(1) Unter wissenschaftshistorischem Blickwinkel wird deutlich, dass sowohl Unterrichtsfächer als auch Fachdisziplinen eine (zumindest) zweihundertjährige Geschichte haben. Historisch gesehen legen die Vertreter des fachübergreifenden Lernens in der aktuellen Diskussion einen zweifelhaften Begriff von Fach zu Grunde. "Fach" ist hier eine pädagogisch-didaktische Fiktion. Die Pädagogik tut so, als ob es "Fächer" gäbe, die im Unterricht gelehrt werden sollen. Mit Fiktion meine ich zunächst einmal nichts Negatives. Eine solche Unterstellung mag durchaus fruchtbar sein. Kritik verdient allerdings die Meinung, dass es sich in der 200-jährigen Schulgeschichte um das gleiche Fach "Geschichte" handelt. Grenzen von Fächern sind nicht theoretische, sondern historische Grenzen. Sie haben sich historisch herausgebildet und gelten nicht absolut. Sie sind mit einer Muschel vergleichbar, die sich im historischen Prozess mal zu den Nachbardisziplinen öffnet oder schließt.

  • Die Wandlungsprozesse, die ein solches Fach durchgemacht hat, werden in der aktuellen Diskussion unterschlagen - es wird lediglich zugestanden, dass neue Ergebnisse zum alten Fach hinzugekommen seien. Die didaktische Fiktion von "Fach" unterstellt etwas, was es so nicht mehr gibt. Die Korrespondenzwissenschaft, auf der die Fach-Fiktion aufruht, hat sich radikal verändert. Hatte es zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als das Fach Geschichte in die neu organisierte Schule kam, noch eine gewisse Berechtigung gegeben, vom "Fach Geschichte" zu sprechen, so ist es heute nicht mehr so einfach. Es gibt heute nicht mehr "das" Fach Geschichte, das es so zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegeben hat. An seine Stelle sind heute Altertumswissenschaft, Mediävistik, Wirtschaftsgeschichte, Zeitgeschichte (etc.) und Migrationsforschung, Residenzforschung (etc.) getreten. Eigentlich müsste ich, allein bezogen auf das Fach Geschichte an meinem historischem Institut, von zehn Fächern sprechen, die sich in unterschiedlichen Anteilen und wechselnden Gewichtungen im Schulfach Geschichte wieder finden. Der Anteil der Altertumswissenschaft tendiert momentan gegen 0, die Neueste Geschichte gegen 80 % etc. Die anderen, Teilgebiete genannt - eigentlich selbst Disziplinen -, teilen sich den Rest. Was kann angesichts dieser Situation "fachübergreifendes Lernen" bedeuten?
  • Angesichts dieser Tatsache ist es die Aufgabe des Geschichtsdidaktikers - in Geografie, Deutsch etc. dürfte es ähnlich sein -, innerhalb des Faches Geschichte "fachübergreifend" zu wirken. Das ist im wahren Sinne des Wortes gemeint und bedeutet nicht nur das Zusammenführen von Forschungsergebnissen der vielen Teilgebiete. Die Methoden, Quellen und Forschungstechniken, die die Ergebnisse konstituieren, sind äußerst divergent. Die Forschungsfragen und Forschungstechniken waren im 19. Jahrhundert um die philologisch-hermeneutische Methode zentriert. Diese Einheit gibt es nicht mehr. Seitdem die klassische philologisch-hermeneutische Methode zerbrochen ist, wird in den einzelnen Teilgebieten mit unterschiedlichen Verfahrensweisen und Quellengattungen gearbeitet. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte arbeitet mit seriellen Quellen und hoch aggregierten quantitativen Daten. Die Politikgeschichte mit autororientierten Quellen, die Alltagsgeschichte dagegen betreibt Spurensuche in Dokumenten, die für keine Nachwelt hergestellt wurden.
    Ich weiß nicht, wie das in anderen Fächern ist, aber die Geschichtsdidaktik hat es mit dem Problem der fachübergreifenden Sichtweise im eigenen Fach zu tun. Der Didaktiker wird hier zum modernen Sisyphus, der mit seinem Töpfchen diejenigen Wasserstrahlen auffangen muss, die aus dem Fach Historische Forschung ununterbrochen nach den unterschiedlichsten Richtungen quellen.
  • Der Eindruck, dass die Teilfachgebiete ständig neue Aufspaltungen und Zersplitterungen produzieren, die die Geschichtsdidaktik wieder integrierend zusammenfassen muss, ist nur teilweise richtig. Es handelt sich auch nicht um einen Vorgang, der sich allein innerhalb der Geschichtswissenschaft abspielt, und somit eine innerwissenschaftliche Zellteilung darstellt. Die einzelnen Zweige der Geschichtswissenschaft haben sich selbst in neuester Zeit umorientiert und eigene fachübergreifende Sichtweisen ausgebildet. Wirtschaftsgeschichte arbeitet mit ökonomischen, Sozialgeschichte mit soziologischen Theorien. Manche Teilgebiete deuten bereits durch ihren Namen an, dass sie fachübergreifend orientiert sind. Dafür stehen die historischen Disziplinen "Begriffsgeschichte" (14), "Ethnohistorie" (15) und der "Psychohistorie" (16). Auch die "Historische Anthropologie" (17) und die "Umweltgeschichte" ist hier zu nennen. Die moderne Geschichtswissenschaft arbeitet somit selbst fachübergreifend, indem sie Aspekte von Linguistik, Psychologie, Anthropologie und Ökologie integriert.
    Auf Grund dieser Tatsache ist zu fragen, ob heute die Wissenschaftsdisziplinen nicht viel stärker fachübergreifend arbeiten, als es die pädagogische Diskussion wahrhaben will. Sollte man nicht vielmehr die innerwissenschaftlichen Impulse zum fachübergreifenden Denken aufgreifen, anstatt so zu tun, als müsse man den Disziplinen ihre vermeintliche narzisstische Selbstbespiegelung austreiben?

Meine vierte These ist:

  • Die Diskussion um fachübergreifendes Lernen geht von der Fiktion eines Faches aus, das es heute so nicht mehr gibt. In der Disziplinentwicklung der letzten 90 Jahre sind effektivere Konzepte der Entdisziplinierung entwickelt worden, als die von den Vertretern des fachübergreifenden Lernen wahrhaben wollen. Ihre Diskussion nimmt die fachübergreifenden Bemühungen innerhalb der einzelnen Fächer gar nicht zur Kenntnis.

(2) Historisch gesehen lassen sich die einzelnen Fächer nicht isoliert betrachten. Sie sind stets in wandelnde "Großkonzeptionen" eingebunden gewesen und teilten deren Prämissen. Geschichte gehörte einmal zu den Geisteswissenschaften, später zu den Sozialwissenschaften und gegenwärtig ist ein Trend zu den Kulturwissenschaften unübersehbar. Seit 30 Jahren gibt es in der Wissenschaft unterschiedliche Versuche, Fächer bzw. Disziplinen in einen bestimmten Zusammenhang zu stellen und ihre Gemeinsamkeiten zu betonen. In den 70er Jahren war es das Konzept der Sozialwissenschaft, gegenwärtig ist an seine Stelle das Konzept der Kulturwissenschaft getreten.

Sozialwissenschaften sind diejenigen Disziplinen, die ihre durch die eigene Fragestellung erzeugte faktische Wirkung auf die soziale Lebenspraxis reflektiert in ihr Forschungsinteresse aufgenommen haben. Soziologie und Politologie waren in den 70er/80er Jahren führend, dieses Konzept durchzusetzen. Teile der Geschichtswissenschaft schlossen sich an, indem sie sich als "historische Sozialwissenschaft" verstanden (18). Die Hoffnung, der Forderung nach Integration und fachübergreifendes Lernen durch eine sozialwissenschaftliche Umorientierung der Fachdisziplinen nachzukommen, hat sich zwar nicht erfüllt, die sozialwissenschaftlichen Fächer sind sich aber erkennbar näher gekommen. Der Begriff "Sozialwissenschaften" legte eine Addition kompatibler und homogener Disziplinen und zwang die Fachvertreter, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Gewinner dieser Debatte ist ohne Zweifel die Geschichtswissenschaft gewesen. Sie konnte ihr faktografisches und theoriefeindliches Image ablegen.

In der Diskussion um die sozialwissenschaftliche Umorientierung ist aber auf eine gravierende Differenz zu achten: Es ist von eminenter Bedeutung, ob die Disziplin sich als Ganzes als Sozialwissenschaft begreift, oder ob damit nur eine Spezialdisziplin (Sozialgeschichte, Sozialgeografie) neben anderen Spezialdisziplinen (Mittelalterliche Geschichte, Wirtschaftsgeografie) gemeint ist. Bezieht sich das Verständnis als Sozialwissenschaft nur auf eine dieser Spezialdisziplinen, so hat das für die Integrationsproblematik tief greifende Folgen. Die Umorientierung und Definition als Sozialwissenschaft kann nämlich nicht durch Amputation, durch eine radikale Abtrennung einzelner Wissenschaftsgebiete erfolgen. Teilbereiche (Wirtschafts- und Sozialgeografie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte) können nicht als fortschrittlichste Varianten der Gesamtdisziplin angesehen werden, um dann durch Zusammenfassung dieser Teilbereiche das Integrationsproblem zu "lösen". Die Widersprüchlichkeit einer solchen Integrationsstrategie ist offenkundig. Im Bemühen, sich nicht in enge Fächerungen einsperren zu lassen, gründet eine so verfahrende Didaktik sich nicht auf eine (!) "breite" Sozialwissenschaft als Bezugswissenschaft, sondern auf enge Spezialdisziplinen. Anstatt die isolierenden Wände der Zellen zu beseitigen, sind sie nur enger gezogen worden. Diese Gefahr hat sich im Rückblick auf 20 Jahre so nicht eingestellt. Die Beziehungen zwischen den Fächern sind unzweifelhaft enger geworden und haben sich ganz sicher nicht voneinander entfernt.

Kulturwissenschaften (19) sind Disziplinen, die ihre disziplinäre Gemeinsamkeit in einem neuen Kulturparadigma suchen. Sie gehen über den Gesellschaftsbegriff der Sozialwissenschaften hinaus und beziehen auch Symbolbildungsprozesse ein. Das Konzept Kulturwissenschaft wird je nach historischer Entwicklung des Faches anders akzentuiert. So heißen die Bemühungen in der Geschichtswissenschaft "Neue Kulturgeschichte", weil es im 19. Jahrhundert eine Kulturgeschichtsschreibung gegeben hat, die nach heutigem Sprachgebrauch Alltagsgeschichte bedeutet. (20) Die Volkskunde hat sich nach der Belastung ihrer Disziplin in der NS-Zeit in "empirische Kulturwissenschaft" umbenannt.

Die Diskussion um Kulturwissenschaft sieht in einem Kulturbegriff ihren zentralen Bezugspunkt. "Kultur ist nicht das, was übrig bleibt, wenn man Politik und Wirtschaft abzieht, sondern Kultur ist das Ganze, die Gesamtheit der Hervorbringungen des Menschen auf allen Gebieten des Lebens." (21) Statt Gesellschaft tritt jetzt Kultur ins Zentrum und damit auch Erfahrungen und Symbolbildungen. Das Handeln der Menschen wird nicht allein durch ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen gelenkt, sondern ebenso von kulturell bedingten Denk- und Verhaltensmustern. Ging es bei der Sozialgeschichte noch um die Kategorie des Interesses, so geht es jetzt um die der Erfahrung.

Das lässt sich an dem Thema erläutern, an dem ich vor kurzem gearbeitet habe: Tiere in der Geschichte (22). Eine Sozialgeschichte würde sich mit der Überlebensfähigkeit des Menschen durch Tierzucht, Herrschaftsausübung durch Einsatz von Pferden und Territorialsicherung durch Hunde beschäftigen, die den privaten Hof, aber auch die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten sicherten. Diese Themen bearbeitet die neue historische Kulturwissenschaft auch, aber sie geht darüber hinaus, indem sie die Diskurse und das imaginäre Universum der Tiere betrachtet, jene Tiere, die ein Produkt menschlichen Denkens sind. Sie sucht die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wachsenden Emotionalitätstransfers von Mitmenschen auf Tiere und interessiert sich für den qualitativen Umschwung: man dürfe Menschen verletzen, um Tiere zu schützen. Bereits in den 50er Jahren hat Theodor W. Adorno geahnt: Es werde die Zeit kommen, wo man den hündischen Kutscher, der sein Pferd schlägt, vom Bock herunterschießt.

Die Konzepte von Sozialwissenschaft und Kulturwissenschaft schaffen durchaus verschiedene Allianzen. Während Sozialwissenschaft vor allem Politik, Soziologie, Ökonomie und Geschichte zu integrieren suchte, sind es bei der Kulturwissenschaft auch Sprachen und Philosophie, während Ökonomie nicht einbezogen wird. Diese wechselnden Verbindungen sind durchaus vorteilhaft, denn auf diese Weise bleiben die Grenzen offen und Dogmatismus wird verhindert.

Warum haben die Didaktiker die Diskussion um Sozialwissenschaften nicht aufgenommen, warum nehmen sie im Moment nicht den Diskurs um Kulturwissenschaft auf? In beiden Debatten boten und bieten sich genügend Ansätze, um interdisziplinäre und fachübergreifende Themenstellungen zu finden. Ich will auch gleich die Antwort geben. Für diese Nichtwahrnehmung von Angeboten und Chancen sind Fachdidaktiken und Kultusbürokratien gleichermaßen verantwortlich. Die Didaktiker nehmen solche Diskurse überhaupt nicht zur Kenntnis; sie beteiligen sich gar nicht an ihnen und haben sich seit Jahrzehnten aus diesen Debatten herausgehalten und verstehen sie jetzt zum großen Teil auch gar nicht mehr. Die Kultusbeamten setzen für Geschichte, Sozialkunde, Geografie etc. separate Richtlinienkommissionen ein, die jede ihre facheigenen Kataloge der Gegenstände vorlegt. Wenn auf diese Weise Fachrichtlinien ohne Schnittmengen produziert worden sind, verlangen die Kultusgewaltigen im Nachhinein, dass fachübergreifendes Lernen berücksichtigt werden soll.

Meine fünfte These lautet:

  • Die Fachdidaktiken können fachübergreifendes Lernen in wissenschaftlich vertretbarer Weise nur organisieren, wenn sie sich an der kulturwissenschaftlichen - gesellschaftswissenschaftlichen bzw. sozialwissenschaftlichen - Diskussion beteiligen. Hier finden sie diejenigen lebenswelterschließenden Themen, die sie für ihre "Gemeinsamen exemplarischen Gegenstände" benötigen.