Dieses Buch berichtet über Unterrichtserfahrungen und didaktische Reflexionen. Die konkreten Erfahrungen im Unterricht habe ich am Gymnasium Wuppertal-Vohwinkel in den Jahren 1970 bis 1994 und als Fachleiterin in der Referendarausbildung am Studienseminar I in Wuppertal gemacht. Die didaktischen Reflexionen sind in zahlreichen Arbeitszusammenhängen entstanden:
Die Möglichkeit, die Gedanken aufzuschreiben, verdanke ich der Martin-Luther-Universität in Halle an der Saale.
Die Mitglieder der gen. Arbeitsgruppen wird u. U. wenig von dem hier Gesagten überraschen, denn sie waren an der Entstehung der Gedanken bzw. Erfahrungen beteiligt. Auch gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen, die Teile der Überlegungen enthalten. Allerdings handelt es sich dabei z. T. um Textsorten, die i. d. R. kein Bestandteil der universitären didaktischen Auseinandersetzung sind: Richtlinien, behördliche Verfügungen, Papiere für die Lehrerfortbildung, kommissionsinterne Arbeitspapiere. Manches aus diesen Texten möchte ich der allgemeineren didaktischen Diskussion zugänglich machen.
Im Lande Nordrhein-Westfalen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten (spätestens seit den 70er Jahren) eine Entwicklung im Fach "Sozialwissenschaften" in der gymnasialen Oberstufe abgespielt, der man vielleicht die Qualität der Traditionsbildung für ein Fach zusprechen kann.
Dieses Fach ist zu verstehen als Fortsetzung des Faches "Politik" in der Sekundarstufe I (in anderen Bundesländern heißt das entsprechende Fach am häufigsten "Sozialkunde"). Zentrales Unterscheidungsmerkmal ist die Akzentuierung von wissenschaftspropädeutischem Arbeiten.
Die Didaktik der politischen Bildung hat einen überzeugenden und auch gut dokumentierten Stand erreicht (vgl. Breit/Massing 1992, Kuhn/ Massing/Skuhr 1993, Mickel/Zitzlaff 1988, Gagel/Menne 1988, Gagel 1994). Sinnvollerweise ist in der didaktischen Literatur nicht nach Schulformen und Schulstufen getrennt worden, wenn auch natürlich Fragen der Lern- und Lehrsituation und von Entwicklungsprozessen behandelt wurden.
Mit dieser Didaktik der Sozialwissenschaften möchte ich eine Differenz betonen, die nach meiner Erfahrung für den Lehrer im Unterricht durchaus handlungsbestimmend ist, nämlich die Hinführung von Schülerinnen und Schülern zum wissenschaftlichen Arbeiten und damit zur Studierfähigkeit. Daß dies keinen Widerspruch zur politischen Bildung ergibt, wird sich zeigen lassen. Damit nehme ich einen Faden auf, den Calliess
u. a. in ihrer "Sozialwissenschaft für die Schule" 1974 begonnen haben, wenn ich auch zu anderen Antworten komme.
Didaktik ist nach meiner Auffassung die theoretische Fassung des Professionswissens von Lehrern, also auf praktisches Handeln bezogen. Sie hat für den Lehrer die Funktion, Intuitionen in seinem Handeln aufzuklären und damit verfügbar zu machen, also zu sichern und zu verbessern. Zugleich muß Didaktik das Lehrerhandeln mit dem Versuch einer Diagnose der Zeit verknüpfen, damit Ziele und Legitimationen diskutierbar werden.
Die Gliederung des Buches ergibt sich aus dieser Zielsetzung: im ersten Kapitel stehen programmatische Überlegungen und im zweiten Kapitel wird die Struktur des Faches erläutert. Im dritten Kapitel wird anhand konkreter Beispiele die Realisierung zentraler didaktischer Elemente gezeigt. Auch wenn es dabei nicht um ein Verhältnis der Ableitung der jeweils folgenden Überlegungen gehen kann, hoffe ich doch, daß der innere Zusammenhang spürbar wird."
[/S. 13:] "Die moderne Welt ist dadurch gekennzeichnet, daß sozialer Wandel sie zunehmend dynamisch prägt. Die Geschwindigkeit von Änderungen nimmt zu und auch die Reichweite der Änderungen. Es ist kein Lebensbereich vorstellbar, der sich dieser Tendenz entziehen könnte. Solche Dynamik ist nichts Neues; möglicherweise ist aber durch die zunehmende Radikalität dieses Prozesses eine neue Qualität für das Leben in dieser (Welt-)Gesellschaft und für die Strukturen dieser Gesellschaft entstanden.
Die Konsequenzen dieses sozialen Wandels für Individuen, Institutionen und Gesellschaft sind erheblich: eine feste, überdauernde Identität bzw. Struktur kann in einer Welt des Wandels nicht mehr angemessen sein. Eine eingeengte Identität, die sich aus der Übernahme rigider Regeln und Verhaltensweisen konstituiert, ist entgegen aller Hoffnung auf klare Verhältnisse keine Hilfe, denn das Individuum wird in Situationen mit neuen Anforderungen neue Problemlösungen finden müssen. Überkommene Strukturen hemmen womöglich nötigen Wandel oder die Suche nach besseren Formen eines guten und gerechten Lebens.
Da überlieferte Tatsachen-, Handlungs- und Sinnstrukturen nicht mehr unbedingt die Kraft haben (falls sie sie je hatten), für gesamtgesellschaftliche Integration zu sorgen, gelingende Interaktionen zwischen Menschen zu verbürgen und Identität zu stiften, müssen die Individuen in der modernen Gesellschaft in hohem Maße eigenverantwortlich und schöpferisch zu einem je auszuhandelnden Konsens über die Art und Weise ihres Zusammenlebens kommen.
Nicht nur der soziale Wandel ist der Grund für diese notwendige Flexibilisierung, sondern auf der Ebene des demokratischen Selbstverständnisses dieser Gesellschaft - wie es im Grundgesetz formuliert ist - verlangt die gleiche Würde aller, daß sie in einem steten Prozeß der Auseinandersetzung und Verständigung durch Konflikte hindurch zu einem [/S. 14:] Miteinander kommen und auch bereit sind, die gefundenen Regelungen in Frage stellen zu lassen und nach wiederum neuen Lösungen zu suchen.
Der gut und endgültig ausgebildete und erzogene Bürger ist schwer mehr denkbar: wenn sich vieles jederzeit ändern kann, dann ist Bildung auch die Fähigkeit des Menschen, mit wechselnden Verhältnissen auch wechselnde Entscheidungen zu treffen, auf die Änderungen Einfluß zu nehmen, neuartiges Wissen und neuartige Fähigkeiten und Bereitschaften entwickeln bzw. aufnehmen zu können, sie zu beurteilen und eigene Bedürfnisse einzubringen und zu vertreten - und dabei er selbst zu bleiben und sich mit anderen Menschen verständigen zu können.
Mit Stichworten wie "Individualisierung" und "Pluralisierung" oder auch "Globalisierung" und "Reflexivität" (vgl. Beck 1986, Giddens 1995) verweist die Soziologie auf Vorgänge der Verflüssigung sozialer und psychischer Zusammenhänge, auf Vernetzungen und auf die Theoretisierung von Denken und Handeln. Umstellungen in zentralen Orientierungen (vom Bearbeiten der Knappheit zur Suche nach Erlebnis), Differenzierungen in Stilsphären und dabei die Bildung neuer (noch unbewußter) Großgruppen als Milieu-Segmente (vgl. Schulze 1992) sind weitere Elemente sozialen Wandels, bei deren Analyse jeweils versucht wird, materielle gesellschaftliche Prozesse in Verbindung mit psychischen Prozessen zu sehen. Auf die Risiken, die für persönliche Integrität und für gesamtgesellschaftliche Integration entstehen, weist besonders Habermas (z. B. 1985 und 1992) hin, dessen Diskurs- und Demokratietheorie vielleicht ein (utopischer) Denkweg zum Zusammendenken des Ganzen ist (vgl. auch Reinhardt 1995
b).
Den Sozialwissenschaften (Soziologie, Ökonomie, Politologie) wird hier die Funktion zugetraut und zugewiesen, daß sie helfen können, soziale Erfahrungen aufzuschließen, Urteile zu prüfen und Entscheidungen vorzubereiten.
In den Wissenschaften ist aus historischen Gründen eine Trennung in Disziplinen erfolgt, die mit je eigenen Mitteln die gesellschaftlich-politische Realität zu bearbeiten versuchen. Diese Trennung in Disziplinen ist aber keine Trennung in der Sache selbst - die Grenzen der Fachgebiete sind keine Wirklichkeitsgrenzen. Die Rede von sozio-ökonomischen Bedingungen bei den Soziologen verlangt schon vom Wort her die Einbe[/S. 15:]ziehung der wirtschaftlichen Verfaßtheit; die Rede vom Wirtschaftssystem seinerseits verweist auf die politische Entscheidung eines Gemeinwesens für oder gegen bestimmte Systemstrukturen.
Differenzierung und Integration ergeben spezifische didaktische Probleme: wie läßt sich ein Fach konstruieren, dem die universitären Bezugswissenschaften keine klare Struktur (im Sinne von einheitlichen Modellen, Verfahren, Begriffen, Methoden und Ergebnissen) mitteilen?
Einerseits muß in der Hinführung zu wissenschaftlichem Arbeiten die Eigenart der je getrennten Disziplinen geachtet werden, andererseits muß im Interesse der Bildung junger Menschen in und für diese Gesellschaft die Einheitlichkeit sozialer Lebenswelten gewahrt bleiben. (Die Antwort wird hier mit einer bestimmten Sequentialität der Lernprozesses in der Oberstufe gegeben - vgl. unten.) Anders als bei Calliess et al. (1974, S. 17), die ohne plausible Begründung eine "soziologiezentrierte Sozialwissenschaft" entwerfen, wird hier keine der drei Disziplinen privilegiert.
Kompliziert wird dieses Problem von Spezialisierung und Zusammenfügung weiterhin dadurch, daß der Begriff der Sozialwissenschaften weit gefaßt werden muß, denn auch Bestandteile aus anderen Wissenschaften werden benötigt (z. B. historische, sozialpsychologische, philosophische, juristische, pädagogische).
Unabhängig von der fachspezifischen Komplikation der Pluralität von Bezugswissenschaften gilt für alle Unterrichtsfächer, daß sie ihre didaktische Struktur nicht direkt aus den Wissenschaften beziehen können (das wäre Abbild-Didaktik). Fachdidaktik hat zum Gegenstand die Vermittlung von Ergebnissen und Verfahren wissenschaftlicher Welterkenntnis mit den Bildungsprozessen von Lernenden.
Diese Aufgabe der "Übersetzung" oder "Transformation" ist nicht etwa Reduktion - wie der häufig benutzte Ausdruck der didaktischen Reduktion vermuten lassen könnte. Denn es geht nicht um irgendeine Verkleinerung von Wissenschaft, sondern die verwandte Wissenschaft ändert ihren Charakter in dieser Transformation (vgl. auch Grammes 1995, S. 11 f.).
Nicht allein wissenschafts-immanente Kriterien (wie Paradigmata, Traditionen, Karrieren - also Kriterien der sog. scientific community) entscheiden über die Hineinnahme von wissenschaftlichen Verfahrens-, Theorie- oder Ergebnisstücken in die schulische Lehre, sondern ihre dreifache Relevanz für
(Ähnlich formulieren Calliess et al. 1974, S. 13 + 51 ff. Allerdings teile ich nicht ihre Schwerpunktsetzung, S. 72, wonach bei der Auswahl von Einzelbereichen für den Unterricht das primäre Kriterium die Repräsentanz der Disziplin - durch strukturelles Paradigma und methodisch zentrale Denkweise - sein müsse.)
Der sozialwissenschaftliche Unterricht hat eine notwendige Nähe zu praktischen Wertungen: Der Unterricht behandelt durchweg Themen, die im Alltag und im öffentlichen Leben Entscheidungs- und Beurteilungsprobleme darstellen. Keine Kultur ist denkbar ohne geteilte Grundnormen, keine Gesellschaft ist organisierbar ohne gemeinsame Werte - deshalb gehören Werte zum Objektbereich, also zum Sachverhalt. Ihre Klärung und die Auseinandersetzung über beanspruchte Gültigkeiten (einschließlich Ideologiekritik) ist damit ein Moment der Sache, in die Schüler im Unterricht eingeführt werden sollten.
Die moralische Reflexion ist nicht nur eine Notwendigkeit für die Praxis, sondern auch für das Verständnis von Theorien bzw. Realitätsstrukturen. Explizit oder implizit können in Theorien Wertbezüge (oder Moralen) enthalten sein, die als Prämissen die Theoriekonstruktion mitbestimmen. (Zum Beispiel ist im Konstrukt des homo oeconomicus ein bestimmtes Menschenbild mit einer ausgewählten Interaktionsstruktur, nämlich der des Tausches und seiner spezifischen Gerechtigkeit, enthalten).
Eine erzieherische Wirkung dieses Unterrichts kann sein, daß der Schüler einübt, praktische Fragen des individuellen und öffentlichen Lebens rationaler bearbeiten zu können. Solche Fragen gesellschaftlicher und individueller Lebenspraxis können die Handlungsplanung, bei der Ziel- und Mittelwahl der Diskussion unterzogen werden, oder die normative, also wertorientierte Rechtfertigung von Handlungen oder die Prüfung der Anerkennungswürdigkeit von Normen und Werten sein (vgl. Viechtbauer 1982).
Diese Erziehung zur Wertrationalität beinhaltet, daß der Schüler sich selbst der Auseinandersetzung um Werte stellt. Dabei geht es nicht um Konfession oder um eine große Emotion, sondern um die argumentative Auseinandersetzung um das bessere Argument, die den anderen in den Wertebezug als gleichberechtigten anderen mit hineinnimmt. [/S. 17:]
Im Schulfach Sozialwissenschaften verschränken sich die - in einem engen Sinne - wissenschaftspropädeutische Zielsetzung und die erzieherische Dimension.
Richtlinien für das staatliche Schulwesen müssen heutzutage angeben, welche Zielvorstellungen ihre Herausgeber haben. Reine Stoffkataloge genügen nicht, denn sie lassen die Frage offen, wohin und zu welchem Ende Unterricht bzw. Erziehung führen sollen. Damit sind Richtlinien ein greifbarer Teil der Selbstverständigungsprozesse dieser Gesellschaft, was besonders die Richtlinien für politisch relevante Fächer brisant macht. Denn hier muß eine allgemeine Idee formuliert werden, wie Tempo und Richtung sozialen Wandels eingeschätzt werden und ob und wie das beeinflußt werden soll.
Die Richtlinien für den Politikunterricht in Nordrhein-Westfalen (3. Aufl. 1987) geben als Zielvorstellungen sog. Qualifikationen an, das sind Fähigkeiten und Bereitschaften zur Bewältigung von Lebenssituationen. Sie beschreiben insgesamt den mündigen Bürger und sind demnach einem Konzept lebenslangen Lernens verpflichtet (und nicht erreichbar mit Ende einer Schulzeit).
Ihr Richtwert "Emanzipation" hat in den 70er-Jahren heftige Kontroversen ausgelöst (vgl. Schörken 1974, Gagel/Schörken 1975, Gemein/ Kienel 1975). Die 3. Auflage der Richtlinien enthält wohl eine Formulierung, die weithin konsensfähig ist, weil sie die Dialektik von Individuum und Gesellschaft beschreibt, indem sie Ich-Bezug und Sozial-Bezug zu balancieren versteht:
"In der politischen Bildung verstehen wir heute darunter [Emanzipation] einen Lernprozeß, in dem Schülerinnen und Schüler die komplexer und schwerer durchschaubar werdende Welt besser begreifen, sich nicht blind in die Gegebenheiten fügen und aufgrund von Sachkenntnis und Urteilsfähigkeit bereit und fähig werden, Selbst- und Mitbestimmung in Politik und Gesellschaft zu praktizieren. (...)
Zu den Kriterien der Selbst- und Mitbestimmung gehört, daß die Interessen anderer ebenso wie eigene Interessen bedacht werden. Emanzipationsprozesse sind nicht nur als individuelle, sondern auch als solidarische Akte zu verstehen und müssen sich stets unter dem Prinzip sozialer Verantwortung legitimieren.
Die Schüler und Schülerinnen müssen lernen, daß sie mit zunehmendem Alter für ihr Handeln selbst verantwortlich werden und daß Selbstverwirklichung ihre Grenzen im gleichen Anspruch anderer haben muß." (S. 7 f.)
Die Konsensmöglichkeit von Richtwerten für den Politikunterricht ist auch dadurch gefördert worden, daß im sog. Beutelsbacher Konsens auf[/S. 18:]grund von Diskussionen in den 70er-Jahren (vgl. Breit/Massing (Hg.) 1992, Kapitel III) eine gemeinsame didaktische Vorstellung von Unterrichtsprozessen entstand: das Überwältigungsverbot und das Prinzip der Kontroversität verlagerten notwendige Konflikte (ohne die tragfähige Konsense nicht zu erzielen sind) in den Unterricht hinein. Damit war die Entscheidung in Streitfragen nicht vorab von Richtlinien oder Lehrern getroffen, sondern - gemäß der Zielsetzung des Aktivbürgers - den lernenden Individuen übergeben.
Mit der glücklichen Formulierung "Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung" als Erziehungsziel wurde im allgemeinen Teil aller Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen eine vergleichbare Grundvorstellung vertreten. Diesem Erziehungsziel wurde als Unterrichtsziel "Wissenschaftspropädeutische Ausbildung" an die Seite gestellt, womit der Akzent der gymnasialen Oberstufe betont wurde.
Zwar erscheint dieses Nebeneinander von Unterrichts- und Erziehungszielen nicht sehr plausibel (vgl. oben: auch Wissenschaft ist eine sehr soziale und häufig wertgebunden-politische Veranstaltung), aber die analytische Trennung kann wiederum leicht ineinander gedacht werden. Die Autoren der Richtlinien für das Fach Sozialwissenschaften (1981/ 1991) entwickelten Qualifikationen zu so genannten Entwicklungstendenzen dieser Gesellschaft, in denen jeweils Chancen und Gefahren gesehen wurden (1981, S. 47-54; eine Kurzfassung bei Reinhardt
1989, S. 212). Als wertende Bezugspunkte wurden - in Anlehnung an Hilligens
Optionen (z. B. 1991) - Menschenwürde in einer demokratischen Ordnung, Freiheit in Verantwortung, Chancengleichheit und Toleranz/Solidarität gewählt.
"Die ... Qualifikationen und Lernziele stehen ... im Einklang mit denen des Politik-Unterrichts, auf dem der Unterricht im Fach Sozialwissenschaften aufbaut." (S. 47) Dieser Einklang von Qualifikationen/Lernzielen politischer Bildung, die schulformunabhängig und stufenübergreifend gelten, und Zielvorstellungen wissenschaftspropädeutischen Arbeitens als Spezifikum stärker theoriebezogenen Vorgehens wird im (vorläufigen) Rahmenplan für Politische Bildung in Brandenburg (die von den nordrhein-westfälischen Richtlinien mit beeinflußt sind) sehr klar zum Ausdruck gebracht: Die Qualifikationen für Politische Bildung sind dieselben wie in dem Rahmenplan für die Sekundarstufe I; ihnen sind als zweiter Katalog "Wissenschaftspropädeutische Lernziele" hinzugefügt, die die Aufgabe der gymnasialen Oberstufe akzentuieren:
Diese Fassung hat den Vorteil, daß sie zum einen eine generalisierbare Vorstellung von "Demokratie lernen" enthält und zum anderen die Zu[/S. 19:]nahme an Theoretisierung in der Wissenschaftswelt und in der Alltags- und Berufswelt erfaßt.
Die Kombination beider Zielvorstellungen ist dem institutionellen Kontext der gymnasialen Oberstufe angemessen aus Gründen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und wegen der Entwicklungsmöglichkeiten der Lernenden als Subjekten von Bildungsprozessen."
Qualifikationen im Fach Politische Bildung | Wissenschaftspropädeutische Lernziele: |
Fähigkeit und Bereitschaft, | |
|
|
[/S. 21] [...]
[/S. 44] [...]
"Entwicklung von Lernen heißt dreierlei, wovon bis hierher zwei Punkte entfaltet worden sind:
Der dritte Punkt soll jetzt als letzter Punkt genauer entfaltet werden.
Erinnert sei an das Problem: Die soziale Welt ist eine einheitliche Welt, auch wenn "Soziales", "Ökonomisches" und "Politisches" häufig als getrennte Subsysteme empfunden werden und die Menschen im Alltag recht gekonnt (wenn auch i. a. unbewußt) zwischen den unterschiedlichen Imperativen wechseln. Viele gesellschaftliche Probleme (als Beispiel [/S. 57:] nehme man nur "Umwelt") offenbaren aber Interdependenzen und Vernetzungen, die die in Disziplinen getrennten Sozialwissenschaften nicht je einzeln erfassen können. Deshalb muß das Schulfach ein Integrationsfach sein.
Andererseits haben sich die Disziplinen als spezielle entfaltet, und ein Teil ihrer jeweiligen Qualität hat sicher mit dieser Arbeitsteilung und Spezialisierung zu tun. Studierfähigkeit und also Erkenntnisfähigkeit kann dieses Moment von Wissenschaftswissen nicht überspringen. Deshalb muß der Unterricht die Disziplinen als je eigene achten und zeigen. Wie geht dieser Widerspruch in einen Lernprozeß ein, ohne daß es ein schlechter Widerspruch (weil unfruchtbarer, nur Durcheinander erzeugender, nur falsche Logik behauptender) ist?
Die Diskussion um die Richtlinien Sozialwissenschaften und den Rahmenplan Politische Bildung (1981/1991 bzw. 1992) hat drei Möglichkeiten für die geforderte Differenzierung und Integration ergeben, die dann die Sequentialität des Lernens bestimmen lassen:
Zum einen können wir uns die Differenzierung + Integration vorstellen als die Addition von Einzelwissenschaften, wobei die drei Teildisziplinen Soziologie, Ökonomie und Politologie durch fachspezifische Zugangsweisen auf ein Thema repräsentiert werden. Ein Beispiel: Arbeitslosigkeit als Problem hat deutlich identifizierbare soziale, wirtschaftliche und politische Problemseiten, die vornehmlich von der jeweils ,zuständigen' Disziplin thematisiert werden. Fügt man diese Ansätze zusammen, so erhält man ein besseres Bild des Problems und der drei Disziplinen.
Zum zweiten können wir uns die Differenzierung + Integration vorstellen als die Arbeit mit Leitwissenschaften, wobei die jeweils die Untersuchung leitende Disziplin an geeigneten Problemstellen über "Brücken" mit einer der anderen Disziplinen verknüpft wird. Ein Beispiel: Die Untersuchung des Marktgeschehens unter der Frage nach der Koordination von Einzelhandlungen wird als eine Prämisse und auch Realitätselement die Konkurrenz herausstellen. Da freie Konkurrenz aber aus sich selbst heraus (also dialektisch) zur Selbstabschaffung tendiert, muß zur Erhaltung der freien Marktwirtschaft ein Außenfaktor (also der Staat) für ihre Sicherung sorgen. Die politische Regelung, wie sie im Kartellgesetz als legislativem Bestandteil und dem Kartellamt als exekutivem Bestandteil verkörpert ist, bringt zentrale Elemente des politischen Systems in die Betrachtung (Gewaltenteilung, Gewaltenverschränkung).
Zum dritten können wir uns die Differenzierung + Integration vorstellen als Interdisziplinarität, wobei eine Verknüpfung der verschiedenen Disziplinen über das Thema bzw. den Gegenstand gefordert und herge[/S. 58:]stellt wird. Ein Beispiel: Erscheinungen und Probleme des Nord-Süd-Konflikts würden in verkürzter Weise reduziert, wenn sie entweder als wirtschaftliches oder als soziales oder als politisches Geschehen angegangen würden. Der Gegenstand provoziert das Zusammenwirken der Disziplinen. Dieses Zusammenwirken ist dann kein unbewußtes Zusammenrühren, sondern ein kontrolliertes Einsetzen, wenn vorher ein Bewußtsein der Disziplinen näherungsweise entstanden ist.
Schaltet man diese drei Modelle des Zusammenhangs der Disziplinen hintereinander, dann entsteht eine Vorstellung von Sequentialität, also davon, wie der Lernprozeß sich entwickeln kann und wie er demnach gefördert werden kann. (Eine Schülerin drückte das in Jahrgang 13 einmal so aus: allmählich schließe sich der Kreis).
Im Rahmenplan Politische Bildung von Brandenburg ist dieses Sequenz-Modell in der folgenden Weise notiert (vgl. S. 61; die Komplikation durch die KMK-Vorschrift, feste Anteile Geschichte in der Oberstufe zu garantieren, lasse ich hier weg).
Sequentialität des Faches: Politische Bildung als Integrationsfach
Integrationsarten | Erläuterung | |||
1. Additive Verknüpfung: | Der Ausgangspunkt dieser Integrationsart ist die Existenz selbständiger Teildisziplinen, die in den Lernfeldern und in den diesen zugeordneten Themen repräsentiert sind. | |||
Soziologie + Ökonomie + Politologie | ||||
2. Leitwissenschaftliches Arbeiten: | Unter Leitwissenschaft wird diejenige Disziplin verstanden, die für das jeweilige Thema dominant ist, aber über "Brücken", "Aspekte" oder Dimensionen mit einer anderen Disziplin oder beiden anderen verbunden ist. | |||
2. Disziplin | ||||
Leitwissenschaft → | ||||
3. Disziplin | ||||
3. Interdisziplinäre Integration: | Die Komplexität der Realität erfordert Rahmenthemen, für deren Behandlung der spezielle Beitrag der einzelnen Disziplinen abzurufen und zu verknüpfen ist. | |||
Thema | ||||
Soziologie | Ökonomie | Politologie |
Rahmenplan Politische Bildung - gymnasiale Oberstufe (Brandenburg 1992, S. 32)
[/S. 59:] Den idealtypischen Charakter auch dieses Modells möchte ich noch einmal betonen: die Sequenz kann nicht schlüssig im Sinne präziser Prüfbarkeit die Lernprozesse strukturieren. In der Realität des Unterrichts werden Elemente aus allen drei Integrationsarten immer wieder vorkommen; aber übers Ganze gesehen, kann bzw. wird der Unterricht im Fach "Sozialwissenschaften" je nach Lernpunkt der Gruppe in einem frühen Stadium eher additiv verfahren, später eher leitwissenschaftlich, schließlich zunehmend auch interdisziplinär.
Diese Sequentialität in der Oberstufe beschreibt insgesamt sicher noch einmal (im Sinne einer Spiralstruktur) den Weg vom konkreten Arbeiten zum abstrakten Auswerten - hier auf der Ebene von Wissenschaftspropädeutik. Gemeint ist damit die Fähigkeit zur Meta-Reflexion ohne Verlust des Welt- und Personbezuges.
Die Legitimität des Unterrichts bemißt sich also sowohl an einem Bild von Gesellschaft und von Zielvorstellungen als auch an einer Vorstellung von Möglichkeiten und der Entwicklung der Lernenden. Die Struktur des Faches ist die Beschreibung institutionalisierter Bemühungen um die Förderung junger Menschen in einer Gesellschaft im Prozeß der Demokratisierung.
Der Akzent der gymnasialen Oberstufe, in Theorie einzuführen und den Umgang mit Theorie verfügbarer zu machen, steht nicht im Widerspruch zur politischen Bildung, schränkt sie auch nicht ein. Reflexivität von Mechanismen finden wir in vielen Lebensbereichen; Theoriefähigkeit ist in einer Gesellschaft ohne gesicherte Integrations- und Identitätsmechanismen notwendiger Aspekt von Konflikt- und Konsensfähigkeit, die ohne Distanz im Engagement, ohne Reflexion in der Empörung, ohne Objektivierung des Subjektiven nicht auskommt.
Es ist - wie hoffentlich gezeigt - möglich, den anspruchsvollen Lernvorgang in der Sekundarstufe I und in der gymnasialen Oberstufe zu beschreiben. Daraus ergibt sich, daß diesen sinnvollen Entwicklungsprozessen die nötige Zeit gegeben werden sollte. Daß das o. a. Konzept nicht in 12 Schuljahren und nicht mit Reststunden im Fach auch nur näherungsweise realisiert werden kann, ist sicher ohne Explikation deutlich geworden."