten mehr in leichten Abstufungen als in massiven Gegensätzen zutage. Die historischen Lexika halten sich stärker an das Konkret-Vorstellbare, das Individuelle, das Faktografische, das Kontingente, die Dimension der Vergangenheit, die hermeneutische Herangehensweise. Die politologischen Werke favorisieren das Systematische und Abstrakte, das Generelle und Prinzipielle, das Sach- und Werturteil, die Aktualität und die Prognose, die Problemlösungs- und Handlungsperspektive, die kritisch-analytische Methode. Zwischen beiden Fächern gibt es zahlreiche gleitende Übergänge; jedes bedient sich mannigfacher Anleihen beim Nachbarn.

Im Ganzen scheint der Blick in die Lexika (die die Schätze der Wissenschaft in kleiner Münze zu verteilen suchen) den allgemeinen wissenschaftstheoretischen und fachdidaktischen Diskussionsstand zu bestätigen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Politik- und dem Geschichtsunterricht drängt sich auf, weil sowohl die Inhalte als auch die Methoden der Fächer teilweise bis zur Ununterscheidbarkeit konvergieren. Die Zusammenarbeit stößt jedoch da an ihre Grenzen, wo die facheigenen Spezifika ihr Recht verlangen. So wenig sich Historiker und Politologen gegeneinander abschotten dürfen, so schlecht wären sie beraten, wollten sie nicht an den unverwechsel- und unaustauschbaren Paradigmen ihrer Disziplinen festhalten. Jedes der Fächer verfügt über Kompetenzen und Erkenntnismöglichkeiten, die es nicht mit anderen teilt.

 

Anmerkungen

(1) Reinhold Hedtke, Historisch-politische Bildung - ein Exempel für das überholte Selbstverständnis der Fachdidaktiken. In: Politisches Lernen Jg. 21 (1-2), S. 112-122.

(2) Hans-Jürgen Pandel, Geschichte und politische Bildung. In: K. Bergmann u.a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. Aufl. Seelze 1997, S. 321f.

(3) Meyers Taschenlexikon Geschichte, Mannheim 1982. Erich Bayer/Frank Wende: Wörterbuch zur Geschichte. 5. Aufl.

 

Literatur

Bayer, Erich; Wende, Frank (1995): Wörterbuch zur Geschichte. 5. Aufl. Stuttgart: Kröner.

Drechsler, Hanno u.a. (1989): Gesellschaft und Staat. 7. Aufl. Baden-Baden: Signal.

Fuchs, Konrad; Raab, Heribert (1998): Wörterbuch Geschichte. 11. Aufl. München: dtv.

Hedtke, Reinhold (2003): Historisch-politische Bildung - ein Exempel für das überholte Selbstverständnis der Fachdidaktiken. In: Politisches Lernen. Jg. 21 (1-2), Seite 112-122.

Meyers Taschenlexikon Geschichte (1982). Mannheim.

Nohlen, Dieter (1991): Wörterbuch Staat und Politik. München: Piper.

Pandel, Hans-Jürgen (1997): Geschichte und politische Bildung. In: Bergmann, Klaus u.a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. Aufl. Seelze, Kallmeyer, Seite 321f.

Schmidt, Manfred (1995): Wörterbuch zur Politik. Stuttgart: Kröner.

 

Schörken, Rolf (1999): Kooperation von Geschichts- und Politikunterricht

 

1. Zur Genese des Problems

Das Problem der Kooperation von Geschichts und Politikunterricht ist so alt wie die politische Bildung in der Bundesrepublik. Es entstand nicht durch von außen herangetragene Forderungen oder didaktische Moden, sondern aus der Sache selbst. Man kann Politik nicht ohne Geschichte, Geschichte nicht ohne Politik verstehen. Geschichtsunterricht und Politikunterricht haben in ihren Gegenstandsfeldern viele Gemeinsamkeiten; bereits auf den ersten Blick ist sichtbar, dass z. B. die Zeitgeschichte dazu gehört. Auch die Unterrichtsziele sind teilweise gemeinsam, und die Methoden haben sich angenähert.

Man kann noch einen Schritt weiter gehen: Politikunterricht ist Demokratieunterricht. Fragt man nach der Notwendigkeit eines solchen Unterrichts, den es ja in Großbritannien, Frankreich, der Schweiz und anderen alten Demokratien so nicht gibt, kann man die Antwort nur geben, wenn man die deutsche Geschichte des 19. und vor allem des 20. Jhs. kennt.

Nichts läge näher, als auf eine unproblematische Zusammenarbeit zu schließen. Davon kann jedoch keine Rede sein. Die Kooperation hat sich als ein Feld voller Schwierigkeiten erwiesen, die von der Theorie bis in die Praxis, von Gesamtkonzeptionen bis in die einzelne Unterrichtsstunde, von der Stundentafel bis zur Lehrerausbildung reichen. Die Fachlehrerverbände haben lange Zeit eine Haltung deutlichen Misstrauens gegeneinander eingenommen, was nicht zuletzt auf die materielle Interessenlage der Fachlehrer (Zahl der Lehrerstellen) zurückzuführen war. Schwierigkeiten bestanden vom Beginn der Zusammenarbeit an. Der Geschichtsunterricht blickte auf eine jahrhundertealte Tradition zurück und war im Bewusstsein der Öffentlichkeit in seiner Notwendigkeit nie angezweifelt worden, als in den fünfziger Jahren die [/S. 630:]ersten Versuche unternommen wurden, "Sozialkunde" in die Stundenpläne einzuführen. Es lag nahe, dies in engem Verbund mit dem Geschichtsunterricht zu tun, der bisher als der "natürliche" Ort der politische Bildung galt – freilich mit zweifelhafter Vergangenheit, was den Demokratiegedanken anging.

Die sozialkundlichen Unterrichtsanteile wurden von Geschichtslehrern gegeben, solange es noch keine eigenen Studiengänge für Sozialwissenschaften gab. Erst nach und nach wurde im Unterrichtsvollzug selbst und in der sich seit den sechziger Jahren rasch herausbildenden Didaktik der Sozialkunde deutlich, dass die Sozialkunde ihren eigenen Gegenstandsbereich hatte, vereinfacht gesagt: Politik, Gesellschaft und Wirtschaft der Gegenwart, wogegen der Geschichtsunterricht die Gegenwart erst immer gegen Ende des jeweiligen historischen "Durchgangs" erreichte, was zu wenig war, um Schüler in die komplexe Welt einzuführen, in der sie lebten und für die sie politisch handlungsfähig gemacht werden sollten. Als in den sechziger und frühen siebziger Jahren die Sozialkunde bzw. "Politik" ihre Leitprinzipien formulierte, waren darunter viele, die vom Geschichtsunterricht nicht abgedeckt werden konnten wie z. B. der Konfliktgedanke, das Kontroversprinzip, die Handlungsorientierung und die Zukunftsorientierung. Auch in den ersten Sozialkundelehrbüchern wurde deutlich, dass die Unterschiede zum Geschichtsunterricht beträchtlich waren und dass die Zeiten zu Ende gingen, in denen die Geschichtslehrer den sozialkundlichen Anteil gewissermaßen nebenbei mit übernehmen konnten.

 

2. Typologie von Konzeptionen der Zusammenarbeit

 

2.1 "Unterrichtsprinzip" politische Bildung

Schon in den frühen fünfziger Jahren schenkte man der politische Bildung in der Schule Aufmerksamkeit, ohne dass ihr Gegenstandsbereich umrissen gewesen wäre und ohne dass ausgebildete Lehrer zur Verfügung gestanden hätten. PB sollte Unterrichtsprinzip für alle (!) Fächer sein, und man mühte sich, für so unterschiedliche Dinge wie den Sprach , den Kunst , den Sportunterricht gemeinsame Bezugspunkte der politischen Bildung zu finden. Meist lief das auf den Begriff der "Gemeinschaftsbildung" hinaus. Der Begriff wurde aus der Reformpädagogik der Weimarer Republik übernommen, ohne dass seine Pervertierung im "Dritten Reich" recht zur Kenntnis genommen worden wäre. Mit zunehmendem sozialwissenschaftlichen Reflexionsniveau verschwand der Gemeinschaftsbegriff, während der pädagogische Begriff des Unterrichtsprinzips an seiner Wolkigkeit krankte. Dass die politische Bildung dennoch nicht zugrunde ging, sondern überhaupt erst am Anfang ihrer Entwicklung stand, ist den vielen enthusiastischen Lehrern zu verdanken, die sich ihr widmeten.

 

2.2 "Addition"

Die frühen Versuche einer Kooperation waren Additionsmodelle: Dem Geschichtsunterricht wurden politisch sozialkundliche Aspekte in Form von Zusätzen beigefügt. Charakteristisch war die Verwendung von Konjunktionen wie "mit" oder "und": "Geschichte mit Sozialkunde", "Geschichte und Sozialkunde". Demselben Typ zugehörig, aber inhaltlich erweitert, war der Versuch der Saarbrückener Rahmenvereinbarung der Kultusminister von 1960, ein Sammelfach "Gemeinschaftskunde" zu kreieren, das sich aus den Einzelfächern Geschichte, Erdkunde und Sozialkunde nebst Philosophie zusammensetzte. Die Schwäche der Rahmenverein[/S. 631:]barung lag darin, dass sie auf den Gedanken setzte, die Addition von Einzelfächern würde als Summe von allein so etwas wie politische Bildung ergeben. Immerhin bewegte die Rahmenvereinbarung diejenigen Bundesländer, die sich bisher der Sozialkunde gegenüber taub gestellt hatten, dazu, dieser die Tür zu öffnen.

 

2.3 Das "Aspekt" Modell

Das Aspekt Modell beruht auf der Überlegung dass die meisten Themen des Politikunterrichts einen historischen Aspekt haben und umgekehrt viele Themen des Geschichtsunterrichts einen politischen, der sich u. U. für die Gegenwart aktualisieren lässt. In Unterrichtsmodellen und Lehrbüchern wurde die Abstimmung der Aspekte so gehandhabt, dass bei historischen Themen der sozialwissenschaftlich politische Aspekt an das historische Thema angehängt wurde, während man bei sozialkundlich politischen Themen den historischen Aspekt in der Regel als Einleitung vorschaltete, damit er als Genese des Problems dienen konnte. Für einen problemorientierten Geschichtsunterricht oder Politikunterricht erwies sich dieses Modell als brauchbar, vor allem dann, wenn die schematische Reihenfolge, die in der bloßen Vorschaltung oder Anhängung des jeweils anderen Aspektes lag, aufgegeben wurde zugunsten größerer Flexibilität.

 

2.4 "Integration"

Aus dem Ungenügen der Additions und Aspektlösung und aus dem Wunsch, weitreichendere Lösungen zu finden, wurde die Integrationsidee geboren. Die Integration wollte eine Verschmelzung der Fächer Geschichte und Sozialkunde. Weiter reichende Versuche schlossen auch das Fach Erdkunde mit ein. Die Arbeit an den Integrationsmodellen fiel in eine Zeit philosophischer Unruhe und didaktischer Neuansätze, angeregt durch neue Ideen in der Pädagogik, Philosophie und den Sozialwissenschaften. In der Pädagogik waren es vor allem amerikanische Erkenntnisse und Theorien über den Erkenntnisgewinn von Kindern und Schülern, die den Gedanken nahelegten, "Gesamt" Fächer anzulegen, aus denen sich im Prozess des Lernfortschrittes die Einzelfächer herauskristallisieren sollten. So gab es Vorschläge, ein Gesamtfach Naturwissenschaften zu bilden und eben auch ein Gesamtfach Gesellschaftslehre.

Was den Jahren, in denen an der Integrationslösung gearbeitet wurde, ihr besonderes Gepräge gab, war ein Modernitätsschub in der Öffentlichkeit und das Auftreten einer neuen Generation: die sogenannten 68er betraten die Bühne. Die öffentliche Erregung, die durch die Studentenunruhen ausgelöst wurde und die Furcht, dass diese Unruhen auch auf die Schulen übergreifen würden, erklärt, dass zum ersten Mal rein didaktische Fragen, wie es z. B. die Fächereinteilung oder Richtlinien waren, mit Aufmerksamkeit und Argwohn von der Öffentlichkeit beobachtet wurden. Die am entschiedensten vorgetragene Integrationslösung, die der Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre S I (1973), kam geradezu in den Geruch des Umstürzlerischen, und die öffentliche Diskussion bekam Züge einer parteipolitischen Kontroverse, die der sachlichen Auseinandersetzung nicht dienlich war. Für die Sache wichtiger war die didaktische Kritik der Fachleute. Diese lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Es gelang den Hessischen Rahmenrichtlinien nicht, eine Balance der beteiligten Fächer Geschichte und Sozialkunde herzustellen, die Geschichte geriet in eine untergeordnete Rolle, die Kritiker K. E. Jeismann und E. Kosthorst stellten fest, Geschichte käme nur noch durch Sehschlitze in den Blick, die von sozialwissenschaftlichen Fragestellungen geöffnet würden.

[/S. 632]Damit war die Achillesferse aller Integrationslösungen berührt: Welchen Ansatz man auch wählt, man kommt an dem Problem nicht vorbei, dass bei einer Integration entweder das eine oder das andere Fach geschädigt wird, und zwar nicht nur in einigen Gegenstandsfeldern, sondern in seiner Grundstruktur. Legt man einem integrierten Gesamtfach Gesellschaftslehre eine diachronische Struktur zugrunde, ist es unausweichlich, dass die systematischen oder problemorientiert gegenwartskundlichen Momente der Sozialwissenschaften zu kurz kommen; legt man ihm eine systematische oder eine problemorientiert gegenwartskundliche Struktur zugrunde, erleidet die Diachronie – unaufgebbares Prinzip der Geschichte – schwere Einbußen. Auch wenn man dies nicht anstrebt, ist es unausweichlich, dass die eine oder die andere Seite in eine Hegemonierolle hineingerät.

Eine Variante des Integrationsmodells ist seit 1989 an den Hauptschulen Nordrhein-Westfalens in Kraft interessant, deshalb, weil man hier einen neuen Weg ging, ein Gleichgewicht von Geschichte und Politik herzustellen. Das Fach nennt sich "Geschichte/Politik" und leitet sich nicht vom hessischen Integrationsmodell ab, sondern geht auf die ältere Tradition des Hauptschulfaches "Geschichte mit Politik" zurück. Die Abwertung der Politik, die in dem Wörtchen "mit" begründet lag, wurde aufgehoben, indem die Politik in ein gleichberechtigtes Verhältnis zur Geschichte gesetzt wurde. Dabei ging man diesen Weg: Der gesamte Lehrplan ist in Form von 23 thematisch akzentuierten Unterrichtseinheiten angelegt. Aufs Ganze gesehen bieten diese Unterrichtseinheiten einen lockeren chronologischen Längsschnitt durch die Geschichte von der Urgeschichte bis zur Gegenwart, folgen also der Diachronie des Geschichtsunterrichts und nicht der achronischen Ausrichtung des Politikunterrichts. Dennoch werden die Anliegen des Politikunterrichts von Anfang an berücksichtigt, indem in jeder Unterrichtseinheit politisch soziale Fragen im Zusammenhang mit dem Thema aufgeworfen werden. Der Anteil politischer Qualifikationen an den Unterrichtseinheiten wird dabei von Jahr zu Jahr größer und überwiegt im letzten Schuljahr den historischen. Man könnte sagen, dass dieser Typ der Kooperation als Geschichtsunterricht beginnt und als Politikunterricht endet.

 

2.5 Zusammenarbeit durch Zuordnungen und Abgrenzungen

Die Verschmelzung von Geschichtsunterricht und Politikunterricht führte nach Ansicht vieler Lehrer dazu, dass die Schüler weder das eine noch das andere richtig lernten, und sowohl den Kultusverwaltungen wie auch den meisten Lehrern war es letzten Endes lieber, sich auf dem sicheren Boden zweier Fächer und ihrer zugehörigen Bezugswissenschaften, Studiengänge und Ausbildungswege zu bewegen als auf dem Glatteis eines Integrationsfaches. So richtete man sich weitgehend auf ein Nebeneinander von Geschichte und Politik mit vielfältigen Querverbindungen ein. Es wurden auf der Ebene der Richtlinien Absprachen getroffen, welche Stoffgebiete vor allem aus der Zeitgeschichte von dem einen oder dem anderen Fach übernommen werden sollten, damit Doppelungen vermieden würden. Die Umsetzung in die Praxis ist jedoch nicht immer leicht. So hat es z. B. wenig Sinn, die Entwicklungsländer im Erdkunde oder Politikunterricht zu behandeln, solange nicht wenigstens die Kolonisierungs und Entkolonisierungsepoche im Geschichtsunterricht besprochen worden ist. Zeitliche Absprachen sind nötig, weil die Richtlinienkommissionen verschiedener Fächer meist nebeneinanderher arbeiten.

[/S. 633:]

 

3. Methodische Annäherungen

Der Politikunterricht hat im Laufe seines Bestehens eine Anzahl von spezifischen Unterrichtsmethoden hervorgebracht die es im Geschichtsunterricht nicht gab. Von Anfang an spielten in der Sozialkunde solche Methoden eine Rolle, die nicht klassenzimmergebunden, sondern nach außen auf die umgebende Lebenswelt gerichtet waren. Dazu gehören Erkundungen, Befragungen, Interviews und Projekte. Auch innerhalb des Klassenzimmers haben viele Unterrichtsmethoden den Verweisungscharakter nach "draußen", etwa Rollen und Simulationsspiele. Der Geschichtsunterricht hat inzwischen ebenfalls sogenannte "handlungsbezogene" Lernziele übernommen sowie eine Reihe von Methoden entwickelt, die Ähnlichkeit mit sozialwissenschaftlichen Methoden haben. Die Anstöße dafür kamen aus Alltagsgeschichte und oral history. Neue Tendenzen in der Geschichtsdidaktik wie z. B. Erfahrungslernen sowie der bekannte historische Schülerwettbewerb der Körber Stiftung unterstützten solche Annäherungen. Der heutige Geschichtsunterricht kennt Erkundung, Projekt, Befragung, Interview, Exkursion, Museums und Ausstellungsarbeit, Archivarbeit, Rollenspiel und Entscheidungstraining, freilich nicht als Normalkost des Unterrichts, sondern als seltener angewandte Besonderheiten.

Völlig neue methodische Möglichkeiten bieten die Neuen Medien die bei dem starken Interesse und den oftmals hohen Spezialkenntnissen der Schüler rasch in den Unterricht vordringen. So können Schüler eigene Software herstellen zu lokalen Fallstudien aus der Zeitgeschichte, etwa "Das Dritte Reich in der Stadt NN". Bei solcher Arbeit, die weitgehend außerhalb des Klassenzimmers vor sich geht, fließen Methoden der Sozialwissenschaft und der Geschichte zusammen. Schüler übernehmen die Rolle von Produzenten und lernen dabei viel Methodisches, wie z. B. adressatengerechte Faktendarstellung aussehen muss, welchen Stellenwert sie hat, nach welchen Kriterien sie bewertet werden kann; sie stoßen auf Fragen, wie man etwa komplexe soziale Zustände oder Prozesse veranschaulichen kann. Die Möglichkeit, die Ergebnisse der Arbeit ins Internet einzuspeisen, verleiht der schulischen Arbeit eine Art "Ernstfallcharakter", der leistungsfördernd ist.

 

4. Institutionelle Schwierigkeiten der Zusammenarbeit

Die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit beider Fächer liegen nicht allein in unterschiedlichen Unterrichtskonzeptionen begründet. Es gibt auch institutionelle Probleme. Ein erstes ist der Lehrereinsatz. Wenn an einer Schulform zwei Fächer, z. B. Geschichte und Politik, integriert sind und die eingesetzten Lehrer für beide Fächer die Fakultas haben, bedeutet dies zugleich, dass diese Lehrer Ein Fach Lehrer sind und für kein weiteres Fach mehr eingesetzt werden können.

Die Einrichtung von Integrationsfächern an der Schule wirft schwer zu lösende Probleme für die Fächerkombinationen bereits beim Hochschulstudium auf. Die Fächer an den Universitäten, in unserem Fall die Geschichte einerseits und die Sozialwissenschaften andererseits, sind gewachsene Einheiten mit fest umrissenem Selbstverständnis, das sich im wesentlichen aus den eigenen Forschungsaufgaben und Leistungen speist. Was in anderen Fächern oder gar an den Schulen vorgeht, [/S. 634:]wird meist nur am Rande zur Kenntnis genommen. Ferner muss man bedenken, dass die Sozialwissenschaften an den Hochschulen selbst wieder aus mehreren Einzelfächern bestehen und dass z. B. die Wirtschaftslehre meist zu einem anderen Fachbereich oder einer anderen Fakultät gehört. Aus diesem Grunde ist es ungewöhnlich schwierig, verschiedene Hochschulfächer zu einer funktionierenden integrativen Zusammenarbeit zu bringen, deren Notwendigkeit ja aus der Sicht der Hochschule zudem noch "von außen" kommt.

Über die Zusammenarbeit von Geschichtsunterricht und Politikunterricht wird auf drei institutionellen Ebenen entschieden: auf der Ebene des Kultusministers, der die Grundsatzentscheidung trifft, auf der Ebene der schulformspezifischen Richtlinien und schließlich auf der Ebene der Fachkonferenzen der einzelnen Schulen (Anstaltslehrplan). Einige Bundesländer sind dabei, den Schulen einen größeren Raum für autonome Entscheidungen über Schulprogramme, d. h. auch über Lehrplan und Fächerzusammenarbeit, zuzubilligen. Das könnte, wenn die Lehrer entsprechend motiviert sind, zu verbesserten Formen der Zusammenarbeit auch von Geschichte und Politik führen. Vor allem könnte innerhalb der Schule selbst eine bessere Kontrolle über das stattfinden, was im Unterricht wirklich gemacht wird. Freilich bleibt hinzuzufügen, dass die einzige nicht institutionalisierte Größe, die Individualität des Lehrers, entscheidend bleibt, und das kann im ungünstigen Fall eben auch bedeuten, dass er sich Neuerungen gegenüber verschließt.

Die ideale Form der Zusammenarbeit gibt es nicht. Am ehesten bieten sich in der gegenwärtigen Flaute der Didaktik kleine als große Lösungen an, d. h. Zusammenarbeit auf regionaler oder schulformspezifischer Basis mit möglichst genauer Abstimmung darüber, welche Aufgaben und Inhalte die beiden Fächer jeweils übernehmen sollen.

 

Literatur

Behrmann, Günther C.; Jeismann, Karl Ernst; Süssmuth, Hans (1985): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn.

Jeismann, Karl Ernst (1985): Geschichte als Horizont der Gegenwart. Paderborn.

Jeismann, Karl Ernst; Kosthorst, Erich (1973): Geschichte und Gesellschaftslehre. In: GWU 24 (1973), 262-288.

Schörken, Rolf (Hrsg.) (1978): Zur Zusammenarbeit von Geschichts und Politikunterricht. Stuttgart.

Süssmuth, Hans (1988): Kooperation von Geschichte und Politik. In: Mickel, Wolfgang W.; Zitzlaff, Dietrich (Hrsg.) Handbuch zur politischen Bildung. Bonn, Opladen, 542-549.

Sutor, Bernhard (1997): Historisches Lernen als Dimension politischer Bildung. In: Sander, Wolfgang (Hrsg.) Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts., 323-337.

 

Redaktionelle Änderungen durch sowi-online: Ersetzen von Abkürzungen (PU, pB und GU), Anpassung des Formats der Literaturangaben, Ergänzung der Vornamen der Verfasser.

 

Schuster, Peter (1993): Die gescheiterte Integration der Sozialwissenschaften in der französischen Schule

 

1. Vorbemerkung

Wolfgang Northemann hat seine wissenschaftliche und pädagogische Arbeit bereits zu einer Zeit dem überfachlichen Unterricht gewidmet, da die Diskussion um die Integration der sozialwissenschaftlichen Fächer noch nicht einmal begonnen hatte. Nach einer heftigen und kontroversen Auseinandersetzung um die Integration sind wir nun wieder scheinbar am Ausgangspunkt angekommen. Die Fächerseparation in der Schule feiert fröhliche Urständ. Aber die Diskussion glimmt unter der Asche und wird wieder aufflackern, da die pädagogischen Argumente weiterhin zwingend sind. Die Diskussion wurde nicht nur in Deutschland geführt. Sie fand auch in anderen Ländern mit ähnlichen Argumenten und Frontstellungen statt.

Im folgenden Beitrag will ich die Bemühungen in Frankreich herausarbeiten, die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer in einem gemeinsamen Lernbereich zu integrieren. Auch in Frankreich sind diese Bemühungen ebenso wie in Deutschland zunächst gescheitert. Der erfolgreiche Kampf der Geschichtslehrer-Lobby (1) gegen die Integration ist ein politisches Lehrstück, wie pädagogische Innovationen, die nicht durch öffentliche, fachliche und politische Diskussionen abgesichert sind, am Widerstand einer durch unterschiedliche Interessen getragenen Koalition scheitern können. Der Ablauf des Lehrstücks in so kurzer Zeit und in so konzentrierter Diskussion wird wesentlich durch die zentralistische Struktur Frankreichs ermöglicht.

 

2. Schulsystem in Frankreich

Das Schulsystem in Frankreich umfaßt die dreijährige (freiwillige) vorschulische Erziehung (école maternelle), die fünfjährige Grundschule (école élémentaire), die vierjährige Mittelstufe (collège) und die dreijährige Oberstufe (lycée). Alle Schulen sind als Ganztagsschulen organisiert. Die Grundschule und die Mittelstufe werden als Gesamtschulen geführt. In den zwei oberen [/S. 84:] Klassen der Mittelstufe (collège) findet eine starke äußere Differenzierung statt. Das allgemeine Abitur (baccalauréat d'enseignement général) kann in unterschiedlichen Profilbildungen nach dem Besuch der Oberstufe (lycée) erworben werden. Daneben existieren in der Oberstufe technologische und berufliche Schulen (lycée technologique und lycée professionnel), in denen das technologische bzw. berufliche Abitur erworben werden kann. Neben der schulischen Berufsausbildung in der Mittel- und Oberstufe gibt es erste Ansätze einer dualen Berufsausbildung nach deutschem Vorbild. Das französische Bildungswesen wird zentralistisch von Paris aus verwaltet. Unterrichtspläne (programmes) gelten einheitlich in ganz Frankreich. Hervorzuheben sind das laizistische Prinzip und das der Methodenfreiheit:

  • Das laizistische Prinzip, das 1880 unter dem Erziehungsminister Jules Ferry eingeführt wurde, verpflichtet die staatliche Schule zu weltanschaulicher Neutralität. Nur im Rahmen des nationalen und gesellschaftlichen Konsenses kann in der Schule zu Werten erzogen werden. Dieses Prinzip ist fest im Denken der Lehrer und Bildungspolitiker verankert. Erst in neuerer Zeit beginnt eine Diskussion, die die politische und wissenschaftstheoretische Fragwürdigkeit eines solch neutralen und scheinbar objektiven Anspruchs problematisiert (La Formation 1990, S. 283).
  • Die Unterrichtsmethoden können von den Lehrern frei gewählt werden, soweit es ihnen die äußeren Umstände, wie z.B. hohe Klassenfrequenzen, ermöglichen. Vorherrschend sind lehrerzentrierte und stofforientierte Methoden. Reformpädagogische Ansätze (z.B. Freinet) werden trotz einer gewissen staatlichen Unterstützung seit der Haby-Reform im Jahr 1975 nur selten im Unterricht umgesetzt, in der Grundschule mehr als in anderen Schulstufen.

3. Entwicklung der Fächer Geschichte und Staatsbürgerkunde

Die Fächer Geschichte (histoire) und Staatsbürgerkunde (instruction civique) sind seit gut 100 Jahren Teil der Stundentafel der französischen Schule. Nachdem Geschichte bereits 1867 in der damaligen Volksschule (école primaire) eingeführt wurde, folgten 1882 die Einführung der "instruction civique et morale" und der Erlaß von Unterrichtsplänen für beide Fächer. Erst 1945 wurde Staatsbürgerkunde auch in der Mittelstufe als Fach eingerichtet. Beide Fächer haben im Laufe der Jahre Krisen durchlebt, die ihre Existenz in Frage stellten. Der Unterricht in Staatsbürgerkunde fand schon in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und dann erneut nach 1950 kaum noch statt. Die Gründe sind vorrangig in der Orientierung des Faches an aktuellen politischen Bedürfnissen zu finden. Zu Beginn der III. Repu[/S. 85:]blik in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts war es Aufgabe des Fachs, die Idee der Republik in der Bevölkerung zu verankern. Nach 1945 sollte es einen Beitrag zur Versöhnung der Nation nach Résistance und Collaboration leisten. Nicht zuletzt auch unter dem Einfluß des laizistischen Prinzips war und ist der Unterricht institutionenkundlich orientiert. Er wurde und wird zudem von Lehrern unterrichtet, die für Geschichte und Geographie ausgebildet wurden. Die Krise des Geschichtsunterrichts brach in den 70er Jahren aus. Ihm wurde der Vorwurf gemacht, er sei nationalistisch, chauvinistisch, moralisierend, auf große Personen reduziert, anekdotisch, enzyklopädisch und ohne Gegenwartsbezug (vgl. Giolitto 1986, 5. 49).

Mit der Haby-Reform 1975 sollten nicht nur die Strukturen der französischen Schule, sondern auch ihre Inhalte verändert werden. Unter starkem Einfluß der amerikanischen Curriculumdiskussion wurde lernzielorientierter Unterricht favorisiert, der die tradierten Schulfächer in Frage stellte. Nachdem bereits 1969 die sozialwissenschaftlichen Fächer in der Grundschule integriert wurden, folgte 1975 die Integration auch in der Mittelstufe (collège). Geschichte und Geographie wurden als eigenständige Fächer aufgehoben und in ihrem Stoffkanon zugunsten neuer sozialwissenschaftlicher Inhalte reduziert. Nach nur zehn Jahren entschied 1985 der sozialistische (!) Erziehungsminister Jean-Pierre Chevènement die Aufhebung der von seinen konservativen (!) Vorgängern eingeführten Integration. Geschichte und Geographie wurden wieder selbständige Fächer mit getrennten Unterrichtsplänen. Die alte Staatsbürgerkunde (instruction civique) wurde als Fach "Staatsbürgerliche Erziehung" (éducation civique) wiedergeboren.

4. Integration der Sozialwissenschaften in der Grundschule

Die inhaltliche Reform der Grundschule begann bereits 1969. Die bis dahin existierenden Fächer wurden durch vier Unterrichtsgebiete (Lernbereiche) ersetzt: Französisch mit 10 Stunden, Rechnen mit 5 Stunden, Sport und "disciplines d'éveil" mit je 6 Stunden. Die "disciplines d'éveil" umfaßten Elemente der Geschichte, Geographie, Sozialwissenschaften und der künstlerischen Erziehung. Der Begriff "d'éveil" ist schwer übersetzbar. Ausgehend von den Theorien Piagets soll das Kind sein eigenes Wissen in Interaktion mit seiner Umgebung aufbauen. Es gibt keinen festen Kanon des Wissens. Die Unterrichtsgegenstände ergeben sich aus den "occasions fournies par la vie", den "durch das Leben gebotenen Gelegenheiten". Der Lehrer soll "éveilleur" (Erwecker) sein, der das Lernen der Kinder "erweckt".

Durch die Grundschul-Reform wurden die Lehrer in hohem Maße verunsichert. Auf die veränderten Methoden und Inhalte waren sie nicht vorbereitet. Viel gravierender war jedoch, daß es für den reformierten Unterricht [/S. 86:] in den "activités d'éveil" keine Unterrichtspläne und keine Handreichungen gab. Die Lehrer sollten ihr eigenes Curriculum schulnah erarbeiten. Zugleich mußten sie sich auch für die veränderten Anforderungen in Französisch und Neuer Mathematik fortbilden. Die Folge war, daß der Unterricht in den activités d'éveil weitgehend ausfiel. Das Nationalinstitut für pädagogische Forschung (Institut National de Recherche Pédagogique - INRP) begann unmittelbar 1969 mit einer eigenen Curriculumentwicklung in enger Zusammenarbeit mit Schulen. Ein Beispiel für die dezentrale Curriculumentwicklung des INRP zu den activités d'éveil in Zusammenarbeit mit einer Landschule für den Unterricht in den beiden Abschlußklassen der Grundschule zeigt die nachstehende Tabelle.

Pädagogische Wahlmöglichkeiten im Mittelkurs (CM1, CM2 = 4./5. Klasse)
Wahlmöglichkeit A: ländliche Grundschule (Beispiel der Schule in Manduel bei Nîmes)

Lerninhalte Gegenwart Geographische Synthese nach Bereichen Verankerung in der historischen Dimension Historische Synthese nach Bereichen Synthese früherer Gesellschaften
Fall geograph. Erweiterung 18. Jh. 19. Jh. 18. Jh. 19. Jh.
Industrielle Produktion Zellulose-Fabrik in Tarascon weitere Industriebranchen Industrie in Frankreich Handwerker, Manufakturen, Hüttenwerke Handwerker, Fabriken Industrie in Frankreich Industrie in Frankreich 18. Jh.





und






19. Jh.
Landwirtschaftliche Produktion Landwirtschaftl. Betrieb in Manduel weitere landwirtschaftl. Betriebsformen Landwirtschaft in Frankreich Arten landwirtschaftl. Produktionen Arten landwirtschaftl. Produktionen Landwirtschaft in Frankreich Landwirtschaft in Frankreich
Verteilung        
Dienstleistung Bahnhof von Nîmes   Eisenbahnnetz in Frankreich   Anfänge der Eisenbahn    
Sozialer Raum Stadt Nîmes Nîmes und die Region Städte in Frankreich Nîmes Nîmes Städte in Frankreich Städte in Frankreich

Quelle: Histoire et Géographie, 1986, S, 61

Die Ergebnisse dieser Arbeit ermöglichten es dem Staat, ab 1977 offizielle Unterrichtspläne und -empfehlungen herauszugeben. Aber die schlecht vorbereitete Reform war nicht mehr zu retten. Bereits 1980 gab es wieder neue Unterrichtspläne, die neben den fortgeltenden Lehrplänen der activités d'éveil obligatorisch die Behandlung von zehn Perioden der französischen Geschichte vorschrieben. 1985 wurden als Folge der großen Auseinander[/S. 87:]setzung um den Geschichtsunterricht (vgl. folgende Kapitel) wieder die alten Schulfächer eingerichtet und entsprechende Lehrpläne erlassen.

5. Integration der Sozialwissenschaften in der Mittelstufe

Der integrierte Bereich "Sciences humaines" (Humanwissenschaften) wurde in der Mittelstufe im Rahmen der Haby-Reform 1975 eingeführt und nach zehn Jahren 1985 wieder aufgelöst. Er umfaßte mit drei Wochenstunden die Teilbereiche Geschichte, Geographie, Wirtschaft und staatsbürgerliche Erziehung. Die Begründung für die Integration ist in den offiziellen Unterrichtsplänen von 1977/78 wie folgt dargelegt: "Schließlich sind Geschichte, Geographie, Politologie, Ökonomie und die Sozialwissenschaften nur Mittel im Dienst einer umfassenden Erziehung zu einem besseren Verständnis des kulturellen Erbes der Menschheit und der Welt, in der die Schüler leben werden. Der neue Unterricht dieser Disziplinen soll, ohne die spezifischen Beiträge ihrer verschiedenen Bestandteile zu entstellen, ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Dies ist dazu bestimmt, den Schülern Erkenntnismittel und Methoden zu vermitteln, ebenso gesicherte, bewußt begrenzte Kenntnisse, die ihnen helfen, die Welt, in der sie leben werden, besser zu verstehen und eine verantwortliche Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen" (Histoire, géographie 1979, S. 13). In den Unterrichtsplänen war dieser umfassende Anspruch nicht zu verwirklichen. Widerstand entwickelte sich bereits vor Erlaß der Pläne. So konnte die Bezeichnung des neuen Unterrichtsbereichs nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, "Sciences sociales" (Sozialwissenschaften) lauten, sondern eben "Sciences humaines" (Humanwissenschaften). Schwerwiegender war, daß die Pläne schließlich ein Kompromiß zwischen traditionellen und integrativen Konzepten zu Lasten letzterer wurden. In den Teilbereichen Geschichte, Geographie und staatsbürgerliche Erziehung blieben erhebliche Anteile der traditionellen Unterrichtspläne erhalten. Integrative Inhalte wie diachronische Themen, Projektthemen und Gegenwartsfragen standen unverbunden daneben. Neue sozialwissenschaftliche und ökonomische Inhalte waren nicht annähernd gleichgewichtig neben den traditionellen Inhalten vertreten.

Als Beispiel für die Unterrichtspläne in den "Sciences humaines" von 1977/78 sei der Plan für die classe de cinquième, die der 7. Klasse in Deutschland entspricht, zitiert:

Unter dem umfassenden Lernziel, "den Horizont der Schüler auf die ganze Welt hin zu erweitern", sollten behandelt werden:

  • "die Erde (Land, Wasser, Kontinente, Bevölkerung, Staaten),
  • Begriffe der allgemeinen Geographie und der Demographie, [/S. 88:]
  • Ausweitung des lokalen Milieus auf das Département (Verwaltung, öffentliche Dienste),
  • Entstehung und Entwicklung des Islam; mohammedanische Kultur,
  • westliche Kultur vom XI. bis zum XIII. Jahrhundert am Beispiel Frankreichs,
  • außereuropäische Kulturen: Indien, China, präkolumbisches Amerika,
  • Entdeckungsreisen, europäische Expansion und ihre Folgen,
  • Verkehr und Handel im Längsschnitt von den Ursprüngen bis zur Gegenwart,
  • für die heutige Welt charakteristische Fragen:
    1. ein humangeographisches oder ökonomisches Problem ("große Ballungsräume" oder "Hunger in der Welt" oder "Erdöl"),
    2. ein regionales Thema, das sich auf Asien bezieht ("Reis in den Monsungebieten" oder "Japans Industrie" oder "Wirtschaft Chinas"),
    3. ein regionales Thema, das sich auf Amerika bezieht ("Industrie in Nordamerika" oder "Landwirtschaft in Südamerika" oder "Wirtschaft Brasiliens"),
    4. ein regionales Thema, das sich auf Afrika bezieht ("Landwirtschaft in Schwarzafrika" oder "Entstehung industrieller Aktivitäten" oder "Entstehung, Entwicklung, Probleme eines afrikanischen Staates"),
  • Informationen zu aktuellen Themen und Themen, die Schülerinteressen entsprechen"

(Histoire, géographie 1979, S. 19-20).

6. Kampf gegen die Integration der Sozialwissenschaften

Gegen die Versuche, Geschichte in die neuen Lernbereiche activités d'éveil in der Grundschule und Sciences humaines in der Mittelstufe zu integrieren, organisierte sich sehr bald Widerstand. Der Geschichts- und Geographielehrerverband "Association des professeurs d'histoire et géographie" (APHG), eine Vereinigung von ca. zehntausend Mitgliedern aus der Mittel- und Oberstufe, artikulierte den Protest in seiner Zeitschrift "Historiens et Géographes". Die verbandsinterne Diskussion wurde schlagartig öffentlich, als sie im Herbst 1979 der Politiker Michel Debré aufgriff. Parolen wie "Unsere Kinder lernen keine Geschichte mehr" oder "Sie wissen nicht mehr, wer Jeanne d'Arc war" mobilisierten Presse und Politiker aller politischen Richtungen sowie die Universitätshistoriker aller historischen Schulen. Schließlich griff auch Staatspräsident François Mitterand 1983 in die Diskussion ein und stellte zuspitzend fest: "Un peuple qui perd sa mémoire, perd son identité" (Ein Volk, das sein Gedächtnis verliert, verliert seine Identität). Diesem Druck konnten sich die Bildungspolitiker nicht mehr ent[/S. 89:]ziehen. 1982 beauftragte der linkssozialistische Erziehungsminister Alain Savary eine Kommission unter Leitung von René Girault, eine Bestandsaufnahme des Geschichtsunterrichts und Änderungsvorschläge zu erarbeiten. In seinem Auftragsschreiben wies der Minister auf die Kritik an der ungenügenden Berücksichtigung der Chronologie hin und erklärte, daß offensichtlich "die Chronologie die Grundstruktur jedes historischen Wissens ist und daß jede thematische oder vergleichende Arbeit nur geleistet werden kann, wenn zuvor diese Grundlage gesichert ist". Die Kommission kam zu dem Ergebnis, daß die Fächer Geschichte und Geographie wiederhergestellt und zu Hauptfächern aufgewertet werden müßten (Girault 1983). Zur Umsetzung der Kommissionsempfehlung und ihrer Argumente organisierte die Regierung 1984 in Montpellier ein "Nationales Colloquium über die Geschichte und ihren Unterricht". Der Premierminister Pierre Mauroy gab in seiner Eröffnungsrede das politische Ziel vor und machte damit zugleich deutlich, wie wenig es den Verfechtern der Integration gelungen war, ihre pädagogischen Argumente in die Öffentlichkeit zu tragen: "Die Geschichte muß einen hervorragenden Platz in der Erziehung wiederfinden. Sie muß vor allen anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen behandelt werden. (...) Dieser Beitrag der Chronologie ist nicht ersetzbar. Sie muß ab der Grundschule betrieben werden. Deshalb dürfen, ohne die neuesten Ergebnisse der pädagogischen Forschung zu vernachlässigen, die traditionellen Methoden des Auswendiglernens und des Faktenerwerbs nicht vernachlässigt werden. Schließlich (...) dürfen Geschichte und Geographie nicht nur einfache 'disciplines d'éveil' sein. Sie müssen Basisdisziplinen, grundlegende Disziplinen in allen Unterrichtsordnungen sein" (Colloque 1984, 5. 12). Die Ergebnisse des Colloquiums faßte einer der führenden Vertreter der sozialwissenschaftlich orientierten Nouvelle Histoire, Jacques Le Goff, in einem leidenschaftlichen Schlußplädoyer zusammen und empfahl die Umsetzung der Empfehlungen der Girault-Kommission. Schließlich verkündete der Erziehungsminister in seinem Schlußwort die Wiederherstellung der Fächer Geschichte und Geographie sofort in der Grundschule und mittelfristig in den anderen Schulen (Colloque 1984, S. 216).

7. Die Fächer in Grundschule und Mittelstufe nach Auflösung der Integration

Die Versuche, einen integrierten sozialwissenschaftlichen Unterricht zu schaffen, sind in Frankreich zunächst gescheitert. Allerdings ist die Diskussion an den betroffenen Fächern nicht spurlos vorbeigegangen. Geschichte und Geographie orientieren sich an sozialwissenschaftlichen Konzeptionen, wie sie beispielsweise die Nouvelle Histoire sowie die Sozial- und Wirt[/S. 90:]schaftsgeographie bieten. Im Gegensatz zu Deutschland ist die Geologie nicht Teil des schulischen Geographieunterrichts, sondern Teil des naturwissenschaftlichen Unterrichts. In der "Staatsbürgerlichen Erziehung" gibt es den Kernansatz der "Menschenrechtserziehung" als Antwort auf ein gesellschaftliches Problem. Daneben steht aber unvermittelt die alte Institutionenkunde. Eine spezielle Lehrerausbildung für das Fach "Staatsbürgerliche Erziehung" wurde auch bei der Reform der Ausbildung nicht eingeführt. Das Fach wird weiterhin von Geschichts- und Geographielehren unterrichtet. Für die Grundschule und die Mittelstufe setzen die neuen Unterrichtspläne stärkere pädagogische und didaktische Akzente. Der Erwerb von Methoden- und Handlungskompetenz wird als Lernziel ausdrücklich hervorgehoben. Zur Durchführung fächerübergreifender Studien und Projekte wird ein Stundenkontingent zur Verfügung gestellt. Der folgende Überblick zeigt den Entwicklungsstand zu Beginn der 90er Jahre auf.

Grundschule

Die "activités d'éveil" (vgl. Kapitel 4) wurden in vier Lernbereiche aufgelöst: Naturwissenschaften und Technologie (sciences et technologie) mit zwei bzw. drei Wochenstunden, Geschichte und Erdkunde (histoire et géographie) mit einer bzw. zwei Wochenstunden, staatsbürgerliche Erziehung (éducation civique) mit durchgängig einer Wochenstunde sowie künstlerische Erziehung (éducation artistique) mit ebenfalls einer Wochenstunde.

Der Geschichtsunterricht geht in der 1. Klasse (cours préparatoire) von der Umgebung des Kindes aus. Ein erster Geschichtsfries erfaßt persönliche und kollektive Daten der Schüler. In der 2. und 3. Klasse (cours élémentaire 1 und 2) werden, ausgehend von der heutigen französischen Gesellschaft, kennzeichnende Epochen der französischen Geschichte mit Staaten, Ereignissen, Personen und sozialen Gruppen erarbeitet. In der 4. und 5. Klasse (cours moyen 1 und 2) folgt in chronologischer Systematik die Nationalgeschichte Frankreichs von der Vorgeschichte bis ins 20. Jahrhundert.

Der Geographieunterricht beginnt in der 1. Klasse mit der räumlichen und landschaftlichen Umgebung des Kindes. In der 2. und 3. Klasse wird die nähere Umgebung in Beziehung und Vergleich zu anderen Lebensräumen gesetzt. Frankreich in seinem Zusammenhang mit Europa und der Welt ist mit vorrangig sozialen und ökonomischen Inhalten Gegenstand des Unterrichts in der 4. und 5. Klasse. Historische und geographische Themen sind in drei bis vier Studieneinheiten (sujets d'études) pro Schuljahr miteinander verknüpft zu behandeln. Hierfür stehen maximal 24 Wochenstunden (ein Drittel der gesamten Unterrichtsstunden) zur Verfügung (Ecole élémentaire 1990, S. 25 ff.).

Die staatsbürgerliche Erziehung soll sich auf wenige wichtige Bereiche beschränken: verantwortliches Sozialverhalten, politische und administrati[/S. 91:]ve Institutionen sowie die Rolle Frankreichs in der Welt. Als affektive Lernziele werden Ehrlichkeit, Mut, Ablehnung des Rassismus und die Liebe zur Republik genannt. In der 1. Klasse lernen die Schüler grundlegende Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens und die staatlichen Symbole der Republik. Im Unterricht der 2. und 3. Klasse sollen die Regeln des Gemeinschaftslebens klarer erfaßt und begründet werden. Themen sind die Begriffe Person, Eigentum, Vaterland, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Wahlen, Staatsgebiet, Staatspräsident, Minister, Abgeordnete, Gemeinde, Bürgermeister sowie die Schule. Parallel zum Geschichts- und Geographieunterricht steht in der 4. und 5. Klasse Frankreich mit seinen Institutionen und die sie begründenden Ideen im Mittelpunkt: Erklärung der Menschenrechte von 1789 und 1948, bürgerliche Freiheiten und Rechte, Verfassung, Gesetzgebung, Verwaltung, öffentliche Dienste, Armee, Frieden, Europa, Nation und internationale Beziehungen (Ecole élémentaire 1990, 5. 29 ff.).

Mittelstufe (college)

In der Mittelstufe gibt es im sozialwissenschaftlichen Bereich drei Fächer:

1. Geschichte, 2. Geographie und Einführung in die Wirtschaft (initiation économique), 3. staatsbürgerliche Erziehung und Menschenrechtserziehung (éducation aux droits de l'homme). Für Geschichte, Geographie und Wirtschaft stehen zusammen zweieinhalb Wochenstunden, für staatsbürgerliche Erziehung eine Wochenstunde zur Verfügung.

Der Geschichtsunterricht folgt der chronologischen Systematik. In der 6. und 7. Klasse (sixième und cinquième) soll der Begriff "civilisation" den Unterricht und seine Beziehungen zu den Nachbarfächern strukturieren. Die Themen reichen von der Vorgeschichte bis zur Reformation. In der 8. Klasse (quatrième) sind das 17., 18. und 19. Jahrhundert (bis 1914) zu behandeln. Die Abschlußklasse der Mittelstufe, die 9. Klasse (troisième), ist dem 20. Jahrhundert, von 1914 bis zur Gegenwart, gewidmet. Die Unterrichtspläne warnen für die 9. Klasse vor einer Überbetonung der Fakten. Es sollten nur wenige Schlüsseldaten gelernt werden (Histoire, Géographie 1992, 5. 15 ff.).

Im Geographieunterricht der 6. Klasse (sixième) stehen Klimazone und Verteilung der Menschen auf der Erdoberfläche im Mittelpunkt. In der 7. Klasse (cinquième) sind die Begriffe Unterentwicklung und Entwicklung mit Beispielen aus Afrika, Asien und Lateinamerika zu vermitteln. Europa in seiner "Einheit und Verschiedenheit" sowie seinem Einfluß in der Welt ist das Leitthema der 8. Klasse (quatrième). Neben einzelnen Staaten ist hier auch die Europäische Gemeinschaft zu behandeln. Der Geographieunterricht am collège schließt in der 9. Klasse (troisième) mit Frankreich, den USA und der UdSSR ab. Es sind die Begriffe Mittelmächte und Großmächte zu erarbeiten. [/S. 92:]

Der Unterrichtsbereich "Einführung in die Wirtschaft" (Initiation économique) ist dem Geographieunterricht zugeordnet. Er beginnt in der 6. Klasse mit den Wirtschaftssubjekten und dem Wirtschaftskreislauf in der Gemeinde, setzt sich in der 7. Klasse mit den Themen Geld und Welthandel fort, widmet sich in der 8. Klasse inneren Problemen eines Unternehmens sowie der Arbeitswelt und schließt in der 9. Klasse mit den Aspekten und Problemen der regionalen Wirtschaft ab (Histoire, Géographie 1992, S. 63 ff.).

Für die Staatsbürgerliche Erziehung (éducation civique) in der Mittelstufe (collège) werden als Lernziele angegeben, daß sie "bei dem Schüler den Sinn für das Allgemeininteresse, die Achtung des Gesetzes, die Liebe zur Republik entwickeln" soll. In diesem Zusammenhang soll der Schüler über Rechte und Pflichten des Staatsbürgers aufgeklärt werden. In der 6. Klasse (sixième) sind die Themen Schule, Erziehung, Schulverwaltung, Leben in der Schule, soziale Beziehungen und das demokratische Leben in der Gemeinde zu behandeln. Die beiden umfassenden Themenkreise in der 7. Klasse (cinquième) sind das "Département und die Region" sowie die "Unterschiede und Achtung der Menschen". Der Unterricht in der 8. Klasse (quatrième) setzt die am Ende der 7. Klasse begonnene Menschenrechtserziehung mit den Bereichen "Eroberung der bürgerlichen Freiheiten" und "Ausübung der bürgerlichen Freiheiten im heutigen Frankreich" fort. Parallel zum Geographieunterricht endet der Unterricht der 8. Klasse mit den Institutionen und dem Werden der Europäischen Gemeinschaft. In der 9. Klasse (troisième) sind das politische Leben Frankreichs und seiner Institutionen, die Institutionen der USA und der UdSSR sowie die internationalen Beziehungen, die Verletzung der Menschenrechte, der Terrorismus, die Unterschiedlichkeit der Kulturen und die internationale Solidarität zu erarbeiten. Der Unterricht soll zusammenfassend mit den "Werten der Demokratie" enden. Ein auch für Deutschland angesichts seiner jüngsten Entwicklung interessanter Ansatz zu einem integrierten Unterricht ist die in die staatsbürgerliche Erziehung eingebundene "Menschenrechtserziehung, auf die im folgenden Kapitel besonders eingegangen wird (Éducation civique 1990).

Der Zustand der "staatsbürgerlichen Erziehung" in der Mittelstufe wird in einem Rundschreiben des Erziehungs-Ministeriums vom 14.11.1991 an die Schulaufsicht und die Schulen erkennbar, in dem das Ministerium anmahnt, daß die Prüfungsthemen am Ende der Schulzeit "nicht so ausschließlich über institutionelle Aspekte handeln sollten, wie dies im Prüfungszeitraum 1990 der Fall war" (Histoire, Géographie 1992, 5. 120).

Auf eine nähere Darstellung des Unterrichts in den drei Klassen der Oberstufe (lycée) sei hier verzichtet. Geschichte und Geographie werden entsprechend der klassischen Fachsystematik unterrichtet. Die Staatsbürger[/S. 93:]kunde (instruction civique) wird zwar in der Überschrift der Unterrichtspläne aufgeführt, sie findet aber nur implizit in der Behandlung historischer und geographischer Themen statt (Histoire, Géographie 1991, S. 13).

8. Menschenrechtserziehung

Als Reaktion auf zunehmenden Rassismus in der französischen Gesellschaft wurde im zeitlichen Zusammenhang mit den 200-Jahrfeiern der Französischen Revolution der Unterrichtsbereich "Menschenrechtserziehung" (Éducation aux droits de l'homme) für die Mittelstufe entwickelt. Dieser Bereich bildet den Kern des Fachs "Staatsbürgerliche Erziehung" in den vier Jahrgangsstufen des collège. In den neueren Veröffentlichungen der Unterrichtspläne tauchen beide Bezeichnungen für das Fach gleichberechtigt auf. Damit hat die staatsbürgerliche Erziehung einen zentralen Auftrag erhalten, der in der französischen Tradition dieses Fachs steht, einen pädagogischen Beitrag zur Lösung dominierender gesellschaftlicher Probleme zu leisten. In der III. Republik hatte das Fach seit seiner Einführung 1882 die Aufgabe, zur Idee der Republik zu erziehen. Nach 1945 stellte sich die Aufgabe, die Nation nach der Auseinandersetzung zwischen Kollaboration mit dem deutschen Feind und der Résistancebewegung, zwischen Pétain und de Gaulle, zu versöhnen.

Das Konzept der Menschenrechtserziehung wird in den Unterrichtsplänen wie folgt beschrieben:

"Zu den bürgerlichen und politischen Rechten, den sogenannten Rechten der ersten Generation in der Tradition liberalen Denkens, sind die durch das sozialistische Denken beeinflußten ökonomischen und sozialen Rechte dazugekommen, die man als die zweite Generation bezeichnet. In jüngster Zeit sind die Ideen der Rechte einer sogenannten dritten Generation entwickelt worden: Recht auf Frieden, Recht auf gesunde Umwelt ...

Die drei folgenden Prinzipien müssen im Denken gegenwärtig sein:

Die Menschenrechte gelten weltweit, auch wenn sie in einer bestimmten Kultur und Zivilisation entstanden sind;

die universellen Menschenrechte fordern dazu auf, Unterschiede zu respektieren;

die Menschenrechte sind konstituierend für das soziale und politische Leben einer demokratischen Gesellschaft" (Éducation civique 1990, S. 49).

Die Zuordnung der Lernziele und Lerngegenstände ist in den Unterrichtsplänen festgelegt, wie die folgende Tabelle zeigt. [/S. 94:]

Staatsbürgerliche Erziehung und Menschenrechtserziehung

Ziele/Klasse6e (D: 6. Kl.)5e (D: 7. KI.)4e (D: 8. Kl.)3e (D: 9. Kl.)
Wecken von Toleranz, die auf der Anerkennung universaler Rechte beruhtRespekt vor sich selbst und den anderenUnterschiede der Herkunft, des Glaubens, der Meinungen, Lebensweisen; Toleranz, Respekt gegenüber anderen KulturenRechte und Pflichten von AusländernAngriffe auf die Person
eine Welt: unterschiedliche Kulturen
Würde des Individuums respektieren und solidarisch handeln lernenRecht auf Bildung und ErziehungUngleichheit der Entwicklung
Nord-Süd-Dialog
ökonomische und soziale Rechte (Arbeit, Gesundheit, Soziales)Internationale Solidarität
Prinzipien der Demokratie kennen
Grundfreiheiten kennen
Politische Institutionen kennen
auf das demokratische Leben vorbereiten
Staatsbürger werden
Gemeinde (Wahlen)
Institutionen der Region und des DépartementsFreiheiten: Erringung und Ausübung
gegen Willkür
Rechte und Pflichten des Bürgers
EG
Europa-Rat
Verfassung von 1958
Freiheiten
Gesetz, Justiz
V. Republik
Gesetz, Justiz
Internationale Organisationen
Zur Verantwortung ermutigenSchulleben, UmweltKulturerbe der Region  

Quelle: Éducation civique, 1990, S. 50 (gekürzte Übersetzung)

Besonders hervorgehoben sind des weiteren Beiträge der Fächer Geschichte, Geographie, Biologie und Französisch. Im Geschichtsunterricht sind an unterschiedlichen Themen vom Altertum bis zur Neuzeit folgende Begriffe zu erarbeiten: Sklaventum, Rassismus, Widerstand, religiöse Freiheit, Intoleranz, Staatsbürger, Staat, Gleichheit, Recht, juristische Formulierungen der Rechte, Erweiterung und Anreicherung der Menschenrechte, Menschenrechte und Kolonialisierung, Verletzlichkeit der Menschenrechte. Im Fach Geographie sind die Begriffe Solidarität, Entwicklungspolitik, Dialog zwischen den Völkern, ökonomische Rechte, soziale Rechte, Verschiedenheit der Völker und Kulturen sowie die weltweite Dimension des Problems der Menschenrechte zu behandeln. Das Fach Biologie leistet seinen Beitrag durch folgende Ziele und Themen: Achtung der menschlichen Person, individuelle und kollektive Verantwortung (Toleranz und Ablehnung [/S. 95:] des Rassismus), Kritik pseudowissenschaftlicher Anwendungen, zum Beispiel des Begriffs Rasse. Für den Französischunterricht werden Literaturhinweise zu den Themen Mensch und Natur (Dritte Welt, Konflikt, Harmonie), Menschen und Gruppen, Aufstand, Revolte sowie dem heutigen Kampf für die Freiheit gegeben. Als wesentliche Texte sind in den beteiligten Fächern die Erklärungen der Menschenrechte von 1789 und 1948 sowie die europäische Menschenrechts-Konvention von 1950 zu behandeln.

Die Unterrichtspläne zur Menschenrechtserziehung bleiben bei der Zuordnung von Zielen und Themen zu den einzelnen Fächern stehen. Ein integrierter Unterricht wird nicht vorgeschrieben. In jedem Fach können die Themen separat behandelt werden. Eine Verbindung ergibt sich bestenfalls durch die den einzelnen Jahrgängen vorgegebene parallele Behandlung. Immerhin gibt es die Empfehlung, die Menschenrechtserziehung mit den "Querthemen" (thèmes transversaux) Sicherheit, Umweltschutz, Information, Entwicklung, Verbrauch, Gesundheit und Leben in einem PAE-Projekt (projet d'action éducative) zu verbinden (Éducation civique 1990, S. 45 ff.).

9. Konklusion

Die Versuche, einen integrierten sozialwissenschaftlichen Unterrichtsbereich zu schaffen und die traditionellen Fächer Geschichte, Erdkunde und Sozialkunde aufzulösen, sind nicht auf Deutschland beschränkt. Sie fanden auch in anderen Staaten statt.

Der Prozeß in Frankreich verlief ähnlich wie in Deutschland. Aus der Curriculumdiskussion kamen die Anstöße, die die fachimmanente Systematik der Fächer durch eine an Lernzielen orientierte Struktur ersetzen wollten.

Der erfolgreiche Widerstand gegen die Integration der Sozialwissenschaften wurde aktiv von universitären und gymnasialen Vertretern der Fächer Geschichte und Erdkunde getragen. Unterstützung fand dieser Widerstand durch Politiker, die einerseits ihre eigene Erziehung als Maßstab der Beurteilung nahmen, andererseits keinen Zugang zu den pädagogischen Begründungen eines integrierten Unterrichts fanden.

Die Diskussion scheint mit der Wiederherstellung der tradierten Fächer nicht am Ende zu sein. In Frankreich wird insbesondere die Curriculumentwicklung in der Grundschule fortwirken. Ebenso werden die Einführung der Menschenrechtserziehung in der Mittelstufe und erste Ansätze in den Unterrichtsplänen zu einem Projektunterricht die Entwicklung offenhalten.

In diese Richtung weist auch die Stellungnahme, die das renommierte Collège de France unter Federführung des Soziologen Pierre Bourdieu 1984 zum Zeitpunkt des Abbruchs der Integration der Sozialwissenschaften zur [/S. 96:] Entwicklung des Unterrichts unterbreitet hatte. In These 6 heißt es: "Um die Auswirkungen einer wachsenden Spezialisierung auszugleichen, die die Mehrzahl der Individuen parzelliertem Wissen aussetzt, (...) muß gegen die Inselbildung des Wissens (...) gekämpft werden" (Propositions 1985, S. 33).

(1) Die männliche Sprachform im Text schließt selbstverständlich die weibliche Form ein.

Literatur

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Chevènement, Jean Pierre (1985): Etre citoyen. In: Ders.: Apprendre pour entreprendre. Paris 1985, S. 226-234

Collèges (1985): Programmes et instructions. Herausgegeben vom Ministère de l'Éducation nationale. Paris 1985

Colloque national sur l'histoire et son enseignement (1984): Herausgegeben vom Ministère de l'Éducation nationale. Paris 1984

Ecole Elémentaire (1985): Programmes et instructions. Herausgegeben vom Ministère de l'Éducation nationale. Paris 1985

Ecole Elémentaire (1990): Programmes et instructions. Herausgegeben vom Ministère de l'Éducation nationale, de la jeunesse et des sports. Paris 1990

Éducation civique (1990): Éducation aux droits de l'homme. Classes des collèges (6e, 5e, 4e, 3e). Herausgegeben vom Ministère de l'Éducation nationale de la jeunesse et des sports. Paris 1990

La formation aux didactiques (1990): Cinquième Rencontre Nationale sur les Didactiques de l'Histoire, de la Géographie, des Sciences sociales, Mars 1990, Actes du colloque. Paris 1990

Giolitto, Pierre (1986): L'enseignement de l'histoire aujourd'hui. Paris 1986

Girault, René (1983): L'histoire et la géographie en question. Rapport au ministre de l'Éducation nationale. Paris 1983

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Histoire, géographie, économie, éducation civique (1979): Classes des collèges (6e, 5e, 4e, 3e). Herausgegeben vom Ministère de l'Éducation. Paris 1979

Histoire, Géographie, Initiation économique (1992): Classes des collèges (6e, 5e, 4e, 3e). Herausgegeben vom Ministère de l'Éducation nationale. Paris 1992

Histoire, Géographie, Instruction civique (1991): Classes de seconde, première et terminale. Herausgegeben vom Ministère de l'Éducation nationale. Paris 1991

Propositions pour l'enseignement de l'avenir (1985): Elaborées à la demande de Monsieur le Président de la République par les professeurs du Collège de France. Paris 1985

Schuster, Peter (1989): Geschichtsunterricht und politische Bildung in Frankreich. Versuche der Integration. In: Northemann, Wolfgang/Schuster, Peter (Hrsg.): Mentorentag Geschichte und Sozialkunde. Berlin 1989, S. 111-126

Wittenbrock, Rolf (1983): Der Kampf für die Erhaltung und Erneuerung des Geschichtsunterrichts in Frankreich im Spiegel der Zeitschrift "Historiens et Géographes". In: Internationale Schulbuchforschung, Heft 2/1983, S. 133-144


Sutor, Bernhard (2004): Historisch-politische Bildung – Ein Interdependenzverhältnis

Den folgenden Überlegungen liegt die These zugrunde, dass historische und politische Bildung in einem Verhältnis der Interdependenz stehen, sich also gegenseitig bedingen und stützen. Das soll hier unter drei Aspekten begründet und auf Folgerungen hin befragt werden. Erstens soll an Beispielen die Geschichtlichkeit der Gegenstände des Politikunterrichts gezeigt werden. Zweitens sollen einige Überlegungen formuliert werden zum Ineinander von geschichtlichem und politischem Bewusstsein. Drittens soll das spezifische Verhältnis von Zeitgeschichte und politischer Bildung angesprochen werden. Ich beschränke mich in allen drei Schritten auf eine knappe Skizze, da ich mich an anderen Stellen schon ausführlicher zu der Thematik geäußert habe (1). Wenn ich mich hier wiederhole, so geht das auf den ausdrücklichen Wunsch des Herausgebers dieses Readers zurück.

1. Zur Geschichtlichkeit der Gegenstände des Politikunterrichts.

Die Geschichtlichkeit von Themen des Politikunterrichts sei modellhaft an vier didaktischen Zugriffsweisen verdeutlicht.

Erstens ist wohl unmittelbar einsichtig, dass sich bei der Analyse aktueller politischer Konflikte oder Probleme, wenn sie über die reine Tagesaktualität hinausgelangen will, die geschichtliche Dimension als Zugang zum Verständnis geradezu aufdrängt. Gewiss fragen wir z.B. beim Nahost-Konflikt nach den ihn bedingenden Faktoren sozio-ökonomischer, macht- und sicherheitspolitischer, militärstrategischer und ideologischer Art. Aber seine Tiefenstruktur als ein Existenzkampf politischer Großgruppen wird nur verstehbar aus deren geschichtlich gewachsenem Selbstverständnis, das gleichsam alle andern Faktoren imprägniert. Im Grunde meldet sich darin die ganze jüdisch-israelische und die islamisch-arabische Geschichte als Thema. Diese kann der Politikunterricht nicht aufarbeiten; er ist dafür auf den Geschichtsunterricht angewiesen. Aber unabhängig von diesem wird er doch den gegenwärtigen Konflikt mindestens bis in die Zeit der Entstehung des Staates Israel zurückverfolgen müssen, um ihn in seinen heutigen Dimensionen verstehbar zu machen.

Zweitens wird die Beachtung der geschichtlichen Dimension politischer Themen unabdingbar, wenn es um die Analyse politischer Strukturen oder Mentalitäten geht; denn sie sind immer von längerer Dauer, aus reiner Gegenwart nicht zu verstehen. Die unterschiedlichen Ausformungen parlamentarischer Demokratie, Parteiensysteme, Sozialmilieus und ihr Wählerverhalten sind Fragen, die über die Zeitgeschichte im engeren Sinn zurückreichen in Entwicklungen gesellschaftlicher und politischer Konfliktlinien seit dem 19. Jahrhundert. Dabei treffen wir auf die Verbindung objektiver, sozialstruktureller Faktoren mit der Selbstdeutung und dem Selbstverständnis sozialer Gruppen, mit biographisch und sozial geprägten Einstellungen, die wir Mentalitäten nennen. Auch wenn sie sich heute vielleicht rascher als bisher verändern, teils gar auflösen, wirken sie doch auch in neuen Formierungen weiter. Sie zu verstehen und zu reflektieren, gehört zentral zum Verständnis heutiger Demokratie der pluralistischen Gesellschaft.

Drittens kommt Geschichte als Alternative in den Blick, wenn wir die Besonderheit unserer Zeit, ihrer Strukturen, Institutionen, Probleme und Wertmaßstäbe erfassen wollen. Die oberflächliche Neigung, die ganze Menschheit in ihrer Geschichte über den Leisten unserer heutigen Sichtweisen und Maßstäbe schlagen zu wollen, scheitert schon an der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" in der gegenwärtigen, sich globalisierenden Welt. Das gilt für unsere industriell-technisch bedingte Lebensweise ebenso wie für die Prinzipien und Institutionen unserer Demokratie und für unsere Vorstellung von Menschenrechten. Gerade die heute diskutierte Universalität der Menschenrechte bzw. ihre kulturell unterschiedliche Interpretation enthält die Frage nach geschichtlichen Alternativen. Historischer Blick relativiert unsere Ordnungsformen und Wertorientierungen. Das muss keineswegs zu reinem Wertrelativismus führen, kann vielmehr mit besserem Verständnis für andere Kulturen auch eine höhere Wertschätzung der eigenen bewirken.

Viertens schließlich kann damit Geschichte als universaler Horizont unseres Verständnisses von Gegenwart und unseres politischen Denkens und Wollens ins Blickfeld kommen. Die Neuartigkeit oder jedenfalls die spezifische Eigenart heutiger weltweiter Probleme wird in diesem Horizont erst angemessen erfassbar. Das gilt für die Frage der Ökologie im "Raumschiff Erde" ebenso wie für die Sicherung des Friedens in einer Welt von 190 Staaten ganz unterschiedlichen Gewichts und Interesses angesichts der Existenz von Massenvernichtungswaffen und für die Frage nach der Sicherung des Minimums an Bedürfnisbefriedigung für 6 Milliarden Menschen, zwischen denen Wohlstand und Armut provozierend ungleich verteilt sind. Die Grundfrage nach einer künftigen politischen Weltordnung ist unabweisbar gestellt. Nur wer geschichtlich bewusstlos lebt, kann die Neuartigkeit der heutigen Herausforderungen übersehen. Politik wird zunehmend international, wird zu Weltpolitik. Deshalb erfordert sie auch zunehmend weltgeschichtliches Denken. Politikunterricht kann die entsprechenden Fragen an die Geschichte stellen, zu ihrer Beantwortung ist er auf Geschichtsunterricht angewiesen.

2. Geschichtlich-politisches Bewusstsein

Dass politische Bildung nicht ohne Geschichte auskommt, wird besonders evident an dem Ineinander von geschichtlichem und politischem Bewusstsein. So wie Politikunterricht seine Gegenstände nicht hinlänglich verständlich machen kann, wenn er ihre Geschichtlichkeit nicht beachtet, so missversteht Geschichtsunterricht seine Aufgabe, wenn er der Illusion erliegt, Vergangenheit könne objektiv abgebildet und vermittelt werden. Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht, Zeitdeutungen und politisches Wollen sind immer ineinander verwoben, wenngleich Historie insoweit der Objektivität verpflichtet ist, als ihre Aussagen methodisch kontrolliert und nachvollziehbar sein sollen. Ihr Frageinteresse ist immer das der jeweiligen Gegenwart. Wir haben es also mit einem dialektischen Verhältnis zu tun.

Einerseits stellt Geschichte ein Reservoir bisheriger politischer Erfahrungen dar und wird als solches bewusst oder unbewusst immer auch politisch genutzt. Gesellschaftliche Strukturen, politische Institutionen, Deutungs- und Handlungsmuster sind geschichtlich bedingt. Gerade deshalb darf politische Bildung Geschichte nicht zum "Steinbruch" degradieren und politisch instrumentalisieren. Sie muss vielmehr durch Reflexion der Geschichtlichkeit politischer Phänomene Distanz ermöglichen. Das Verstehenspotential der Geschichte wird für politische Bildung erst fruchtbar, wenn Geschichte auch in ihrem Kontrastcharakter zur Gegenwart wahrgenommen und Historie als wissenschaftlich geleitete Aufklärung unserer Herkunft ernst genommen wird.

Andererseits war und ist Geschichtsunterricht immer auch ein politisch relevantes Fach. Seit dem 19. Jahrhundert war er in unterschiedlichen, phasenweise auch in extremen Formen, das Leitfach staatsbürgerlicher Erziehung. Gegen seine politische Vereinnahmung braucht er wissenschaftlich und didaktisch begründete Distanz. Aber er entkommt damit nicht dem Zirkel gegenseitiger Abhängigkeit von Gegenwarts- und Geschichtsbewusstsein. Seine Fragen stammen aus gegenwärtigem Erkenntnisinteresse. Wir wollen uns und unsere heutige Welt aus der Geschichte verstehen.

Deshalb hat die Geschichtsdidaktik seit längerem das Phänomen des Geschichtsbewusstseins in das Zentrum ihrer Überlegungen gerückt und versteht sich als Wissenschaft von Inhalt und Struktur, von Faktoren und Beeinflussungsmöglichkeiten diese Bewusstseins (2). Dieser Ansatz ermöglicht am ehesten auch eine konsensfähige Verbindung zur Didaktik politischer Bildung. Er vermeidet nämlich die Einseitigkeiten traditionalistischer wie progressistischer Konzepte.

Der didaktische Ansatz beim Geschichtsbewusstsein setzt voraus, dass Geschichte mehr und etwas anderes ist als Vergangenheit. Sie ist die in unserer Erinnerung und in unseren Vorstellungen wirksame Gegenwart von Vergangenheit. Unsere Bilder von Vergangenheit beeinflussen unser Verständnis von Gegenwart und unser Zukunftswollen. Deshalb müssen wir aber unter dem Aspekt der Aufgaben politischer Bildung den Gegenstand der Geschichtsdidaktik, das Geschichtsbewusstsein, erweitern und von geschichtlich-politischem Bewusstsein sprechen.

Unsere politischen Vorstellungen von gegenwärtigen Konflikten und Problemen, unsere Intentionen und Wünsche zu ihrer Lösung sind mit Geschichtsbildern und -deutungen eng verflochten. Geschichtsdeutungen beeinflussen politisches Meinen und Wollen, dieses bedient sich seinerseits zugleich der Geschichte als eines Arsenals zu politischer Argumentation und Legitimation. Das gilt individuell, vor allem aber sozial. Großgruppen und politische Verbände leben von und mit Geschichtsbildern. Sie suchen Identität in Aneignung von Vergangenheit, die sie deuten und zugleich als gegenwärtig wirksam erfahren. In allen politischen Auseinandersetzungen ist Geschichte mit im Spiel.

Geschichts- und Politikunterricht haben das nicht zu bestätigen und zu bestärken, sondern zum Gegenstand methodisch geleiteter Bearbeitung mit dem Instrumentarium ihrer je eigenen Bezugswissenschaften zu machen. Daraus ergibt sich für das Verhältnis historischer und politischer Bildung:

  • Politische Bildung braucht einen eigenständigen Politikunterricht. Dieser zielt auf die Entwicklung politischer Urteilsfähigkeit durch die Analyse politischer Themen (Gegenwartsprobleme/Konflikte) mit Hilfe politikdidaktisch begründeter Frageweisen/Kategorien und Modelle. Geschichtlichkeit ist eine seiner Grundkategorien.
  • Politische Bildung braucht auch einen eigenständigen Geschichtsunterricht. Dieser zielt auf die Entwicklung historischen Verstehens und auf die Aufklärung unseres geschichtlich-politischen Bewusstseins durch historische Ortsbestimmung der Gegenwart. Diese Aufgabe kann nicht im Politikunterricht gleichsam nebenher mit Hilfe seiner Kategorie der Geschichtlichkeit geleistet werden. Dieser "Sehschlitz" ist zu eng.

Man kann dieses Plädoyer für die zwei Pfeiler politischer Bildung auch so begründen: Geschichtlichkeit ist nicht eine Kategorie neben anderen zum Verständnis des Politischen. Auch diese sind vielmehr von ihr durchdrungen. Die heute wirksamen Interessen und ihre Interpretationen, die Ideologien und die sozialen Strukturen, das Recht und die Institutionen, die Machtverhältnisse und schließlich unsere normativen Vorstellungen von Legitimität, von Menschenrechten, Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden sind allesamt geschichtlich geworden und bedürfen deshalb um politischer Bildung willen historischen Verstehens. Dieses kann der Politikunterricht mit seinen Mitteln nicht hinlänglich vermitteln; ganz abgesehen davon, dass es auch noch ganz andere legitime Aspekte und Interessen gibt, sich mit Geschichte zu befassen, literarische und künstlerische, philosophische und religiöse. Geschichtsunterricht ist für politische Bildung unentbehrlich, aber es ist Ausdruck einer freiheitlichen Gesellschaft, ihn nicht nur auf diese zu beziehen.

3. Zeitgeschichte als Teil des Politikunterrichts

Zeitgeschichte steht an der Nahtstelle zwischen Geschichts- und Politikunterricht. Sie gehört deshalb in je spezifischer Weise zu beiden Fächern. Es genügt nicht, wenn sie nur als letzte Epoche der Geschichte zur Sprache kommt. Sie bildet den Kontext der Gegenstände und Themen des Politikunterrichts, der gegenwärtigen, der ungelösten, der permanent aktuellen politischen Fragen unserer Zeit. Sie ist deshalb, in anderer Weise als die Geschichte im allgemeinen, nämlich unmittelbar Medium und Aufgabenfeld politischer Bildung. Gewiss hat es Politik mit den Konflikten und Ordnungsproblemen der Gegenwart zu tun. Aber ihre Gegenwart ist nicht der heutige Tag, sondern unsere Zeit. Deshalb gewinnt im Bezug auf Zeitgeschichte das oben festgestellte Ineinander von geschichtlichem und politischem Bewusstsein eine besondere Intensität.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Sonderdisziplin Zeitgeschichte neu begründet wurde, definierte sie Hans Rothfels als "die Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung" (3). Forschungspraktisch setzte er sie damals gleich mit der Zeit von 1917 bis 1945. Für die damals zugleich einsetzenden Bemühungen um politische Bildung war das eine Umschreibung von zentraler Bedeutung. Der Wissenschaft wie der politischen Bildung war damit die Aufgabe zugewiesen, die man als Aufarbeitung der Vergangenheit bezeichnete. Die entsprechenden Fragen konzentrierten sich zunächst auf das Scheitern der Weimarer Demokratie, auf Ermöglichungsgründe und Grundzüge des NS-Totalitarismus. Das kann und braucht hier nicht dargestellt zu werden. Fragestellungen und Schwerpunkte haben sich verschoben, aber die Aufgabe ist politischer Bildung geblieben. Heute hat Zeitgeschichte das gesamte 20. Jahrhundert zum Gegenstand, und zwar erweitert um die europäische und die globale Perspektive. Die beiden Weltkriege, der Ost-West-Konflikt und sein Ende, Entkolonialisierung und Entwicklungsproblematik, um nur die wichtigsten Stichworte zu nennen, beschreiben die Genese der heute zentralen politischen Probleme. Historische Einsichten in diese Zusammenhänge sind integraler Teil politischer Bildung.

Das Verständnis von Zeitgeschichte als der "Epoche der Mitlebenden" hat eine objektive und eine subjektive Seite. Die permanent aktuellen Probleme unserer Zeit sind mit dem "Erleben" der jetzt Lebenden aufs engste verflochten. Probleme sind ja nicht schlechthin objektiv gegeben; sie sind vielmehr Ergebnis von Deutungen und Wertungen des Faktischen und seiner Genese, Ausdruck der Diskrepanz zwischen dem was ist, und unseren Wünschen und Wertvorstellungen, ein Feld deshalb zugleich auch voller Deutungs- und Wertkonflikte.

Zeitgeschichte als Wissenschaft muss sich um die methodisch geleitete Analyse der geschichtlich-politischen Zusammenhänge, um die Erklärung der Genese unserer heutigen Situation bemühen. Methodisch verbindet sie historisch-verstehende und sozialwissenschftlich-strukturelle Verfahrensweisen in stärkerem Maße, als das in der Geschichtswissenschaft sonst üblich ist. Davon kann und soll auch politische Bildung profitieren. Sie muss ihre politikdidaktischen Kategorien mit zeitgeschichtlicher Anschauung füllen. In Abwandlung eines bekannten Wortes von Immanuel Kant kann man sagen: Politikunterricht ohne Zeitgeschichte ist leer, Zeitgeschichte ohne Politikunterricht ist blind.

Der Blick auf die subjektive Seite der Sache macht aber diese Verbindung noch dringlicher. Die "Mitlebenden" deuten und werten Zeitgeschichte unterschiedlich, und zwar nicht nur individuell, sondern auch als soziale Gruppen und politische Verbände. Hinzu kommt, dass es immer mehrere Generationen sind, die miteinander leben, mit unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen und Zeitperspektiven; mit unterschiedlichen "Schlüsselerlebnissen", die ihre Deutungsperspektiven bestimmen. Diese gehen unmittelbar in politisches Urteilen ein, weil das Erlebte die Menschen geprägt hat, noch bewegt und umtreibt. Zeitgeschichte ist nach einer bekannten Formulierung von Barbara Tuchman Geschichte, "die noch qualmt".

Politische Bildung kann und soll diese unterschiedlichen Deutungen und Wertungen nicht aufheben. Aber eben deshalb muss sie sich auch als Kommunikationsprozess verstehen zwischen den Gruppen und den Generationen unserer Gesellschaft. Dieser Prozess ist in den letzten Jahrzehnten in bemerkenswerter Weise bereichert worden durch neue Formen und Konzepte der Beareitung von Zeitgeschichte: durch Oral History, Gespräche mit Zeitzeugen, Alltagsgeschichte und Geschichtswerkstätten, nicht zu vergessen die "Gedenkstättenpädagogik". Nur kann man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, als gehe diese Entwicklung an der professionellen politischen Bildung vorbei. Auch die immer noch zunehmende Präsentation von Zeitgeschichte in den Massenmedien fordert politische Bildung heraus. Sie sollte sich gezielt und zusammen mit den Zeithistorikern in das Spannungsfeld begeben zwischen den Primärerfahrungen der Menschen, der öffentlichen Erinnerungskultur von Großgruppen und dem Gemeinwesen, den massenmedialen Präsentationen und wissenschaftlichen Darstellungen(4).

Politische Bildung als Erwachsenenbildung kennt viele Möglichkeiten, der hier gekennzeichneten Aufgabe gerecht zu werden. Für die Schulen heißt die Folgerung aus unseren Überlegungen, neben dem eigenständigen Geschichtsunterricht das Fach "Politik" als zeitgeschichtlich-politischen Unterricht zu konzipieren. Dieser kann nicht darauf warten, bis der Geschichtsunterricht, in welcher Anordnung auch immer, zur Behandlung der Zeitgeschichte gelangt. Er braucht diese als sein Medium ständig und von Anfang an, wenn er Orientierung und Urteilskompetenz in politischen Gegenwartsfragen vermitteln soll.

Anmerkungen

1) Vgl. Sutor, Bernhard: Geschichte als politische Bildung; in: Wolfgang W. Mickel (Hg.): Politikunterricht im Zusammenhang mit seinen Nachbarfächern, München 1979, S. 82 - 102. Ders.: Zeitgeschichte und Politikunterricht; in: Katholische Bildung, Jg. 87/1986, S. 385 - 400. Ders.: Historisches Lernen als Dimension politischer Bildung; in: Wolfgang Sander (Hg): Handbuch politische Bildung, Schwalbach/Ts. 1997, S. 323 - 337, (demnächst in neuer Bearbeitung).

2) Vgl. Jeismann, Karl Ernst: Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie des Geschichtsunterrichts; in: Ders.: Geschichte und Bildung, Paderborn 2000.

3) Rothfels, Hans: Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 1/1953, Zitat S. 2.

4) Hockerts, Hans Günter: Zugänge zur Zeitgeschichte; in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 28/2001.

Literatur

Hockerts, Hans Günter (2001): Zugänge zur Zeitgeschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. Nr. 28.

Jeismann, Karl Ernst (2000): Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie des Geschichtsunterrichts. In: Jeismann, Karl Ernst: Geschichte und Bildung. Paderborn: Schöningh, Seite 46-72.

Rothfels, Hans (1953): Zeitgeschichte als Aufgabe. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Jg. 1 (1), Seite 2.

Sutor, Bernhard (1979): Geschichte als politische Bildung. In: Mickel, Wolfgang W. (Hg.): Politikunterricht im Zusammenhang mit seinen Nachbarfächern. München: Ehrenwirth, Seite 82-102.

Sutor, Bernhard (1986): Zeitgeschichte und Politikunterricht. In: Katholische Bildung. Jg. 87, Seite 385-400.

Sutor, Bernhard (1997): Historisches Lernen als Dimension politischer Bildung. In: Sander, Wolfgang. (Hg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, Seite 323-337.