So nachdrücklich wir gerade um politischer Bildung willen für einen eigenständigen, aber mit dem Politikunterricht koordinierten Geschichtsunterricht plädiert haben; für das, was man Zeitgeschichte zu nennen pflegt, stellt sich das Problem anders. Hier scheint mir Integration nicht nur möglich, sondern geboten. In den fünfziger und sechziger Jahren hat man zwischen zeitgeschichtlichem und politischem Unterricht kaum unterschieden. Erst durch die stärkere sozial- und politikwissenschaftliche Ausrichtung des letzteren sind die Fachperspektiven auseinandergetreten und unterscheidbar geworden. Dies hat aber stellenweise auch dazu geführt, dass Politikunterricht zeitgeschichtlich leer, zeitgeschichtlicher Unterricht sozialwissenschaftlich blind geworden ist.

Was Zeitgeschichte ist, lässt sich nicht für längere Zeit in Jahreszahlen fixieren. Ihr Beginn verschiebt sich ständig, wenn auch unmerklich, und sie mündet in die offenen poli[/S.:230]tischen Probleme der Gegenwart, aus denen sie viel unmittelbarer als die Geschichtswissenschaft sonst ihre Frageimpulse und ihr Erkenntnisinteresse bezieht. Zeitgeschichte umgreift einen unmittelbar politisch wirksamen Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart (Kampmann 1968). Aber dieser Zusammenhang ist kein objektiver Bestand, der uns Zeitgenossen gegenüberstünde und mit den distanzierenden Mitteln Wissenschaftlicher Forschung allein bearbeitet werden könnte. Vielmehr ergibt sich seine Eigenart gerade daraus, dass wir in ihn hineinverwoben sind, und eben dies macht die Integration von Zeitgeschichte und Politikunterricht notwendig.

Zeitgeschichte ist die Geschichte der jeweils lebenden Menschen, für uns also die erlebte Geschichte der heute Lebenden. Für das geschichtlich-politische Bewusstsein der Lebenden wird Zeitgeschichte nicht durch Geschichtsschreibung erschlossen, mag auch die Wissenschaft mit mehr oder weniger Erfolg dies versuchen. Sie wird vielmehr von denen, die sie erlebt haben, unmittelbar mental interpretiert, erzählt oder verschwiegen, gedeutet und in politische Zusammenhänge eingebracht. Sie treibt die Menschen noch um und ist so auf viel elementarere Weise politisch wirksam als die Geschichte, die jenseits unserer Lebensspanne liegt. Wir haben es also bei Zeitgeschichte immer mit einem sehr engen Ineinander von subjektiver und objektiver Betroffenheit zu tun.

Zeitgeschichte so verstanden ist aber immer die Geschichte mindestens zweier, in der Regel dreier und mehr Generationen, die objektiv Verschiedenes erlebt haben und auch das gemeinsam Erlebte subjektiv unterschiedlich verarbeiten und deuten. In den fünfziger und sechziger Jahren war die Auseinandersetzung mit dem Scheitern der Weimarer Republik, mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg unsere notwendige zeitgeschichtliche Thematik. Spätestens seit dem Mentalitätsschub der "Studentenrevolte" gegen Ende der sechziger Jahre wurde dann die Nachkriegsentwicklung selbst zum zeitgeschichtlichen Gegenstand. Die Bundesrepublik Deutschland ist mehr als 30 Jahre alt, sie umfasst eine längere Zeitspanne als Weimarer Republik und Nationalsozialismus zusammen. Ihre Anfänge liegen für die heutige Schuljugend weiter zurück als für die Nachkriegsjugend der Erste Weltkrieg. Zeitgeschichte als die unterschiedlich erlebte Geschichte der heute Lebenden erfordert daher einen Kommunikationsprozess zwischen den Generationen, und eben dieser Prozess ist zentraler Bestandteil politischer Bildung. Es geht um die kommunikative und dialogische Vermittlung von Frageperspektiven und Erfahrungen zwischen den Generationen. Darin gibt es heute erhebliche Defizite.

So werden die Erfahrungen der älteren Generation, die in den Zusammenhang der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gehören, seit langem nur mangelhaft ins Gespräch gebracht. Dies ist einer der gefährlichsten Mängel unserer politischen Bildung, weil es bedeutet, dass das Sinnkonzept unserer politischen Ordnung der nachwachsenden Generation nicht aus seinem geschichtlich-politischen Kontext begreifbar und nachvollziehbar gemacht wird. Wenn die ältere Generation ihre Position entweder nur autoritär behauptet oder nachgiebig räumt, statt sie gesprächsbereit zu vertreten und damit Erfahrungen zu vermitteln, dann gerät das Gleichgewicht zwischen Tradition und Fortschritt in Gefahr, dann gewinnen erfahrungslos zukunftsorientierte, ideologieanfällige und utopische Vorstellungen die Oberhand, und das Bestehende erscheint rasch nur noch im negativen Licht. Das Abschneiden der geschichtlichen Perspektive in der sozialwissenschaftlichen Lehrerausbildung hat bereits dazu geführt, dass heute eine ganze Generation junger Lehrer Politikunterricht erteilt ohne genügenden zeitgeschichtlichen Hintergrund und ohne den Blick für die Notwendigkeit, unsere heutigen Probleme im Zusammenhang der letzten drei Jahrzehnte zu sehen. Damit aber trägt Politikunterricht nicht mehr zum Kommunikationsprozess zwischen den Generationen im beschriebenen Sinne bei.

Ob es sich um die Deutschlandfrage handelt, um den Ost-West-Konflikt und die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, um Friedenssicherung und Rüstungsproblematik, um Dritte Welt und Entwicklung, um die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und die in ihrem Rahmen verlaufenden politischen Prozesse, um Wirtschaftsordnung, [/S.:231] Konjunktur- und Sozialpolitikum unsere Medienlandschaft oder um Fragen der Bildungspolitik, keine dieser Fragen kann unter der Zielsetzung politischer Urteilsbildung hinlänglich begriffen werden ohne den zeitgeschichtlichen Zusammenhang der Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg. Damit soll nicht gesagt sein, der Nationalsozialismus mit seinen fundamentalen sozialstrukturellen, politischen und geistigen Erschütterungen sei aus unserem zeitgeschichtlich-politischen Fragehorizont schon herausgerückt. Er wird vielmehr noch für einige Zeit auch in den hier geforderten zeitgeschichtlichen Kommunikationsprozess hineingehören. Aber auch auf diesem Feld wurde in den vergangenen Jahren eine politisch rationale und moralisch verantwortbare Auseinandersetzung zwischen den Generationen nicht nur durch beiderseitige Fehlhaltungen, sondern auch durch das Auseinanderreißen der geschichtlich-historischen und der gegenwärtig-sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise gestört. Der Versuch politischen Urteilens ohne Kenntnis zeitgeschichtlicher Zusammenhänge führt zu bodenlosem Politisieren und zu unverantwortlichem Gerede; eine nicht auf politische Fragestellungen hin strukturierte Zeitgeschichte ertrinkt in der Fülle beliebiger Einzelheiten. Zeitgeschichte und Politikunterricht gehören zusammen. Politikunterricht ohne Zeitgeschichte bleibt leer, Zeitgeschichte ohne Politikunterricht bleibt blind.

Aus dieser unabweisbaren Einsicht die Konsequenzen für Lehrerbildung, Stundentafeln und Lehrpläne zu ziehen, ist eine dringende Notwendigkeit, wenn politische Bildung an unseren öffentlichen Schulen so etabliert werden soll, dass sie endlich ihren Namen verdient.