In Thesenform und scharf zugespitzt will ich das, was den Geschichtsunterricht und den Politikunterricht - wobei ich ihn nicht im engen Sinne einer Staatsbürgerkunde, sondern im modernen Sinne als Gesellschaftslehre fasse - verbindet und was sie trennt, formulieren. Dieser Versuch impliziert wissenschaftstheoretische und didaktische Entscheidungen, die wie ich denke, deutlich werden, ohne dass ich sie vorab entwickle. Drei Thesen beziehen sich auf den Gegenstand, die Bezugswissenschaften und die Lern- oder Bildungsziele beider Fächer. These 1: Geschichtsunterricht und Gesellschaftslehre haben es mit demselben Wirklichkeitsbestand, also mit demselben Gegenstand oder "Stoff" zu tun.

Dies mag überraschen und mit den Befunden in den Lehrplänen und Schulbüchern nicht übereinstimmen; darauf komme ich zurück. Gleichwohl gilt, dass grundsätzlich die Begriffe der Gesellschaft und der Geschichte voneinander nicht getrennt werden können. Die Geschichte ist der Prozess der Gesellschaft oder, wie man früher sagte, der "Menschheit"; der jeweilige Gesellschaftszustand mit all seinen verschiedenen Sektoren ist ein Augenblick im Prozess der Geschichte, der Vergangenheit und Zukunft in sich enthält.

These 2: Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft (Sozialwissenschaften) konstituieren sich angesichts des gemeinsamen Gegenstandes als eigene Disziplinen nicht durch ihren Stoff, sondern durch ihre Erkenntnisziele und Fragestellungen.

Die Wissenschaftsgeschichte zeigt die enge Verbindung beider Disziplinen: Der Historiker Dahlmann schrieb eine vielbeachtete "Politik" und Sozialwissenschaftler, Max Weber an herausragender Stelle trieben die historische Forschung weiter. Dennoch entstehen durch die spezifische Erkenntnisrichtung - Kant hat gesagt, es sei nicht der Gegenstand, sondern die "Idee", die eine Disziplin schaffe - spezifische Unterschiede. Man hat sie zu Beginn unseres Jahrhunderts in der Methode zu finden gesucht: die Geschichtswissenschaft gehe idiographisch, das Individuelle suchend vor, während die Sozialwissenschaften das Systematische, das Generelle und Allgemeine auf den Begriff zu bringen suchten. Jene sei hermeneutisch verstehend, diese analytisch erklärend angelegt.
Diese Unterscheidung, wenngleich immer noch durchschimmernd, ist nicht mehr spezifisch. Spezifisch hingegen ist der Unterschied zwischen dem Willen, Vergangenheit in Zustand und Prozess als solche wahrzunehmen einerseits, und dem Ziel andererseits, die gesellschaftlichen Verhältnisse, ob gegenwärtige oder vergangene, als Modelle von Vergesellschaftung in ihren theoretischen und praktischen Formen und Voraussetzungen zu begreifen, ihre Wirkungsweise auf den Begriff zu bringen und schließlich auch, in nicht nur erklärender, sondern praktischer Absicht für die Gegenwart Handlungsmaximen zu begründen - Politikberatung entweder wissenschaftlich zu fundieren oder gar selber zu sein. Geschichtswissenschaft versteht sich als Explikation des Humanen, wie es sich in der Vergangenheit zeigt, die Sozialwissenschaft ist die Explikation von Formen der Vergesellschaftung mit dem Interesse an der Erklärung der Gegenwart. In der Beschreibung der Genese der Gegenwart oder der Untersuchung von Analogien überschneiden sich beide Wissenschaften; dennoch gibt ihnen das unterschiedliche Erkenntnisziel unterschiedliche Profile. Dass dabei insbesondere die Zeitgeschichte und die Politikwissenschaft enger zusammenrücken, ist nur ein akzidentieller, kein systematischer Befund.

These 3: So wie sich die Bezugswissenschaften beider Fächer durch ihre Erkenntnisrichtungen berühren und unterscheiden, so die Fächer in der Schule durch ihre grundlegenden Lern- oder Bildungsziele.

Da im Unterricht nicht die gleiche Unendlichkeit und Freiheit der Fragestellungen und Themenwahl herrschen kann wie in der Wissenschaft, treten, erzwungen durch die Notwendigkeit scharfer didaktischer Reduktion und durch die jeweiligen Lerngruppe, einerseits die Spezifika beider Fächer schärfer hervor als in den Bezugswissenschaften; andererseits sind aber auch die Ansprüche der eng verwandten Fächer stärker, die jedes auf den Gegenstands- und auf den Bildungsbereich des anderen macht. Die bekannte Argumentationsfigur, dass die wahre und richtige politische Bildung nur durch den Geschichtsunterricht erfolgen, und die gegenteilige, dass eine relevante, zu verantwortende historische Bildung nur im Rahmen eines bestimmten Politikverständnisses erfolgen könne und von daher zu entwerfen sei, sind hinlänglich bekannt.