a) Ein solcher Versuch, der eine Dimensionierung des Geschichtsbewusstseins vornimmt, um seine Struktur zu erkennen, muss sich dem Problem der Normativität stellen. Er muss sagen und auch "fest"-legen, was er als Geschichtsbewusstsein ansehen will. Es wäre ein problematisches Verständnis, nur eine bestimmte Ausformung von Geschichtsbewusstsein allein als Geschichtsbewusstsein anzusprechen, an dem dann alle anderen Formen gemessen werden, ob sie auch orthodox genug seien, um als Geschichtsbewusstsein approbiert zu werden. Diesen dogmatischen Umgang finden wir im politisch-publizistischen Alltag. Wenn einer beim anderen nicht die Bewusstseinselemente seines eigenen Geschichtsbewusstseins wiederfindet, so wird ihm fehlendes oder mangelndes Geschichtsbewusstsein unterstellt. Eine nichtnormative Theorie des Geschichtsbewusstseins, die sowohl für Zwecke der empirischen Forschung wie auch für eine geschichtsdidaktische Pragmatik brauchbar ist, muss auf der einen Seite sehr wohl bestimmen, welche Bewusstseinsformen sie als Geschichtsbewusstsein ansprechen will, auf der anderen Seite darf sie aber doch nicht in dem Sinne normativ verfahren, dass sie nur bestimmte Ausformungen für "richtiges" Geschichtsbewusstsein hält und alle anderen vorfindbaren Erscheinungsformen als nicht vorhandenes oder als falsches Geschichtsbewusstsein ausgibt. Eine Theorie von Geschichtsbewusstsein muss deshalb eine kategoriale Verfasstheit von Geschichtsbewusstsein ausweisen, um Geschichtsbewusstsein empirisch als Geschichtsbewusstsein zu identifizieren und um einen Vergleich zwischen verschiedenen Ausformungen von Geschichtsbewusstsein anstellen zu können.

b) Eine solche Strukturbestimmung, die sich des Problems der Normativität bewusst ist, lässt dann auch vergleichende Forschung möglich werden. Komparatistik ist deshalb notwendig, weil Geschichtsbewusstsein in Pluralität erscheint. Wir wissen, dass Geschichtsbewusstsein sozialisationsabhängig ist. Das alltäglich-vorschulische und außerschulische Geschichtsbewusstsein ist gleichfalls sozialisationsabhängig. Ob es das ausschließlich ist, versucht von Borries in diesem Heft zu erörtern. In den verschiedenen sozialen und historischen Kontexten, den nach sozialen Schichten und parteipolitisch geprägten Gruppen ausgerichteten Lebenswelten, verläuft historische Sozialisation ebenso unterschiedlich wie in verschiedenen historischen Regionen. Wir sprechen sogar von regionalem Geschichtsbewusstsein. Geschichtsbewusstsein erscheint in verschiedenen Ausprägungen. Will man diese unterschiedlichen Ausprägungen nicht im Sinne einer Defizithypothese interpretieren, nach der immer etwas "fehlt", so müsste die Andersartigkeit abgeleitet und plausibel gemacht werden.

Auch die Annahme, dass die verschiedenen Formen von Geschichtsbewusstsein nicht defizitäre Formen sind, sondern nur anders, aber prinzipiell gleichwertig, löst das Problem nicht, sondern wertet nur die verschiedenen pluralen Formen. Wenn man von Ausprägungen spricht, so impliziert das, dass es gewissermaßen eine ursprüngliche Form gibt, die sich in unterschiedliche Formen ausfaltet. Dieser Gedanke legt nahe, dass man hinter den aktuellen Erscheinungsformen die "ursprüngliche" Form wiederfindet.

Das jeweils konkrete und individuelle Geschichtsbewusstsein wäre dann immer nur eine Aktualisierung aus einem Gesamtpotential der möglichen kategorial verfassten Strukturierungen. Das "nur" soll allerdings nicht bedeuten, dass das individuelle Geschichtsbewusstsein hinter irgendeinem hehren, umfassenden, normativ aufgefassten Geschichtsbewusstsein zurückbleibt, wie die Performanz hinter der Kompetenz. Das "nur" bedeutet vielmehr, dass Geschichtsbewusstsein als ein individuelles immer in Individualität erscheint und nicht als ein allgemeines in seiner Abstraktheit. Unser Sprachgebrauch führt uns dabei in die Irre. Es existiert in der Sprache nur die Singularform von Geschichtsbewusstsein, keine Pluralform. Wenn wir im Plural von Geschichtsbewusstsein reden, dann sprechen wir immer von Formen des Geschichtsbewusstseins. Die Sprache legt uns somit das Geschichtsbewusstsein nahe; die Empirie findet es aber nur als Pluralität vor. Aus diesem scheinbaren Widerspruch kommen wir nur schwer heraus. Wir müssen das konkrete Geschichtsbewusstsein immer nur als einen Ausschnitt aus der potentiellen Kategorialität auffassen, die zugrunde gelegt werden muss, wenn die individuellen und verschiedenen Formen von Geschichtsbewusstsein trotz aller Unterschiedlichkeit als "Geschichtsbewusstsein" identifiziert werden sollen.

c) Geschichtsbewusstsein äußert sich nicht nur im Erzählen, sondern auch im Umerzählen von Geschichten. Geschichten werden immer in unterschiedlichen Graden in andere Geschichten transformiert, ohne dass dabei die Ausgangserzählung unkenntlich wird. Geschichtstheoretisch und geschichtsdidaktisch gesehen, brauchen wir Angaben, die uns erklären, warum Geschichten nicht nur unterschiedlich erzählt, sondern auch umerzählt werden. Ein solches Veränderungsbedürfnis finden wir schon auf der lebensgeschichtlichen Ebene. Ein und dieselbe Ereignisfolge wird von unterschiedlichen Menschen auch unterschiedlich erzählt. Sie bedienen sich unterschiedlicher Relevanzstrukturen und Erzählpläne, die unterschiedliche Geschichten produzieren.

Ohne es an dieser Stelle ausführlich begründen zu können, gehe ich davon aus, dass Geschichtsbewusstsein mit "Erinnern" nichts zu tun hat. Formal gesehen ist Geschichtsbewusstsein eine narrative Kompetenz. Sie besteht in der Fähigkeit, Geschichte zu erzählen und zu verstehen. Die Geschichte (bzw. die Geschichten), die wir uns erzählen und die wir als erzählte verstehen, hat einen anderen Status als die Geschichte, in die wir im Alltag verstrickt sind. Die Geschichte(n) erfahren wir nicht, sondern sie werden tradiert, erzählt: Wir erinnern uns nicht an sie, sondern sie werden uns in einer kulturellen Kommunikation überliefert.

"'Kulturelle Kommunikation' ist eine Information, die man nicht durch direkte Beobachtung (Sinnesdaten) erhalten oder aus ihr ableiten kann: sie geht notwendigerweise von einem Bewusstsein zu einem anderen über" (Devereux 1984a: 279).

Diese Tradierung von Bewusstsein zu Bewusstsein schließt nicht schon ein, dass die Geschichte, die erzählt wird, die gleiche bleibt. Obwohl die gehörte Geschichte nur als erzählte Geschichte - nicht als erlebte Geschichte - angeeignet wird (wir also nicht über unterschiedliche Erfahrungsdaten verfügen), wird sie so transformiert, dass wir annehmen, sie sei erst jetzt "richtiger" geworden. Wir haben es also mit der Tatsache zu tun, dass nicht nur erlebte Ereignisfolgen von unterschiedlichen Menschen verschieden erzählt werden, sondern auch die gleiche tradierte Geschichte wird unterschiedlich erzählt. Geschichtsbewusstsein äußert sich also nicht nur in erzählten Geschichten, sondern auch im Transformationsbedürfnis an erzählten Geschichten.